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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

561 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Neuhaus, Andrea

Titel/Untertitel:

Das geistliche Lied in der Jugendbewegung. Zur literarischen Sakralität um 1900.

Verlag:

Tübingen: Francke 2005. 234 S. gr.8° = Mainzer Hymnologische Studien, 16. Kart. EUR 59,00. ISBN 3-7720-8074-X.

Rezensent:

Gustav A. Krieg

Mit dieser ihrer Dissertation ruft Andrea Neuhaus eine schon länger zurückliegende Jugendkultur in Erinnerung: den Wan­dervogel. Sie beginnt mit einer allgemeinen Beschreibung des Lebens­gefühls des »Wandervogels« mit seinen »katholisierend-ro­man­tischen« Aspekten, seiner Abneigung gegenüber dem wilhel­mi­­nischen Kulturprotestantismus (9 ff.), seiner Orientierung an einem »naturverbundenen« Leben und archaischen Frömmigkeitsformen (11 ff.). N. präzisiert die Weltsicht des »Wandervogels« durch die Aufhellung seines kulturkritischen Hintergrundes, re­präsentiert durch Lagarde, Langbehn und Nietzsche (20 ff.), und durch die Beschreibung der »vagierenden Religiosität« der Jugendbewegung, zumal mit ihrer Wiederentdeckung von Mythos, Symbol, Ritual (35 ff.). Von diesem geistesgeschichtlichen Ausgangspunkt nähert sich N. sodann (68 ff.) der literaturwissenschaftlichen Fragestellung, von der aus die geistlichen Lieder der Epoche näher betrachtet werden. Thematisiert wird der Volksliedbegriff der Zeit; vorgestellt werden sodann die Liederbücher der Zeit, zumal der Zupfgeigenhansl Hans Breuers (80 ff.). Es folgen die Sichtung des geistlichen Liedbestandes, die inhaltliche Darstellung wichtiger Lieder und charakteristischer Topoi (136 ff.), sodann ausführliche Einzelinterpretationen (u. a. von ›Meerstern, ich dich grüße‹, 149 ff. oder ›Es ist ein Schnitter‹, 166 ff.). Ein umfangreicher Ausblick auf die Weimarer Republik und eine knappe Beschreibung von Forschungsdesideraten vor allem im Blick auf das Verhältnis von Jugendbewegung und III. Reich schließen die Darstellung (178 ff.).
Das Buch ist für unterschiedlichste Leserkreise lesenswert. Seine Stärke liegt zwar in den literaturwissenschaftlichen Abschnitten (d. h. ab 68 ff.). Lesenswert ist aber die Arbeit auch für diejenigen mit Interesse an Frömmigkeits- und Kirchenliedgeschichte. Be­sonders aufschlussreich ist N.s Vergegenwärtigung des Lebens­gefühls, aus dem geistliche Lieder im »Wandervogel« gesungen wurden, d. h. einer Haltung, die – kritisch der Gegenwartskultur gegenüber – eskapistisch ist, aber zugleich in ihrer Heraufbeschwörung archaischer Vergangenheiten und »alter« Riten – die aber eben nicht volkskirchlich-christlich sein müssen – jene regressive »germanische« Religiosität weiter popularisiert, die sich bei Lagarde oder Langbehn – z. B. in seiner Interpretation Marias – an­kündigte (132 ff.149 ff. u. ö.). Aufschlussreich ist auch der Ausblick auf die Weimarer Republik. Eindrücklich beschreibt N., wie sich nach 1918 Jugendbewegung und Volkskirchen begegnen, ein­drück­licher noch, wie das geistliche Lied militarisiert wird und die empfindsame Frömmigkeit um 1900 nach 1918 einem Männlichkeitskult weicht (180 ff.).
Im Detail bleibt N. gelegentlich unscharf. So gewinnt ihr Bild von der »Mystik« der Jugendbewegung nicht immer Konturen (wo­bei allerdings diese Mystik in der Tat widersprüchlich ist). Mehr zu bedauern ist, dass N. ihren Ausblick nur bis zur bündischen Jugend spannt, während die Beziehung zwischen Jugendbewegung und III. Reich nur kurz gestreift wird, obwohl doch inzwischen (wenn auch vielleicht nicht im Blick auf die Liederbücher der HJ) einige Literatur vorliegt. Deutlicher herausarbeiten können hätte sie durch ihre Einbeziehung der Zeit nach 1933 – wohlgemerkt: nicht im Sinne einer Darstellung, sondern eines Verstehens-Impulses für die Zeit um 1900 –, wie problematisch bereits manche Positionen der älteren Jugendbewegung waren (von ihrer »Militarisierung« nach 1918 zu schweigen): Auf fatale Weise waren gerade die Ju­gendbünde durch ihre »arteigene« Religiosität Schrittmacher für die La­garde-Rezeption nach 1933; auch ihren Sinn für den Mythos und archaische Riten (Sonnenwendfeiern u. a.) gaben sie an das III. Reich weiter; der Männlichkeitskult, den man im geistlichen Lied zu entdecken glaubte, faszinierte nach 1933 auch viele kirchentreue Christen; und die Marien-Verehrung in Liedern wie »Meerstern, ich dich grüße« stabilisiert bis heute nicht nur die katho­lische Volksfrömmigkeit (das Lied ist im festen Repertoire katho­ lischer Christen), sondern wurde zwischen 1933 und 1945 im Wei­terdenken Langbehns mit einer Herbeibeschwörung germanischer Göttinnen identifiziert (Walther Hensel).
Aber so ist das mit Büchern, zumal mit Dissertationen: Sie müssen irgendwann einmal abgeschlossen sein, und dann bleibt es der Leserschaft und den Rezensenten überlassen, sie weiterzudenken.