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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

563 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Burckhart, Holger, u. Jürgen Sikora [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Praktische Philosophie – Philosophische Praxis.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 211 S. 8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 3-534-18428-9.

Rezensent:

Wolfgang Baum

Die Misere des deutschen Bildungs- und Schulsystems hat spätes­tens seit den PISA-Studien zu einer überfälligen gesellschaftlichen Diskussion geführt. Da oberflächliche Reformen keine Erfolge zeitigen, ist eine Grundlagenreflexion dessen von Nöten, was Bildung im Kern bedeutet. Dieser anspruchsvollen Aufgabe widmet sich der erste Sammelband des auf zwei Bände angelegten Publikations­projekts der Philosophen Holger Burckhart und Jürgen Sikora, die innerhalb der Kölner Erziehungswissenschaftlichen Fakultät un­mittelbar mit dem Vermittlungsproblem theoretischer Inhalte in praktische Lehr-Lernsituationen an Schulen konfrontiert werden. Dementsprechend facettenreich sind die jeweiligen Beiträge, die in drei Kapitel gebündelt werden: das Verhältnis von Philosophie und Bildung, Philosophie und ihre Didaktik und schließlich Fragen der Lebenspraxis.
Mit der Relevanz der Philosophie für die Bildung setzt sich eröffnend Bärbel Frischmann auseinander, die der Überzeugung ist, »dass ohne einen ausgearbeiteten Bildungsbegriff eine angemessene Re­flexion über kulturelles und personales Selbstverständnis kaum mög­lich ist« (14). Timo Hoyer diskutiert den rechten Erwerb von Tugenden anhand der als paradigmatisch zu bezeichnenden Dis­kus­sion zwischen Sokrates und Protagoras, deren Positionen nach einem Blick in die jeweiligen Quellen sich nicht mehr so diametral ge­genüberstehen, wie dies gemeinhin angenommen wird. Daran anschließend stellt sich Detlef Horster die Frage nach dem Verhältnis von Pädagogik und Ethik. Die Formulierung moralischer Geltungsansprüche erweist sich dabei als gesellschaftliche Gesamtaufgabe, deren Dringlichkeit sich zunächst im Dilemma der deutschen Schulen zeigt, allerdings weit darüber hinaus in die Lebensfelder der persönlichen Kontingenzerfahrung hineinragt. Dass bei der Lösung dieser Aufgabe herkömmliche Konzepte oft veraltet sind, beweist der Beitrag von Kersten Reich anhand des als »pädagogisch-philosophischen Klassikers« (51) geltenden John Dewey. Das ambivalente Verhältnis von Er­lebniswelten und Sinnstiftung diskutiert Jürgen Sikora angesichts der Dauerpräsenz passiv rezipierter Konsummedien. Sinnstiftung ist eine Leistung, die dagegen aktiv im intersubjektiven Diskurs gewonnen werden muss.
Unter der Überschrift »Philosophie und ihre Didaktik« eröffnet Holger Burckhart den zweiten Teil. Seine in Anlehnung an Kant formulierte These, »dass Philosophie ohne Praxis leer, Praxis ohne Philosophie blind ist« (81), wird philosophiehistorisch anhand der erkenntnistheoretischen Konzeptionen Platons und Kants erörtert. Im Gegensatz etwa zur Mathematik schließt die Philosophie den Vorgang der Reflexion ein. Daher »[fallen] Praxis der Philosophie und Philosophie der Praxis in eins …« (89). Eine Didaktik der Philosophie befindet sich deshalb im ständigen Mutationsprozess, der die Lebenswelt des Individuums ebenso wie den Fachgegenstand selbst umfasst. Den Gedanken didaktischer »Transformation« greift im Anschluss Johannes Rohbeck auf, grenzt ihn zu­nächst gegen einseitige Didaktikformen überzeugend ab, um ihn schließlich methodologisch weiter zu verdichten. Welche Konsequenzen sich für den Philosophieunterricht an Schulen ergeben, demonstriert Volker Steenblock. Das Fach »Praktische Philosophie« bietet einen möglichen Ansatz, im Unterricht die lebensweltliche Relevanz philosophischer Bildung zu erschließen, um sie somit als »Inbegriff der kulturerzeugenden und kulturfortschreibenden Leis­tungen der Menschen« (128) zu begreifen.
Der abschließende dritte Teil vertieft diesen lebensweltlichen Bezug. Volker Gerhardt arbeitet zunächst die zentralen Referenzpunkte philosophischer Reflexion heraus. Entgegen der Neigung abendländischer Substanzmetaphysik, das Allgemeine dem Individuellen überzuordnen, zeigt Gerhardt, dass gerade selbstbewusste Subjektivität und Lebensführung die Ursprungsfrage der Philosophie schlechthin und nicht bloß ein schulphilosophisches Traktat darstellt. Wilhelm Schmid eröffnet auf dem Hintergrund seiner eigenen Tätigkeit als »säkularer Seelsorger« (164) in einem Krankenhaus die Möglichkeit, Philosophie als Krisenbewältigung zu verstehen, während anschließend Lutz von Werder für eine stärkere mediale Präsenz von Philosophie, z. B. im Radio, wirbt. Die Frage nach dem »Philosophischen der ›Philosophischen Praxis‹« (194) verfolgt abschließend Thomas Gutknecht, indem er den freiheitstheoretischen und -praktischen Kontext von Philosophie erhellt.
Das Buch diskutiert aktuelle und wichtige Themen: Erstens wird auf die Bedeutung der praktischen Vermittlung philosophischer Theoriebildung verwiesen, zweitens werden didaktische und pädagogische Entwürfe auf ihre Geltungsansprüche hin überprüft und drittens wird an den lebensweltlichen Bezug von Philosophie erinnert. Der angekündigte Folgeband darf daher mit Spannung erwartet werden.