Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

564–566

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lenzig, Udo

Titel/Untertitel:

Das Wagnis der Freiheit. Der Freiheitsbegriff im philosophischen Werk von Hans Jonas aus theologischer Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 301 S. gr.8° = Forum Systematik, 28. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-019550-9.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die Deterministen weisen die Freiheit auf Grund des Kausalnexus zurück, während die Verfechter der Freiheit sie durch ihre eigene Selbsterfahrung bestätigt sehen. Der Philosoph Hans Jonas setzt sich mit beiden Aspekten auseinander und entscheidet sich für einen phänomenologischen Freiheitsbegriff, der sich im konkreten Vollzug zeigt. Zugleich erkennt er, dass die Freiheit an ihren eigenen Möglichkeiten scheitert. Da Jonas’ Freiheitsbegriff auch theologisch geprägt ist, legt sich der Versuch nahe, von hier aus seine Philosophie in den Blick zu nehmen. Mit seiner Wuppertaler Dissertation versucht Lenzig eine entsprechende Gesamtinterpretation.
Dazu nimmt er im ersten Teil einen ungewöhnlichen Ausgangspunkt ein. Er bezieht sich auf Jonas’ Beitrag in der Bultmann-Festschrift »Philosophische Meditation über Paulus, Römerbrief, Kap. 7«. Das Interessante ist, dass diese existentiale Analyse weitgehend mit dem Brief Jonas’ an Bultmann vom 13.7.1929 übereinstimmt. Die Veröffentlichung nach 35 Jahren belegt also die Bedeutung dieses Textes für Jonas. Dieser Sachverhalt ist, wenn ich recht sehe, weitgehend unbeachtet geblieben. Jonas interpretiert hier die dialektische Struktur menschlicher Freiheit – dass der Mensch die Freiheit verliert, wenn er sich ihrer kognitiv vergewissern will – als existentialen Ausdruck von Röm 7. Dieser paulinisch geprägte Freiheitsbegriff, dass die Freiheit ihrer selbst nicht mächtig ist, ist für Jonas’ Philosophie bis ins Spätwerk maßgebend geblieben.
Im zweiten Teil der Arbeit zeigt L. den »Verlust der paulinischen Freiheitsdialektik in der abendländischen Geistesgeschichte« (51) auf. Anhand von Jonas’ Untersuchung »Augustin und das paulinische Freiheitsproblem« (1930, 21965) stellt er die Veränderung des paulinischen Freiheitsbegriffes durch Augustin dar, die für das europäische Freiheitsverständnis bedeutsam war. In seiner antipelagianischen Auslegung des Verhältnisses von Freiheit und Sündigkeit oder von Freiheit und Gnade sieht Augustin allein den unter der Gnade stehenden Menschen in der Fähigkeit, das Gute zu wollen. Doch kommt dieses Wollen nicht aus eigenem Antrieb, sondern ist das Wirken der göttlichen Gnade. Damit verfügt nur noch der erwählte Mensch über die Freiheit seines Willens. Diese Auffassung führt Augustin auf die menschliche Ohnmachtserfahrung vor Gott zurück, für die er das Modell der Erbsündenlehre entwickelt. Die Prädestination dagegen ist der alleinige Grund für die Entstehung eines menschlichen Willens des Guten. Indem die Ursünde des ersten Menschenpaares auf alle Menschen übertragen wird, wird das Dogma dem Anspruch nicht gerecht, das Problem von Freiheit und Unfreiheit des menschlichen Willens zu lösen. Vielmehr wird aus der paulinischen Dialektik der Freiheit jetzt die Unfreiheit der Menschen, womit zugleich der Hintergrund für die Dogmen von Erbsünde und Prädestination deutlich wird. L. stellt dann die mythologische Objektivierung der menschlichen Ohnmachtserfahrung in der Gnosis dar. Diese Analyse ist von Hei­d­egger bestimmt, indem die Gnostiker von der Verfallenheit her in­terpretiert werden. Jonas kehrt diese Denkrichtung um und in­terpretiert Heidegger von der Gnosis aus. Damit zeigt er die Krise der Neuzeit am Materialismus und am Existentialismus auf, die beide auf dem Dualismus Descartes’ fußen. In der Folge beschreibt die Naturwissenschaft die Welt unter Absehung der geistigen Phänomene, womit der Freiheitsgedanke verdrängt wird. Diesen wie­derzugewinnen ist die Aufgabe von Jonas’ Werk »Organismus und Freiheit« (1973), das 1994 als »Das Prinzip Leben« neu aufgelegt wurde.
Im dritten Teil der Arbeit geht es um den Begriff der Freiheit in Jonas’ philosophischem Denken. Den Wechsel zur Naturphilosophie begründete er damit, dass er als Soldat im 2. Weltkrieg auf das Urgeschäft des Philosophen zurückgeworfen worden sei, sich nämlich die Wirklichkeit anzuschauen. Jonas versteht das Sein als kontinuierliche Evolution bis zum höchsten Organismus. Unter Aufnahme des aristotelischen Ansatzes von Form und Stoff sieht er in der Form eines Organismus dessen Befreiung von der unmittelbaren Identität mit dem Stoff. Vermittels des Stoffwechsels garantiert die Form die Identität des Organismus. Der Abstand zwischen Organismus und Umwelt ist für sein Freiheitsverständnis grundlegend: Der Organismus wird von der Identität mit dem Stoff frei und gleichzeitig im Metabolismus frei für die Begegnung mit dem Stoff. Damit steht »die organische Form … in einem Verhältnis bedürftiger Freiheit zum Stoffe«, wie Jonas in »Organismus und Freiheit« (125) sein Freiheitsverständnis zusammenfasst. Damit ist die Selbsttranszendierung des Organismus in Richtung auf die Welt beschrieben. Da schon der einfachste Organismus ein zielgerichtetes Interesse an seinem eigenen Sein hat, macht Jonas hier eine teleologische Struktur aus, die sich auf die eigene Zukünftigkeit erstreckt und den ontologischen Grundcharakter des Lebens beschreibt. Dabei nimmt der Abstand zwischen Organismen und Umwelt im Prozess der Evolution zu. Indem der transanimalische Mensch sein Selbst entdeckt, selbstgesetzte Ziele jenseits des biologisch Notwendigen entdeckt, eröffnet sich ihm der Raum der reflexiven Freiheit, die sich in der moralischen konkretisiert, »in der sich der Mensch selbst zum Gegenstand der ethischen Bewertung macht« (163). Jedoch erreicht der Mensch seine Freiheit nicht, da sie in ihrer Ambivalenz zugleich die zum Bösen ist.
An diesem Punkt rückt der »Gottesbegriff als metaphysische Grundlegung des Prinzips Freiheit« (166) in den Blick. Auf Grund der absoluten Freiheit entschied sich der göttliche Grund des Seins zur Schöpfung, zieht sich aber aus der Welt zurück und ermöglicht so die geschöpfliche Freiheit. Gott ist nicht mehr allmächtiger Weltregierer, sondern wird durch die Evolution und das Geschehen auf der Welt ebenfalls verändert. Damit klingt das Thema der Verantwortung an: »Das Prinzip der Freiheit, das die Gottheit unter Verzicht auf ihre eigene Macht der Schöpfung als Entwicklungsprinzip zugrunde gelegt hat, bedarf auf der Stufe des Menschen des Prinzips der Verantwortung, wenn das ›Ziel‹ der Schöpfung er­reicht werden soll« (218), d. h. es geht in dem vielzitierten Werk »Das Prinzip Verantwortung« um die Entfaltung eines letztlich theologischen Grundgedankens, auch wenn Jonas in diesem Buch, um der Allgemeinheit willen, auf diesen Gedanken verzichtet. Gleichwohl bleibt die theologische Dimension des Verantwortungsbegriffes bestehen, wenn Jonas etwa das Seiende als Heiliges einschätzt, er die Hütung des Ebenbildes als eigentliche Aufgabe der Ethik beschreibt, da der Mensch für das Bild Gottes geschaffen ist.
Was meint Jonas nun mit dem Begriff Freiheit? In der Schlussbetrachtung hält L. einerseits die benannte Ambivalenz der menschlichen Freiheit fest und sieht die menschliche Verantwortung darin, »die eigene Freiheit in den Dienst einer überindividuellen Aufgabe zu stellen«, wie sie mit der »Bewahrung der Schöpfung« (280) benannt wird.
Diese Untersuchung ist eine hervorragende, in sich schlüssige werkimmanente Darstellung des Denkens von Hans Jonas unter der für ihn wichtigen Perspektive der Freiheit. Wer Jonas je gelesen hat, wird die gute Lesbarkeit dieser Dissertation hochschätzen. Auch die Differenzen zwischen Jonas’ Theologie und einer christlichen sind gut bezeichnet. Als Desiderat bleibt jetzt noch eine philosophische Reflexion von Jonas’ metaphysischem Freiheitsbegriff.