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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

554–556

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Peter, Ulrich

Titel/Untertitel:

Aurel von Jüchen (1902–1991). Möhrenbach – Schwerin – Workuta – Berlin. Ein Pfarrerleben im Jahrhundert der Diktaturen.

Verlag:

Schwerin: Stock & Stein 2006. 472 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 39,50. ISBN 978-3-937447-28-5.

Rezensent:

Irmfried Garbe

Aurel von Jüchen zählt zu einer Generation, die der Politisierung nicht entgehen konnte. Gut die Hälfte seiner Lebenszeit war von Diktaturen geprägt. Die Essenz seiner Diktaturerfahrung lautet: »… alle politischen Unrechtstaten leben von der Feigheit der Verantwortlichen und von der Verschwiegenheit der Betroffenen« (354). Von Jüchens Lebensweg führte von seinem Geburtsort Gelsenkirchen über Studienzeiten in Münster, Tübingen und Jena nach Thüringen (1929–1932), schließlich nach einer Karenzzeit infolge Amtsenthebung (1932) nach Mecklenburg (1935–1950), von dort in die sowjetrussische Haft (1950–1955) und schließlich nach West-Berlin (1955–1991). Als der 89-Jährige in Berlin-Zehlendorf starb, hatte er fünf politische Systeme überlebt, das sechste, die Bundesrepublik im Übergang der Nachwendezeit, mit wachsender Skepsis betrachtet. In vier Epochen war er als religiöser Sozialist, Sozialdemokrat, Pfarrer, SED-Aktivist, FDJ-Organisator und Publizist politisch und kirchenpolitisch engagiert gewesen. Die Verhaftung 1950 fügte ihm die Erfahrung einer weiteren Diktatur zu: das Lagerleben in Stalins Sowjetunion. Seine Verurteilung zu 15 Jahren Lagerhaft bedeutete die größte Störung im bewegten Leben Aurel von Jüchens. Nach seiner diplomatisch erwirkten Rückkehr aus dem berüchtigten Workuta wurde es still um ihn. Seit seiner Ge­fängnispfarrertätigkeit in West-Berlin (bis 1972), dem Wahlexil der späten Jahre, spielte er jedenfalls keine politisch auffällige Rolle mehr; doch hielt Aurel von Jüchen dem Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD) bis zum Tod die Treue. Wie wenige andere bietet diese Biographie so die Möglichkeit zu einer Langzeitstudie, die geeignet scheint, Metamorphosen und Kontinuitäten eines der Protagonisten des Bundes der religiösen Sozialisten in den Blick zu nehmen.
P. sieht in von Jüchen einen mutigen »Zeugen seines Jahrhunderts« (7). Er möchte den keineswegs geradlinigen Werdegang dieses »Pfarrerlebens im Jahrhundert der Diktaturen« in seinen Voraussetzungen und zeithistorischen Umständen erfassen. Dabei liegt das Schwergewicht darauf, den engagierten Mann seit seinem Werkstudentenjahr 1923 wesentlich als religiösen Sozialisten zu begreifen. Für diese Wahrnehmung sprechen Selbstaussagen, die der Befragte im Laufe seines langen Erinnerungsprozesses zahlreich hinterlassen hat.
Nach einer recht kurzen Einführung in die Forschungs- und Quellenlage, in der auch methodologische Überlegungen angeschnitten werden, entfaltet sich die Biographie in acht chronologischen Kapiteln. Kindheit und Jugend kommen recht knapp weg (Ka­pitel II). Die Auskünfte zu Studienzeiten und Studienorten (Ka­pitel III) fallen schon etwas ausführlicher aus. P. konzentriert sich auf von Jüchens Entdeckung und Hinwendung zum Sozialismus. Die Auskünfte zu einigen seiner theologischen Lehrer – Schlatter, Weinel, Gogarten – bleiben leider blass und oberflächlich. Der gerade für Jena wichtige Bereich der theologischen Fachschaftsbewegung, der etwa für von Jüchens Freund Karl Kleinschmidt biographisch ersten Rang besitzt, kommt nicht in den Blick, stattdessen immerhin Streiflichter zum Sozialistischen Studentenbund. Der aphoristische Ausflug in die Geschichte des NSDStB ist anachronistisch und deplatziert. Das erste ausführlichere Kapitel widmet sich von Jüchens pfarramtlicher Tätigkeit in Möhrenbach und Jesuborn bei Arnstadt (1929–1932) und seinen sofort einsetzenden Partei- und Wahlkampftätigkeiten, die zu permanenten Verwick­lungen führten (Kapitel IV). Von Jüchen spaltete durch seine SPD- und BRSD-Agitation beide Gemeinden, erfuhr aber in Möhrenbach auch Solidarität. Das Dauerproblem seiner Parteinahmen kulminierte in mehrere Disziplinarverfahren, die P. als Politikum wertet. Während dieser Zerfallsjahre der Republik war von Jüchen ein gefragter SPD-Redner. Leider bleibt sein intellektuelles Profil für diese Jahre unterbestimmt. P. übernimmt die nachträgliche Selbstwahrnehmung von Jüchens als angegriffenes Opfer und stellt be­sonders seine Stellungnahmen gegen die Thüringer Nationalsozialisten und den Streit um die »Frickschen Schulgebete« (1930) in den Vordergrund. Die aus von Jüchens verwickelter Scheidung mitresultierende Amtsenthebung (1932) stürzte das Vorstandsmitglied des BRSD in berufliche Perspektivlosigkeit. Als BRSD-Vertreter nahm er aber noch 1933 am Thüringer Landeskirchentag teil, zeitgleich scheiterten seine zahlreichen Bewerbungen auf Pfarrstellen im In- und Ausland (Kapitel V). Erst Anfang 1935 gelang die Bewerbung nach Mecklenburg. Dort lag in den nächsten anderthalb Jahrzehnten sein Lebensmittelpunkt (Ka­pitel VI). Zur neuen Anstellung half der BRSD-Aktivist Karl Kleinschmidt durch seinen Einfluss auf den meck­lenburgischen Landsbischof und den stell­ver­tre­tenden Reichsleiter der Thüringer DC/Nationalkirchliche Einung Walther Schultz, der selbst als Theologiestudent Mitglied der Bruderschaft sozialis­tischer Theologen war.
Schultz gab erstaunlich vielen BRSD-Aktivisten in diesen Jahren in Mecklenburg eine berufliche Chance. Für ihn war das offenbar, wie P. wahrscheinlich machen kann, eine Frage der antibürgerlichen und damit implizit anti-bekenntniskirchlichen Frontverstärkung. Dass von Jüchen als Pfarrer von Gehren (1935–1937) Mitglied im Bund der nationalso­zialistischen Pastoren Mecklenburgs war, wurde später von ihm hartnäckig geleugnet. Subjektiv ist das verständlich: Seit 1937 nä­herte er sich der Beken nenden Kirche Meck­lenburgs, im Juni 1938 erklärte er seinen Austritt aus dem NS-Pastorenbund. P. untersucht zwar die Frage der subjektiven Momente dieser Mitgliedschaftsleugnung, be­leuchtet aber zu wenig das Problem der möglichen inhaltlichen Nähe ehemaliger BSRD-Aktivisten zu den volksmissionarischen Anliegen der Deutschen Christen und ihrem Verständnis eines nationalen Sozialismus. Hier bleiben wichtige Fragen leider ungestellt. Im Mai 1937 wechselte von Jüchen in die Pfarrstelle Rossow. Sein Engagement zu Gunsten eines jüdischen Hausbesitzers während des Reichspogroms 1938 führte zu einem sich hinschleppenden Disziplinarverfahren wegen Judaismus. 1940 entging er weiteren Nachstellungen durch Gestellung zur Wehrmacht. Er diente als Flaksoldat im Westen und desertierte im April 1945.
Den biographisch spannenden Jahren der Nachkriegszeit widmet P. das umfänglichste und gewichtigste Kapitel (Kapitel VII). In ihm ist nicht nur von Jüchens Weg von der Mitgründung des Kulturbundes und der SPD bis zur hingenommenen SED-Mitgliedschaft und seinen Aktivitäten in SED, FDJ und kirchlicher Jugendarbeit entfaltet, sondern auch ein paar vorzügliche Skizzen zur Frühgeschichte der FDJ und der kirchlichen Jugendarbeit Meck­lenburgs. 1946 wurde von Jüchen an die Schweriner Schelf-Kirche berufen. Als aktives SED- und Kulturbund-Mitglied war er bis 1949 in zahlreichen Gremien involviert, u. a. als Kulturbundvorsitzender. Sein Aufbauversuch einer »Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Theologen« kam über Anfänge kaum hinaus. Als sehr erfolgreicher Organisator von kirchlichen FDJ-Jugendforen wurde er aber von den SED-Strategen bald als ideologischer Feind eingestuft. Seine emsige Vortrags- und Publikationstätigkeit verfiel 1948/49 der po­litischen Obstruktion. 1949 erfolgte der Ausschluss aus allen Kulturbundfunktionen, 1949 sein Parteiausschluss. Die Verhaftung durch den NKWD am 23.3.1950 (mit Frau) und seine Verurteilung zu 15 Jahren Arbeitslager beendeten das politisch aktive Leben von Jüchens. Der Lagerhaft entkam er durch diplomatische Hilfe Westdeutschlands (Kapitel VIII). Die letzten 35 Jahre, geprägt vom Pfarrdienst als Gefängnisseelsorger, von gemeindepädagogischer Publizistik und schließlich vom Ruhestand, überfliegt P. auf kaum 40 Seiten (Kapitel IX). Die Proportionen dieser Biographie folgen also dem Kriterium der biographischen Kernzeit (1930–1950). Ihr sind 300 Seiten gewidmet. Eine Schwäche dieser Kernzeitkapitel be­steht freilich darin, dass die landeskirchengeschichtlichen Hintergrundkenntnisse mitunter zu wünschen übriglassen, so wurde beispielsweise die mecklenburgische Kirchenvereinigung nicht erst 1934 (153), sondern am 13.10.1933 vollzogen, während die BK-Mecklenburgs ihre Arbeit nicht schon im Herbst 1933 (179) aufnehmen konnte, weil sie sich überhaupt erst Anfang 1935 konstituierte. Die Pfarrervereidigung von 1938 wurde in ganz Deutschland völlig re­gulär von den Konsistorien und nicht von staatlichen Stellen abgenommen (194).
P. – bereits mit zwei einschlägigen Studien zur Geschichte der religiösen Sozialisten hervorgetreten – verfolgte die Idee zu dieser Biographie seit 1986. Als zeitweiligem Vorsitzenden des BRSD sowie als langjährigem Freund von Jüchens standen ihm auch zahlreiche Dokumente in Privatarchiven offen, die teilweise erstmals er­schlos­sen werden. Dazu zählt insbesondere der Nachlass Karl Kleinschmidts, der jetzt dank P. in der Stadtbibliothek Berlin (Slg. Bredendiek) archiviert ist. 2003 konnte der Abschluss der Biographie in einer kurzgefassten Vorstudie, die in Herbergen der Christenheit (HCh 26, 2002, 113–128) erschien, bereits angekündigt werden. Der BRSD beförderte die Drucklegung des Buches. Mit von Jüchens Biographie hat P. seine Forschungen zur Geschichte des BRSD komplettiert. Das Buch präsentiert sich typographisch schön. Sehr zu bedauern ist jedoch, dass ihm kein Personenregister beigefügt ist. Dadurch wird der wissenschaftliche Wert unnötig gemindert. Zu kritisieren ist außerdem, dass P. für seine beigefügte Aurel von Jüchen-Bibliographie (440–447) ein eigenartiges Auswahlkriterium kreierte: Demnach er­schienen ihm nur solche Aufsätze aufnahmewürdig, deren Pub­likationsorgane »ausreichend« im deutschen Bib­liotheksverkehr nachgewiesen werden konnten. Mit dieser nicht nachvollziehbaren Vorauswahl werde wissenschaftlicher Standard verlassen und die Frage provoziert, welche publizistischen Spuren unterschlagen wurden. Es fällt auf, dass sich ausgerechnet zu der Phase, in der von Jüchen seine Wendung zum meck­lenburgischen NS-Pastorenbund vollzogen hatte, keine Einträge in der ansonsten reichhaltigen Bibliographie finden. Ist das ein Teil des »Kompromisses«, unter den P. seine Arbeit gestellt wissen will (9)?
P. hat eine lesenswerte, sprachlich gediegene und empathische Biographie geschrieben. Ausgesprochen lobenswert sind optisch hervorgehobene Quellenzeugnisse und ausführliche Zitate, die dem Leser die Chance lassen, biographische Entscheidungen nachzuvollziehen. Die Stärke dieser Biographie ist aber zugleich ihr Problem: Es ist eine durch und durch parteiliche Studie. Insbesondere werden bestimmte Denkoperationen, die ehemaligen BSRD-Aktivisten der Zwischenkriegsgeneration offensichtlich möglich wa­ren, nicht kritisch genug befragt. So erschließt diese Biographie zwar einen Teil des engagierten Theologen und Kirchenmannes, ist aber für die Betrachtung der geistigen Entwicklung von Jüchens stark in der erinnerungspolitischen Perspektive des BRSD-Veterans gefangen geblieben.