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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

509–511

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Miller, Stuart S.

Titel/Untertitel:

Sages and Commoners in Late Antique ’Ere.z Israel. A Philological Inquiry into Local Traditions in Talmud Yerushalmi.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XIII, 554 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 111. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-148567-1.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Um es gleich zu Beginn zu betonen: Dieses Buch über lokale jü­dische Traditionen ist nicht nur für Spezialisten des Jerusalemer Talmud von Interesse, sondern für alle, die sich um ein besseres Verständnis der Vielgestaltigkeit des antiken Judentums, insbesondere auch des rabbinischen, bemühen. Trotz seiner Beschränkung auf ein spezielles literarisches Korpus, den Talmud Yerushalmi, auf jenen Talmud also, der um die Mitte des 4. Jh.s n. Chr. wohl zum größten Teil in Tiberias redigiert worden ist, sollte dieses gelehrte Werk in seiner Relevanz für die Sicht auf das gesamte an­tike Judentum nicht unterschätzt werden. Der Vf. verzichtet dabei bewusst auf die vollständige Auswertung der fortschreitenden archäologischen Forschungen, die gerade in den vergangenen Jahren, etwa in Sepphoris in Galiläa, wichtige, auch für das Thema des Buches relevante Funde zu Tage gefördert haben. Es geht dem Vf. vielmehr zunächst um die nuancierte Auswertung des Befundes bezüglich unterschiedlicher, lokal festzumachender Gruppen in einem einheitlich überlieferten literarischen Dokument.
Grundlegend für die dennoch immer wieder archäologische und epigraphische Fakten berücksichtigende Studie ist dabei auch die sich in der Forschung mittlerweile etablierende Sicht, nach der das rabbinische Judentum keine homogene Bewegung unter einer einheitlichen Führung war, sondern vielmehr (im Anschluss an bzw. in Kombination von C. Hezser, A. Sivertsev und H. Lapin) ein loser Zusammenschluss von informellen Zirkeln und Familien, der noch zur Zeit der Entstehung ihrer literarischen Hauptwerke nicht als die Hauptströmung des Judentums angesehen werden kann. Der Vf. spricht vor diesem Hintergrund und damit sowohl Hezser als auch M. Hengel und R. Deines präzisierend von »complex common Judaism«, um damit mehrere differenzierende Sichtweisen auf die unterschiedlichen Strömungen und Richtungen zu sub­sumieren, ohne auf die Lösung zurückgreifen zu müssen, von »Ju­daisms« im Plural sprechen zu müssen. Der Begriff »common complex Judaism« kann so auch die Jesus-Bewegung, die Samaritaner und die Angehörigen des Qumran-»yahad« einschließen. Be­merkenswert sind in diesem Zusammenhang die vom Vf. gezo­genen Vergleiche zu kontemporären Diversifikationen jüdischen Lebens in den USA. Trotz aller Unterschiede zwischen »Re­form, Reconstructionists, Conservative« und sogenannten Orthodoxen bestehen zumindest in der Außenwahrnehmung Gemeinsamkeiten, die eine Konzeptualisierung von »Judentümern« im Unterschied zur Annahme eines »komplexen allgemeinen Judentums« problematisch erscheinen lässt. Der Blick in die literarische Lebenswelt des Yerushalmi kann insofern helfen, jüdische Gegenwart zu deuten.
Das Vorgehen im ersten Hauptteil ist an der Häufigkeit der Belege für örtliche Gruppen bzw. für lokale Traditionen orientiert. Beginnend mit der Analyse jener Stellen im Yerushalmi, in denen Zippora’ei, die Einwohner der Stadt Sepphoris in Galiläa, genannt sind, werden auch die Termini Tibera’ei und Deroma’ei untersucht. Die Bezeichnung Zippora’ei im palästinischen Talmud bezieht sich in der Regel auf »ordinary (Jewish?) residents of Sep­phoris«, die keinen direkten Bezug zu Rabbinen besaßen. Allerdings gibt es Ausnahmestellen, hinter denen »rabbinisierte« Einwohner von Sepphoris, d. h. Anhänger der rabbinischen Bewegung, zu er­kennen sind. Die Tibera’ei, Einwohner von Tiberias, lassen sich wiederum in solche differenzieren, die der rabbinischen Bewegung nahe standen, und solche, die einfache Einwohner von Tiberias waren. Da der Talmud Yerushalmi wahrscheinlich zu größeren Teilen in Tiberias redigiert wurde, werden viele Rabbinen aus dieser Stadt auch einfach als havrayya, Gefährten, designiert – allerdings nicht alle, was letztlich die genaue Analyse jedes Einzelfalls erforderlich macht. Die Analyse der Bezeichnung Deroma’ei, wörtlich »die aus dem Süden« (»southerners«), ist von besonderer Bedeutung, da bis in neuere Übersetzungen des Yerushalmi hinein zu verfolgen ist, vor welche Verstehensschwierigkeiten dieser Terminus stellt. Als gesichert kann nach dem Vf. gelten, dass sich der Ausdruck nicht auf eine Ortschaft »Darom« bezieht (wie z. B. noch bei Billerbeck erklärt), sondern auf eine Gegend im Süden, wohl in der Nähe von Lod (Lydda). Deroma’ei galten Rabbinen im Norden, d. h. in Sepphoris oder in anderen Orten wie Tiberias, als weniger zuverlässig, werden gelegentlich aber auch unter die Weisen, die hakhamim, gezählt. Vielleicht handelte es sich einfach um Rabbinen aus dem Süden, d. h. aus der Nähe von Lod, die im Norden lebten und dann als Gruppe angesprochen wurden, da sie in einigen halakhischen Fragen, besonders solche den Jerusalemer Kult betreffend, andere Meinungen vertraten.
Neben diesen drei großen Personengruppen samt ihren lokalen Traditionen finden sich seltener auch Bemerkungen zu Einwohnern von Migdal, Bet Shean und Sennabris am See Genezaret, die in je unterschiedlichen Beziehungen zu den Rabbinen standen. Die wenigen Belege für Einwohner von Haifa und Tivon in Galiläa, in denen auf ihre falsche Aussprache der Buchstaben heh und het bzw. ayin und alef rekurriert wird, sind auch sprachgeschichtlich von Interesse. Bemerkenswert sind des Weiteren die Erwähnungen von Einwohnern aus Tyrus im Libanon, die den Einfluss von Rabbinen außerhalb des Landes Israel in der Sicht der Amoräer des Yerushalmi belegen. Zu den Qappadoqaei in Sepphoris wird bemerkt, dass die weitreichende Vermutung Liebermans, nach der die Kappadokier in Zippori als pro-römisch eingestellt galten, zu weit gehe. Die Kappadokier seien in der rabbinischen Literatur insgesamt positiv dargestellt, die Einwohner von Sepphoris andererseits als den Rö­mern nicht feindlich gesinnt. Rückschlüsse auf die Haltung der Einwohner von Sepphoris gegenüber zugewanderten Kappadokiern seien daher problematisch. Bemerkenswert ist, wie klar die lokalen Traditionen im Yerushalmi die Bedeutung der Urbanisierung der jüdischen Gesellschaft bzw. wenigstens die amoräische Sicht der Bedeutung dieses Phänomens für die Ausbreitung der rabbinischen Bewegung erkennen lassen. Zwar möchte der Vf. keinen Beitrag per se zu dieser in jüngster Zeit lebhaft diskutierten Frage leisten, doch erörtert er fast alle relevanten Stellen zu diesem Thema und gibt damit ein nützliches Hilfsmittel für die weitere Diskussion an die Hand. Die zunehmend städtische Perspektive vieler lokaler Überlieferungen des Yerushalmi im Unterschied etwa zur Mischna und Tosefta wird zu einem signifikanten Referenzrahmen amoräischer Interpretationen. Wie viel man aus der Zeit des Yerushalmi hinsichtlich der Bedeutung lokaler Traditionen in frühere Phasen der Entwicklung des rabbinischen Judentums übertragen kann, könnte man nun noch weiter untersuchen.
Stellte der Yerushalmi noch im 20. Jh. ein Stiefkind judaistischer Forschung dar, erlebte er in den vergangenen Jahren eine Aufarbeitung, die gründlicher erfolgte als jemals zuvor. Dies belegen nicht nur die zahlreichen wissenschaftlichen Spezialstudien wie die hier vorgestellte, sondern auch die neuen Editionen und Kommentare, darunter auch solche traditioneller Autoren vor allem aus Israel, aber auch aus den USA. Der Jerusalemer Talmud erweist sich somit immer mehr als eine Quelle ersten Ranges, die nicht nur speziell die Halakha im Lande Israel im 4. –5. Jh. erhellt, sondern auch das Verständnis der Grundlagen des sich gleichzeitig mit dem Chris­tentum weiterentwickelnden rabbinischen Judentums insgesamt. Der Band wird durch umfangreiche nützliche Indizes der Quellen, der hebräischen und aramäischen Termini, der Lehnwörter, Orte, Rabbinen- und Personennamen sowie einen Sachindex erschlossen.