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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

529 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reinmuth, Eckart

Titel/Untertitel:

Anthropologie im Neuen Testament.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2006. VIII, 338 S. 8° = UTB, 2768. Kart. EUR 24,90. ISBN 3-7720-8151-7 (Francke); 3-8252-2768-5 (UTB).

Rezensent:

Christof Landmesser

Der Mensch fragt nach sich selbst und stellt sich selbst in Frage. Die für die christliche Tradition fundamentalen Texte des Neuen Testaments sind Konkretionen dieser Frage und der daran an­schließenden Antwortversuche. Reinmuth zeigt, wie alle im Neuen Testament zu entdeckenden Weichenstellungen mit der An­thropologie zu verbinden sind. Über die Frage nach dem Menschen rücken wesentliche theologische Themen in den Blick, denn »[d]er Streit um Gott war immer auch ein Streit um den Menschen« (9). Es ist hochwillkommen, dass die neutestamentlichen Texte in dieser Perspektive wahrgenommen werden.
Der Vf. verortet seine Fragestellung in dem aktuellen außertheologischen Diskurs (1–43). Dass er sich dabei auf Anspielungen beschränken muss, ist selbstverständlich und kein Mangel. Es gelingt ihm, die Relevanz wie die Umstrittenheit der anthropologischen Frage einsichtig zu machen. Im Anschluss etwa an Butler, Jankélévitch und Derrida beschreibt der Vf. die Frage des Menschen nach sich selbst als einen Ausdruck seiner Verletzlichkeit und als einen Akt seiner Selbsterhaltung (31), die nur im Horizont von Vergebung und Verzeihung weiterführend zu entfalten sind. Damit ist der Vf. mitten in anthropologisch relevanten Themenkreisen der neutestamentlichen Texte angelangt (39).
Im Hauptteil der Arbeit bietet der Vf. keine systematische An­thropologie des Neuen Testaments, vielmehr orientiert er sich an exemplarischen Textstudien, die Einsichten in die je differenten anthropologischen Entwürfe gewähren. Bei aller Perspektivität lassen die neutestamentlichen Texte eine mit Recht als theologisch bezeichnete Grundbewegung erkennen. »Menschsein gerät im Neuen Testament im Zuge der vielfältigen Interpretationen der Geschichte Jesu Christi in den Blick« (40).
In vier Kapiteln geht der Vf. der Frage nach, wer der Mensch sei als Adressat der Jesus-Christus-Geschichte (42). Er erörtert die An­thropologie in den synoptischen Evangelien (45–135), die Anthropologie im Johannesevangelium (137–184), Paulus (185–243) und Übrige Schriften (245–313). In einem Nachwort (315–321) zieht er ein kurzes Resümee.
Die Hinweise zu den anthropologischen Aussagen im Neuen Testament sind in einem Überblickswerk notwendig von unterschiedlichem Tiefgang. Für Matthäus erkennt der Vf. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Leitthemen der Anthropologie, wobei Gerechtigkeit »das Ganze des Willens Gottes« meine (53). Das barmherzige Verhalten Jesu zeige, was Menschsein bedeute. Allerdings stehe der Barmherzigkeit unbarmherzige Verwerfung entgegen, wo sie nicht mit Barmherzigkeit beantwortet werde (55). So genüge nicht das Hören, Matthäus fordere das Tun, dem eschatologischer Lohn verheißen sei. Das wahre Menschsein entscheide sich nach Matthäus an der Liebe (70). Das Thema der matthäischen Anthropologie sei die »Integrität des Menschseins« (71). – Bei Markus werde erkennbar, dass »Gott in der Jesus-Christus-Geschichte endgültig handelte« (83). Der Vf. verbindet das Messiasgeheimnis mit der Frage nach dem Menschen, die im Kontext von Leiden und Tod Jesu zu einer Antwort finde (84). Leiden und Tod Jesu werden freilich unterbestimmt, wenn mit dem Vf. die anthropologische Bedeutung der Jesus-Christus-Geschichte darin gesehen wird, dass der Lebensgewinn von Leiden und Tod Jesu für alle Menschen im Akt des Loslassens des Lebens, nicht im Festhalten desselben bestehe, womit der Vf. die Nachfolge beschrieben haben will (93). – Bei Lukas sieht der Vf. den Versuch der Selbstsicherung des Menschen destruiert. Weder Besitz noch Religion können das menschliche Leben garantieren, »Menschsein ist kein Garantiefall« (107). Glauben heiße dagegen, dass Menschen dort auf Gott vertrauen, wo sie ihre eigene Rettungslosigkeit erkennen (ebd.). Die Jesus-Christus-Geschichte werde als rettendes Handeln Gottes interpretiert, das den menschlichen Strategien zur Lebenssicherung entgegenstehe. Nur Umkehr und Vergebung bringen nach Lukas den Menschen in Freiheit (125).
Im Johannesevangelium erweise bereits der Prolog das Geschaffensein des Menschen als ein anthropologisches Grunddatum (140f.). Hier werde entfaltet, wie die Herrlichkeit und Präsenz Gottes »für den Glaubenden in der Niedrigkeit des Mensch gewordenen Logos zu erkennen« sei (144). Im Gespräch mit Nikodemus werde entfaltet, »was das Kommen Gottes für die Menschen bedeutet« (151).
Dies werde erläutert mit der Metapher der »neuen Geburt« (so 151 und 153), wobei sich eine exegetische Unausgeglichenheit ergibt, wenn der Vf. anmerkt, dass das im Griechischen zu Grunde liegende Adverb an allen weiteren Stellen im Johannesevangelium mit »von oben her« interpretiert werden müsse (152 mit Anm. 43; vgl. auch 154). – Wenig überzeugend ist die Interpretation von Joh 3,18–21, wenn der Vf. meint, dass sich für Johannes Menschsein im Tun entscheide (155). Der Vf. bleibt hier an der Oberflächensemantik haften, wenn er das Tun im Sinne menschlicher Produktivität deutet. Er erkennt nicht, dass nach Johannes das ›Tun‹ im Glauben besteht. Dies wird auch nur dann klar, wenn man gegen die Meinung des Vf.s V. 18 mit in den letzten Abschnitt des Gesprächs einbezieht und so die Ringkomposition der V. 18–21 erkennt. Hier wird eine mehrfach zu beobachtende Schwäche des Buches erkennbar. Der Vf. bemüht sich zuweilen zu wenig um eine exegetisch präzise Argumentation und Diskussion.
Einigen Raum nimmt die Auseinandersetzung des Johannesevangeliums mit dem Judentum samt deren anthropologischen Im­pli­kationen in Anspruch. Ab­schlie­ßend entfaltet der Vf. angemessen, dass für das Johannesevangelium die Bezogenheit des Menschen auf den Logos im Glauben grundlegend sei (184).
Auch für Paulus ist entscheidend, »dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist« (185). Die Sünde des Menschen beschreibe er als einen Verstoß gegen das erste Gebot (190). Nicht deutlich wird, was der Vf. meint, wenn er behauptet, dass ohne Tora die »Sünde nicht denk- und definierbar« sei (202), sind doch Sünde und Tod bereits in der Welt vor der Tora (Röm 5,13). Das Leben der Glaubenden verdanke sich jedoch nicht mehr »der fragwürdigen Selbstkonstitution des Subjekts«, es sei nach Paulus – wie der Vf. schön beobachtet – verankert »in der neuen Grundrelation des Glaubens, der Christus als Subjekt zu denken wagt« (204). Dies mit dem Motiv der Freiheit zusammenzudenken, ist tatsächlich die Herausforderung der paulinischen Anthropologie überhaupt. Der glaubende Mensch versteht sich als ein von Gott erkannter Mensch, der sich von dem ihn liebenden Gott in eine Geschichte Gottes mit dem Menschen eingebunden weiß (242).
Viele andere anthropologische Einsichten zu Paulus und den weiteren neutestamentlichen Schriften werden vom Vf. zugänglich gemacht. Sie erweisen sich alle als eine Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte (265), die die eigentliche Aufgabe der Theologie ist. Dies machen die vom Vf. gebotenen »exemplarischen Lek­türen« (315) deutlich, ohne den Versuch zu unternehmen, einem weitergehenden systematischen Zusammenhang der anthropologischen Texte des Neuen Testaments nachzudenken.