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Ausgabe: | Mai/2007 |
Spalte: | 532–535 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Schrage, Wolfgang |
Titel/Untertitel: | Vorsehung Gottes? Zur Rede von der providentia Dei in der Antike und im Neuen Testament. |
Verlag: | Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2005. 280 S. 8°. Kart. EUR 24,90. ISBN 3-7887-2088-3. |
Rezensent: | Günter Röhser |
»Vorsehung« (providentia Dei) ist ein dogmatischer Topos, der neutestamentlich-theologisch eher am Rande zu stehen scheint und für den es in den Sprachen der Bibel nicht einmal einen jeweiligen Hauptbegriff gibt (πρόνοια kommt vor allem in SapSal vor). Wolfgang Schrage geht in seiner Untersuchung jedoch zu Recht davon aus, dass eine religiöse Vorstellung und ein theologischer Sachgehalt auch aus unterschiedlichen Wortfeldern und Begriffen sowie aus doxologischer Sprache rekonstruiert werden können und müssen und dass das Thema theologisch heute (als kritische Frage nach Gottes Führung und Lenkung im Weltenlauf und im individuellen Leben) mehr Aufmerksamkeit beanspruchen darf denn je. Eine einheitliche biblisch-theologische Antwort ist dabei nicht zu erwarten, wohl aber »der Versuch einer Zusammenschau zentraler Aussagen« des Neuen Testaments zum Thema (14).
Das Kontrastprogramm zu den biblischen und jüdischen Vorsehungskonzepten bildet dasjenige der Stoa, das in einem kurzen TeilI abgehandelt wird (15–30). Es mag hier genügen, in der Hauptsache die Adjektive zusammenzustellen, mit denen Sch. das philosophische Konzept der Pronoia und Heimarmene als hypostasierter Weltvernunft charakterisiert: eindrucksvoll kohärent, aber intellektualistisch konzipiert; rational und pantheistisch (16), teleologisch (18). Wahre Freiheit ist nur dem Weisen möglich durch »Einfügung in das providentielle Geschick« (21). Der fundamentale Unterschied zur jüdisch-christlichen Tradition wird am Fehlen der eschatologischen Hoffnung und einer persönlichen Gottesbeziehung festgemacht.
In Teil II (31–66) und III (67–136) werden der alttestamentliche und der frühjüdische Befund dargestellt. Trotz unterschiedlicher historischer Voraussetzungen und der Verschiedenheit der Texte gibt es gleichbleibende Vorstellungsgehalte und vergleichbare Problemlagen. Als Erstes ist hier der durchgängige Zusammenhang von Schöpfung, Erhaltung und Vorsehung (bzw. Fürsorge; vgl. 83) zu nennen. JHWHs Souveränität als Schöpfer erweist sich im Alten Testament »vor allem bei der geschichtlichen Erwählung und Leitung Israels« (43). Doch umfasst sie auch den Einzelnen in seinem Lebensschicksal und greift zudem über Israel hinaus zu den Weltvölkern. Dies ist die Auffassung des gesamten nachfolgenden Judentums (einschließlich des rabbinischen). – Daneben sind die Fragen nach dem Ursprung des Bösen und dem Leiden des Gerechten durchgängige Themen. Letzteres führt zu einer Krise des Ordnungsdenkens um den Tun-Ergehen-Zusammenhang, durch den vor allem sich nach der älteren Auffassung das Walten der göttlichen Vorsehung vollzog – auch wenn er nie als einfacher Mechanismus verstanden worden war (60). Im hellenistischen Judentum wird dort, wo man nicht einfach an der alten Weisheit festhielt, das Problem zum Teil durch den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele entschärft oder (bei Philo) mit Hilfe stoisch klingender Argumente bearbeitet (87 f.), in Prophetie und Apokalyptik kommt es andererseits durch Entwicklung und Ausbau eigener eschatologischer Hoffnungen und Vorstellungen auch zu neuen Lösungen.
Dort, wo eine mehr oder weniger intensive Begegnung mit der hellenistischen Philosophie stattfindet (z. B. im Buch Sirach oder bei Philo und Josephus), wird auch über die Frage der menschlichen Entscheidungs- und Willensfreiheit reflektiert, die im Allgemeinen gegenüber jeglichem Fatalismus verteidigt wird (es gibt aber auch gegenteilige Aussagen, z. B. bei den Essenern nach Josephus oder in Sir 33,12 f.; vgl. 77.96). Der Gedanke des vorherbestimmten, auf das Ende der Geschichte zielenden »Planes« Gottes, aber auch seine »Unerforschlichkeit« treten in der Apokalyptik deutlicher hervor. Doch im Ganzen bestätigt auch ein Durchgang durch rabbinische Aussagen: Es herrscht durchaus ein gewisser »Synergismus« bzw. »das Modell der cooperatio« (132) zwischen göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit vor. Aber eine Lösung aller Rätsel wird – nicht unähnlich dem Neuen Testament – erst vom Ende her erwartet, »wenn Gott seine Verheißungen universal einlösen wird« (136).
So vorbereitet, wendet sich Sch. nun im umfangreichsten Teil IV seiner Untersuchung (137–260) dem Neuen Testament zu – gefolgt von einer kurzen »Bilanz« (261–270) und einer Quellen- und Literaturauswahl. Als Kernthese kann gelten: Frühchristliche Providenzaussagen konzentrieren sich zunächst auf die »Realisierung des vorzeitlichen Heilsratschlusses Gottes« in der »Person und Geschichte Jesu Christi« (137) und greifen erst von da aus in weitere (geschichtliche und individuelle) Dimensionen aus. Ausgangspunkt ist – anders als im Alten Testament – nicht der Schöpfungsglaube, sondern »allein die durch die Ostererfahrung initiierte Christologie« (138). Formgeschichtlich werden »Bekenntnis« und »Lobpreis« als »anfänglicher Ort« des Vorherbestimmungsgedankens erwogen (141). Das Moment der Vorzeitlichkeit bringt die Unverbrüchlichkeit und Unumstößlichkeit von Gottes Heilswillen, seine Verlässlichkeit zum Ausdruck (142.158). Die »heilsgeschichtliche Notwendigkeit von Tod und Auferweckung Jesu« zeigt sich auch in den charakteristischen δεῖ-Aussagen, deren Ursprung »im apokalyptischen Denken zu suchen (ist), nach dem die Geschehnisse mit Jesus notwendig zum endzeitlichen Heilsgeschehen gehören« (146). Auch das »Stundenschema des Kreuzigungsberichtes von Mk 15,20 ff.« lässt sich hier wahrscheinlich zuordnen (149). Von Tod und Auferweckung aus werden dann – vor allem bei Lukas – providentielle Aussagen auch auf die Zeit vor und nach den zentralen Heilsereignissen ausgeweitet – womit man das Gebiet einer höchst heiklen Vorsehungs- und Geschichtstheologie mit ihren ambivalenten Deutungen betritt, für die der Rat des Gamaliel (Apg 5,38 f.) das Musterbeispiel darstellt (155 f. mit Anm. 573). Deswegen ist es umso bemerkenswerter, dass in den providentiellen Aussagen über die einzelnen Glaubenden wiederum das eschatologisch-soteriologische Interesse, und damit die »Unbedingtheit und Gewissheit des Heils« (161) auf Grund des vorzeitlichen göttlichen Heilsratschlusses, im Zentrum steht (Hauptbeleg: Röm 8,28–30) und nicht die göttliche Lenkung und Leitung des individuellen Lebensschicksals – so gewiss solche Aussagen auch vorkommen (siehe z. B. 2Kor 1,8 ff.; 3Joh 2 oder die Rolle des Geistes und der Engel in Apg).
In den theologisch für mich eindrucksvollsten Passagen des Buches entfaltet Sch. seine These, »dass mit der Gewissheit des durch Gottes Vorsehung begründeten unumstößlichen Heils kein Universalschlüssel für eine sinnvolle Erklärung des Weltgeschehens oder des eigenen Lebensschicksals gewonnen wird« (157). Was es gibt, ist »die Erfahrung fragmentarisch-zeichenhaften Schutzes in der Welt« (170). Wie bei den Heilungen Jesu ist der Übergang vom Heil zur äußeren Rettung und Bewahrung wohl fließend, doch kann eher von »partiellen Prolepsen und zeichenhafter Durchbrechung der Unheils- und Leidzusammenhänge« als von einer »universalen providentia« die Rede sein (218). Es bleibt eine »Diskrepanz zwischen Heil und innerweltlichem Ergehen (Röm 8,31–39)« (176), eine »Spannung zwischen dem geglaubten und dem faktischen Weltregiment« (196) – weil die widergöttlichen Mächte keineswegs schon endgültig entmachtet sind –, und »nicht Schöpfung, sondern Neuschöpfung ist das dominierende neutestamentliche Thema« (184). Auch die Unterscheidung zwischen unmittelbarer Verursachung und mittelbarer Zulassung durch Gott hilft letztlich nicht (vgl. 204), die Vorstellung von einer alles umfassenden Vorsehung zu retten. Ebenso sind die weisheitlichen Überzeugungen vom fürsorgenden Vater in der Bergpredigt (Mt 5,45; 6,8.25 ff.; vgl. 10,29–31) in den eschatologischen Horizont der anbrechenden Gottesherrschaft integriert (209 ff.); solche Erfahrungen besitzen von daher – wie die Heilungen Jesu – Spuren- und Zeichencharakter für den Heilswillen Gottes und sind keine Belege für einen allgemeinen Providenzglauben (211.265 f.). Manchmal ist Gottes Wille verborgen und rätselhaft, und auch die Leiden sind nicht nur »Ort und Modus der Schicksalsgemeinschaft mit Christus«, sondern auch »Signatur der unerlösten Welt« (229). Mit Recht wendet sich Sch. dagegen, die Gottverlassenheit (Jesu) »gerade zum geheimen und angemessenen Ort der Anwesenheit Gottes« zu machen und »nicht nur von dem in Jesu Leiden mitleidenden, sondern vom leidenden und ohnmächtigen Gott selbst zu sprechen, der sich im Kreuz Jesu finden lässt« (254). Denn obwohl Gottes Wille letztlich in allem Geschehen entscheidend und ausschlaggebend ist, ist er doch nicht unbeeinflussbar und statisch (Bedeutung des Gebetes, auch des Gebetes Jesu) und zielt vor allem auf eine Überwindung der Leiden in der Herrlichkeit der Auferstehung – ohne diese bliebe auch das Kreuz sinnlos und stumm (vgl. 255). – Reflexionen über das Verhältnis von göttlicher Vorherbestimmung und menschlicher Freiheit finden sich auch im Neuen Testament kaum, Sch. spricht von »offenbar sachlich notwendiger Dialektik« (243). Man kann beides »nicht auseinanderdividieren, auch wenn der Akzent unzweifelhaft auf dem souveränen Tun Gottes liegt« (246).
Sch. hat ein Lesebuch im besten Sinne vorgelegt. Es bietet eine große Fülle von Bibel- und anderen Belegstellen zum Thema, die teilweise nicht nur genannt, sondern auch wörtlich zitiert werden (auch in den Fußnoten) – so dass man nicht ständig nachschlagen muss, vielmehr das Werk selbst als Nachschlagewerk nutzen kann. Es ist für Fachleute wie für interessierte Laien gleichermaßen ergiebig und spannend zu lesen – vor allem in den theologisch tiefgründigen Passagen des neutestamentlichen Teils. Es fällt auf, dass sich Sch. stark auf ältere Literatur stützt – sicherlich auch, weil es nur wenig neuere zum Thema gibt. Gelegentlich wünschte ich mir größere Trennschärfe zwischen einzelnen Vorstellungen (z. B. 160 )– so halte ich es nicht für zwingend, »Vorherbestimmung« unter »Vorsehung« zu subsumieren. Gerade die Fälle strikter »Theologisierung« und (individueller oder sachverhaltlicher) Vorherbestimmung sind geeignet, jene übergreifende Sinn- und Zielperspektive und geschichtstheologische Gesamtkonzeption zu eröffnen, denen Sch. ansonsten zu Recht zurückhaltend gegenübersteht. Wenn er ab S. 158 ff. zunehmend die »funktionale« Betrachtungsweise in den Vordergrund schiebt (s. aber schon 142) und darüber hinausgehende Fragestellungen als »spekulativ« zurückweist, so hat er damit in vielen Fällen Recht, bleibt aber vielleicht doch ein wenig hinter der selbst gestellten Aufgabe zurück, den theologischen Sach- und Vorstellungsgehalt von Vorherbestimmung und Vorsehung zu ermitteln. Denn Vorherbestimmungs- und Prädestinationsaussagen sind nicht (nur) spekulativ, sondern vermögen jene übergreifende Gesamtperspektive zu liefern (vgl. exemplarisch Röm 9–11), die zwar keinen »Universalschlüssel« für alle Rätsel und alles Böse in der Welt darstellt, aber doch an Gottes Regie und Präsenz in der Geschichte und im Leben des Einzelnen festhält. Gott ist in der Tat nicht für »alles und jedes« verantwortlich zu machen (um eine häufige Formulierung Sch.s aufzugreifen; z. B. 143.157.186.196), aber er hat – nach einem bestimmten Zweig der biblisch-jüdischen Tradition – alles und jedes (Mensch, Kosmos, Geschichte) unter seiner Kontrolle und führt es dem vorbestimmten Ende zu.