Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

549–551

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Besier, Gerhard, u. Hermann Lübbe [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 415 S. gr.8° = Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, 28. Geb. EUR 32,90. ISBN 3-525-36904-2.

Rezensent:

Astrid Reuter

Die Dokumentation einer Tagung am Dresdner Hannah-Arendt-Institut im Herbst 2004 reiht sich ein in die neuere Flut von Publikationen zum Thema Religion und Politik. Aus dieser herauszuragen, ist nicht leicht, und dem vorliegenden Band gelingt das, dies sei vorweggenommen, leider nicht.
In ihrem knappen Vorwort stellen die beiden prominenten He­rausgeber u. a. fest, die religiöse Kultur pluralisiere sich »moderni­sierungsabhängig« (9); diese Aussage erscheint insofern differenzierungsbedürftig, als religiöse Pluralisierung, wie die antike Religionsgeschichte zeigt, keineswegs an Modernisierungsprozesse gekoppelt ist – mit Blick auf die Geschichte des modernen Nationalstaats und seiner religionskulturellen Homogenisierungs- und Zentralisierungseffekte könnte man vielmehr ebenso gut das Gegenteil behaupten. Ambivalent in dieser Hinsicht erscheint nicht zuletzt auch die im Vorwort hervorgehobene Rolle des säkularen (Religions-)Rechts, das, wie jüngere Untersuchungen zeigen, keineswegs zwingend religionskulturelle Pluralisierung begünstigt, sondern ebenfalls signifikante Homogenisierungsprozesse in Gang gebracht hat.
Die 20 heterogenen Einzelbeiträge aus Soziologie, Politologie, Philosophie und Theologie, Literatur-, Religions- und Rechtswissenschaft sowie Politikberatung und Rechtspraxis werden von den Herausgebern (im Einzelfall nicht immer überzeugend) um drei Achsen – eine zeithistorische, eine zeitgenössische und eine systematische – gruppiert. In zeithistorischer Perspektive soll die Funktion von Religion in den autoritären und totalitären Diktaturen Europas sowie – kontrastiv – in den USA erschlossen werden. Aus zeitgenössischer Perspektive wird sodann fallstudienartig der Blick (erneut und gleich zweifach) auf die USA sowie verschiedene europäische Gesellschaften einschließlich der Türkei geworfen. Systematisch soll schließlich die Vieldeutigkeit von Freiheit, Pluralismus und Fundamentalismus ausgelotet werden.
Den Auftakt des ersten Teils bildet der Versuch Klaus-Georg Riegels (Trier), die Entwicklung des Marxismus-Leninismus zum Stalinismus mit inflationären terminologischen Anleihen bei Max Weber als einen »Strukturwandel von der leninistischen Virtuosenreligion zur stalinistischen Anstaltskirche« (39) und entsprechend als innerweltliche Erlösungsreligion funktionsanalog zum Christentum zu beschreiben. Im Hinblick auf den Nationalsozialismus geht Claus-Ekkehard Bärsch (Duisburg) von der Annahme aus, dem Nationalsozialismus könne der Charakter einer ›politischen Religion‹ nur dann zugeschrieben werden, »wenn man den nationalsozialistischen Rassismus mit guten Gründen als religiösen Rassismus bezeichnen kann« (65). Entsprechend konzentriert er sich auf die Frage des Verhältnisses einiger Protagonisten des Nationalsozialismus zum Christentum (Goebbels, Rosenberg, Hitler sowie den dichtenden Hitler-Freund Dietrich Eckart). Nicht ohne antikatholisches Ressentiment sucht im Anschluss Gerhard Besier (Dresden) die ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen katholischer Soziallehre und (faschistischem) Totalitarismus aus den ideologischen Kontroversen der 1920er und 1930er Jahre historisch zu belegen und an einer langen Reihe knappster Länderstudien im Schnelldurchgang zu exemplifizieren. Pius XI. wird von Besier, obwohl er selbst auf die Unzuverlässigkeit dieser Überlieferung hinweist, als Protagonist eines »katholischen Totalitarismus« gezeichnet (82 f.), dessen wichtigste In­strumente neben dem kanonischen Recht die Konkordate sowie die päpstlich sanktionierte Laienbewegung ›Katholische Aktion‹ gewesen seien. Der Beitrag von Gilbert Merlio (Paris) hebt sich von dieser angesichts der Quellenlage kaum überzeugenden Einseitigkeit positiv ab. Historisch-kritisch differenzierend widerlegt er die verbreitete Annahme, die laïcité habe Frankreich im Kampf gegen den Katholizismus, der sämtliche anti-faschistischen Schutzwälle aus gleichsam ›natürlichem‹ Antrieb zu untergraben versucht habe, breitenwirksam gegen den Faschismus immunisiert.
Michael Zöllers (Bayreuth) knapper Beitrag zur religiösen Wettbewerbskultur der USA (in Absetzung von der europäischen Monopolkultur) bildet eine Brü­cke zum zweiten – zeitgenössischen – Teil, der mit Manfred Brockers (Eichstätt) Versuch einsetzt, europäische Missverständnisse über die vermeintlich protestantisch-fundamentalistische Prägung der (Außen-)Politik George W. Bushs zu beheben. Auch der anschließende Beitrag von Derek Davis (Waco, Texas) ist dem Anliegen verpflichtet, das Zusammenspiel von strikter Trennung von Religion und Staat einerseits und der eminenten öffentlichen Rolle von Religion in den USA andererseits zu erhellen. Mit Jerzy Tutaj (Wal­brzych, Polen) wird der Blick sodann nach Polen gerichtet: Hier war die staatssozialistische Ära durch eine Zunahme ›formeller‹, kirchlich gebundener Religiosität gekennzeichnet; seit 1989 lässt sich nach Auskunft Tutajs demgegenüber ein Zuwachs individueller Religiosität mit breitem Variabilitätsspektrum feststellen. In einem durch Klarheit und straffe Argumentationsführung insgesamt hervorstechenden Artikel skizziert Michael Heinig (Hei- ­delberg) an­schließend das spannungsvolle Aufgabenfeld des deutschen Religionsrechts zwischen Vielfalt ermöglichender Religionsfreiheit und Ge­fahren­abwehr. Markus Vinzent (Birmingham), dessen Beitrag aus zwei sonderbar unverbundenen Teilen besteht – auf eine eher systematische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ Friedenspreisrede folgt eine grobe Skizze der Ergebnisse einer länderübergreifenden Vergleichsstudie über ›Europäische Identität und kulturellen Pluralismus‹ –, ruft in seinem Beitrag sämtliche Religionen zur Aufgabe universalistischer Ansprüche auf. Gewohnt polemisch und fortwährend auf eigene Arbeiten verweisend zeichnet danach Bassam Tibi (Göttingen) die türkische Regierungspartei AKP als einen islamistischen Wolf im rechtsstaatlich-demokratischen Schafspelz. Lesenswert und trotz aller Kürze differenziert ist hingegen die den zweiten Buchteil abschließende Darstellung religiöser Rechtfertigungen radikal-islamistischen Terrors von Tilman Sei­densticker (Jena).
Der dritte Teil schließlich erhebt den Anspruch, eine systematische Perspektive auf das Thema ›Politische Religion und Religionspolitik‹ zu eröffnen. Der Mitherausgeber Hermann Lübbe (Zürich) beschäftigt sich mit dem s. E. begrenzten intellektuellen Immunisierungspotential aufgeklärter Vernunft gegen totalitäre Versuchungen und weist umgekehrt auf die Möglichkeit des Umschlagens von religiösem Fundamentalismus in eine »Kraft der Findung und Selbstbehauptung aufgeklärter, nämlich politisch freier Lebensverhältnisse« (279) hin. Herbert Schnädelbach (Berlin) unterzieht im Anschluss die Debatte um die bekannte These Jan Assmanns über den Monotheismus als Quelle struktureller Intoleranz und Gewaltbereitschaft einer lehrreichen kritisch-rekonstruktiven Revision, bevor Joachim Süss (Jena) politisch korrekt, doch wenig instruktiv für einen gesellschaftlichen Lernprozess im Umgang mit religiöser Pluralität wirbt. Hermann Weber (Frankfurt/M.), der sich mit den Rechtsgrundlagen und politischen Konsequenzen des so genannten deutschen ›Kooperationsmodells‹ von Staat und Kirchen beschäftigt, und der ehemalige Verfassungsrichter Jürgen Kühling, der den christlichen Kirchen die Absicht unterstellt, die religionsrechtlichen Instrumente dieses ›Kooperationsmodells‹ zu missbrauchen, um »ihre Wahrheit für alle verbindlich zu machen, ihre Moral mit Hilfe des Staates auch denen aufzuerlegen, die sich ihr nicht durch Glauben verpflichtet fühlen« (380), steuern juristische Beiträge zum dritten Teil bei, in dem man außerdem Überlegungen von Jean-Paul Willaime (Paris) zur jüngeren Entwicklung der französischen laïcité sowie eine eher historische als systematische Rekonstruktion der sich wandelnden Gestalt des religiösen Pluralismus in Amerika von Charles H. Lippy (Chattanooga, Tennessee) findet.

Das Schlusswort überlassen die beiden Herausgeber Jan Philipp Reemtsma (Hamburg), der vehement die Behauptung zurück­weist, das Sinndefizit säkularer Gesellschaften bedürfe religiöser Kompensation. Dieser Mangel, so Reemtsma, begründe vielmehr ihre spezifische »Würde« (396). Das Recht auf Religionsfreiheit und deren auch öffentlichen Gebrauch leitet er entsprechend nicht aus den potentiell sozial integrativen Leistungen der Religion ab, sondern aus dem Respekt vor dem Privatleben.
Obwohl in dem Band zahlreiche drängende Fragen nach der gesellschaftlichen Rolle von Religion in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angesprochen werden, überwiegt doch nach Ab­schluss der Lektüre der Eindruck, wenig Neues erfahren zu haben. Auch vermisst man eine ausführlichere einleitende oder resümierende Betrachtung der Herausgeber. Unangenehm bleiben vor allem die vielen impliziten und oft wenig differenzierenden Wert­urteile in Erinnerung, die in viele Einzelbeiträge eingestreut sind. So liest sich der Band über weite Strecken weniger als Beitrag über als vielmehr zur aktuellen Religionspolitik in Europa.