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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

41–46

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Zenger, Erich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Tora als Kanon für Juden und Christen.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 1996. V, 419 S. gr.8° = Herders biblische Studien, 10. Lw. DM 94,­. ISBN 3-451-26128-6.

Rezensent:

Angelika Berlejung

In der Einführung (1-4) skizziert der Herausgeber die Fragestellung des vorliegenden Sammelbandes, dessen Beiträge auf Vorträge zurückgehen, die auf der Tagung der "Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger katholischer Alttestamentlerinnen und Alttestamentler" vom 30. 8.-2. 9. 1994 in Bonn gehalten wurden. "Tora" und "Kanon" sind die zentralen Begriffe, um die sich die verschiedenen Aufsätze gruppieren, die der Frage nachgehen, "wie zunächst einmal der sogenannte Pentateuch als Tora zu einem kanonischen Buch wurde und was dieser Vorgang in den ersten Jahrhunderten nach der Kanonisierung der Tora sowohl für das Judentum als auch für das im Horizont der kanonisch gelebten Tora entstehende Christentum bedeutete und bewirkte" (1). Entsprechend dieser Leitfrage sind die elf Beiträge angeordnet, die sich zuerst (und mit sechs Aufsätzen in der Mehrheit) der alttestamentlichen Fragestellung, in drei Beiträgen dem Judentum und Qumran und in zwei weiteren Aufsätzen dem frühen Christentum widmen. Im folgenden müssen leider wenige Sätze genügen, die die Einzelstudien kaum voll würdigen können, jedoch einen Eindruck von dem Band vermitteln mögen.

Der Aufsatz von Erich Zenger "Der Pentateuch als Tora und als Kanon" (5-34) ist in mehrfacher Hinsicht der "fundierende Text" des ganzen Bandes. Z. skizziert in einem kurzen Überblick die wesentlichen Etappen der Kanonwerdung; das Ende des Wachstums des Pentateuchs und seine Promulgation als Tora im 4. Jh. v. Chr. führte nach Z. in der Konsequenz dazu, daß die Schriftensammlung von Jos bis Mal als abgeschlossenes corpus propheticum angesehen, als kanonischer Kommentar zur Tora verstanden und dieser angeschlossen wurden.

So bildete sich die Größe "Tora und Propheten", die ihrerseits durch die Schriften ergänzt und mit der Chronik abgeschlossen worden sei. Die Tora spielte daher kanongeschichtlich für die Entstehung der jüdischen und christlichen Bibel die entscheidende Rolle. Ihre Prae-Position im Kanon ist ein der jüdischen und christlichen Bibel gemeinsames Vielfaches, auch wenn die anschließende Anordnung der biblischen Bücher und der Abschluß des Alten Testaments (hier Chr, dort Mal) unterschiedlich gestaltet wurden. Die Spitzenstellung der Tora ist "eine fundamentale hermeneutische Vor-Gabe" (7), da alle folgenden Bücher in ihrem Licht zu verstehen sind. In einem forschungsgeschichtlichen Abriß beleuchtet Z. das neue Interesse an der Endkomposition des Pentateuchs und bietet einen Überblick über die entscheidenden Etappen von deren Formierung. Während für den Ursprung der biblischen Kanonidee ein theopolitischer Kontext anzunehmen sei (joschijanisches Dtn), sei umstritten, inwiefern dies auch für den Kanonabschluß gelte.

In diesem Zusammenhang diskutiert Z. (in Auseinandersetzung mit P. Frei, R. Kratz und E. Blum) den Einfluß der persischen Reichspolitik (Stichwort "Reichsautorisation") und schließt sich dem Grundkonzept E. Blums an, der die Entstehung der pentateuchischen Tora als Basisdokument jüdischer Identität auf das Zusammenwirken der jüdischen mit der persischen Seite zurückführt. Bei dem Abschluß des Pentateuch und dessen Kanonisierung als Tora spielt nach Z. (abweichend von Blum) die Integration des Dtn in den Tetrateuch eine Schlüsselrolle, da das Dtn (s. Dtn 34,1-9.10-12) zum kanonischen Abschluß der pentateuchischen Überlieferungen geworden sei. Z. unterscheidet (mit B. S. Childs) den Prozeß der Kanonwerdung und den Akt der Kanonschließung und skizziert das Spezifikum kanonischer Texte im Anschluß an die Unterscheidung von klassischen, heiligen und kanonischen Texten von J. Assmann: Kanonische Texte setzten Zensur und Kommentierung voraus. Sie seien "Werte- und Sinnkanon für das Leben der Mitglieder der kanonisierenden Gemeinschaft" (19), woraus folge, daß sie der Institution der Text- und Sinnpflege bedürfen. Aus letzterem ergebe sich die Produktion neuer Texte, Kommentare, die den Text in Leben umsetzten. So ist der Kanon für Z. ein "Potential kreativer Energie, die sich kanongemäß entfaltet ... nicht toter Buchstabe, sondern gebündeltes Sinnpotential, eben Geist der lebendig werden und bleiben soll" (20), womit sich Z. gegen den Vorwurf zu verwahren scheint, daß Kanonisierung den Abschluß der Offenbarung bewirken wollte oder sollte. Die Frage nach der christlichen Wertung der Tora soll nach Z. neu überdacht werden, gerade wenn es darum geht, in den christlich-jüdischen Dialog einzutreten, der im Zusammenhang mit der Torabezogenheit des Judentums häufig von negativen christlichen Klischees in der Wertung der Tora geprägt (gewesen) sei. Z. stellt drei jüdische Positionen (S. Talmon, J. Neusner, J. Leibowitz) vor, die die Torabezogenheit des Judentums als innerjüdisch kontroverse Frage beleuchten, und die das Bemühen christlicher Theologie um die jüdische Tora unterschiedlich werten. Demgegenüber sieht Z. in der christlichen Theologie im Umgang mit der Tora häufig die Stereotype der jüdischen Gesetzlichkeit am Werk, die nicht nur den Dialog mit dem Judentum, sondern auch das Verstehen der Tora als Teil der christlichen Bibel verstellt. Nachfolge Jesu bedeute demgegenüber auch Nachdenken darüber, "wie die Tora ’zur Grundlage einer biblisch orientierten christlichen Ethik’ [F. Crüsemann] werden kann" (30).

Christoph Dohmen "Wenn Texte Texte verändern. Spuren der Kanonisierung der Tora vom Exodusbuch her" (35-60) untersucht Intertextualitätsphänomene (anhand der Kriterien von M. Pfister, s. u.) im Blick auf den Prozeß der Kanonwerdung und den Akt der Kanonisierung und geht dabei exemplarisch von der "Gnadenformel" Ex 34,6 aus. Er kann zeigen, daß zahlreiche Texte die Gnadenformel benutzen, "um über sie das theologische Zentrum der Sinai-Perikope zu übernehmen" (56), woraus D. folgert, daß der größere Textzusammenhang der Sinai-Perikope als "stabil" vorauszusetzen ist und bereits von den späteren Kanonteilen "Propheten" und "Schriften" als maßgeblicher Text rezipiert wurde.

Georg Braulik "Das Deuteronomium und die Bücher Ijob, Sprichwörter, Rut. Zur Frage früher Kanonizität des Deuteronomiums" (61-138) hebt die Bedeutung des Dtn.s für die Kanonwerdung des Pentateuchs hervor und widmet sich der Frage nach der "Kanonizität" des Dtn.s, die s. E. für eine Vorform des heute vorliegenden Dtn.s schon vor der Herstellung des Pentateuchs bestand (= Stufe I der Kanonizität des Dtn).

Die vorpentateuchische "Kanonisierung" ließe sich ihrerseits in vier Typen systematisieren (a. die Geltung des Dtn.s als "Bundesdokument König Joschijas"; b. seine Benutzung als Maßstab innerhalb des DtrG; c. seine Autorität als nachexilisches Gesetzbuch für Schriften, die sich jetzt an verschiedenen Stellen des Kanons befinden; d. seine Verwendung als Vorgabe bei der Produktion des Pentateuchs selbst). Diese erste Stufe der Kanonizität des Dtn unterscheide sich von der Stufe II dahingehend, daß nach der Herstellung des Pentateuch das Dtn auf andere Bibelteile einwirkte, so daß es sich hier um eine "partizipierte Pentateuchkanonizität" (65) des Dtn.s handle. Im Pentateuch und den Vorderen Propheten liege nun Stufe I der Kanonizität des Dtn.s vor, für die Hinteren Propheten und die Schriften sei die Lage komplizierter, da hier Stufe II (zu den Kriterien s. S. 65) oder Stufe I vorliegen könne.

Anschließend zeichnet B. die Nachgeschichte des ganzen Buches Dtn in den aus der Perserzeit stammenden Büchern Hiob (Einzelanalyse von Hi 24,1-17 mit seinen Beziehungen zur dtn Sozialgesetzgebung, dem Dekalog und dem Fluchabschnitt des Sanktionskapitels Dtn 28), Sprüche (Intertextualität zwischen Spr 1-9, den dtn Paränesen Dtn 11,18-21 [6,6-9], Dtn 4, Dtn 30,15-20 und dem Dekalog) und Ruth (Intertextualität zwischen Ruth und dem Prätext Dtn 19-25) nach, in deren innerbiblischen Schriftauslegung sich das Bewußtsein der Kanonizität dieses Buches (Stufe II) spiegelt. Erwähnenswert erscheint der Umgang des Buches Ruth mit dem Dtn, da es als ganzes "Gesetze des deuteronomischen Kodex systematisch einer sozial- (Rut 1-2) und sexualkritischen (Rut 3-4) relecture unterzieht ..." und dabei das Recht des Dtn.s stellenweise weiterentwickelt (Recht auf Nachlese Ruth 2; Leviratsehe Ruth 4), in "narrative Ethik" verwandelt (125) und mit dem historischen Vorurteil gegen die Moabiter aufräumt. Im Anschluß an die von M. Pfister erarbeiteten Kriterien der Intertextualität, differenziert B. die intertextuelle Intensität typologisch nach 1. Referentialität 2. Kommunikativität 3. Autoreflexivität 4. Strukturalität 5. Selektivität 6. Dialogizität 7. Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge 8. Zahl und Streubreite der Prätexte und kann bei den von ihm untersuchten Texten ein hohes Maß an Intensität feststellen. Das Dtn, das in allen drei Büchern bereits nach Stufe II rezipiert wird, erscheint als Text hoher Autorität, der nach B. vor allem als gültiges Rechtsbuch herangezogen wird. Das Kanonbewußtsein, das sich in den drei Texten spiegelt, sei jedoch verschieden und zeige, daß die Autorität des Dtn.s es nicht vor Widerspruch, Ironisierung und Uminterpretation geschützt habe (Hiob, Ruth).

Irmtraud Fischer "Die Bedeutung der Tora Israels für die Völker nach dem Jesajabuch" (139-168) erarbeitet die Toratheologie des Buches Jesaja, das als Kopfstück der "Hinteren Propheten" in der Systematik des Kanons eine große Rolle spielt. Die Belege von Tora im Jesajabuch sind in Tora für Israel (Jes 1,10; 5,24; 8,16.20; 30,9; 42,21.24; 51,7), Tora für die Völker (2,3; 42,4; 51,4) und Torot für alle Erdenbewohner (24,5) zu systematisieren.

In einem Durchgang durch die verschiedenen Referenztexte stellt F. fest, daß die beiden Stränge der Tora für Israel und Tora für die Völker bereits in Jes 1,10 (mit 2,3.5) eingeführt werden, in der Folge einander dialektisch zugeordnet sind und in 51,1-8 verknüpft werden; Tora kommt als Begriff anschließend nicht mehr vor, wird jedoch durch die in Jes 2,5 eingeführte Lichtmetapher (so mit N. Lohfink) weitergeführt. Aus ihrer Untersuchung der einschlägigen Belege ergibt sich für F., daß Israel die Tora durch Moses erhielt, jedoch den Propheten, deren Wort Bezeugung und Kommentar der Tora war, kein Gehör schenkte; dies änderte sich erst im Exil, so daß das Volk von da an die Tora im Herzen trug, was die notwendige Voraussetzung dafür gewesen sei, daß der Knecht Israel den Völkern seine Tora (als Heil) vermitteln und damit seinen Auftrag an den Völkern erfüllen konnte. Die Tora für die Heiden ist nach F. eng mit der Vorstellung vom Gottesknecht (= Israel) verwoben, der als "Mose für die Völker" [J. Jeremias] (152) agiert und "das Recht der Schwachen als Völker-Recht" (169) promulgiert.

Josef M. Oesch "Die Bedeutung der Tora für Israel nach dem Buch Maleachi" (169-212) untersucht die Toratheologie des Buches Maleachi, das als Abschluß der Nebiim in der Systematik des Kanons von Bedeutung ist. Die von O. gewählte synchron-kontextuelle Textlektüre von Mal dient ihm als Grundlegung der folgenden Untersuchung der Begriffe "Tora" und "Israel" in Mal 2,1-9 (die Tora der Priester) und 3,22-24 (die Tora des Mose und Elija, über deren Umfang sich O. nicht festlegen will).

In 2,1-9 wird die gesamte Verantwortung für die Überlieferung und Vermittlung der Tora in und für Israel den Priestern übertragen, die nun die Boten von Jahwe Zebaot (V. 7) sind; Tora ist hier die göttlich inspirierte Wissens- und Urteilskompetenz, während in 3,22 von der Tora des Mose vom Berg Horeb die Rede ist. O. gliedert das Buch Maleachi (in Übereinstimmung mit der in sieben [als repräsentativ ausgewählten] hebräischen Bibelkodizes überlieferten Gliederung in Petuchot und Setumot) in vier Reden: 1,2-2,9; 2,10-16, 2,17-3,12; 3,13-24. In den drei Jahwereden (Rede 1, 3 und 4) werde aktuelle Tora erteilt, die in autoritativer Weise klare Stellungnahmen vorlege und bewirke. Maleachi, ein von einem fiktiven Erzähler mit priesterlicher Kompetenz ausgestatteter Jahwe-Bote, sei der Mittler dieser Tora, die sich ausschließlich an Israel richte, das mit Jahwe in einem gestörten Verhältnis lebe, während zwischen Jahwe und den Völkern Harmonie herrsche (1,11). Die weitgehende Ausblendung diachroner Fragestellungen (Umfang der Tora in Mal [s. aber 199 f. mit Anm. 53]; Verklammerungen zwischen Mal 3 und Jos 1 [s. nur Anm. 54]; literarkritische Anfragen an Mal 3,22-24 [s. 197 mit Anm.]; Mal 3 als Rahmen, der die Perspektive der Mosetora eigens einführt und die Nebiim der Tora als Kommentierung anschließt; Verbindungen zwischen Mal und Chr) läßt im Hinblick auf die Fragestellung zentrale Probleme offen. Der Rez. vermißte ebenfalls die in der Einleitung (170) versprochene Einordnung der "erhobenen Aussagen in ihren religionsgeschichtlichen Zusammenhang".

Georg Steins "Torabindung und Kanonabschluß. Zur Entstehung und kanonischen Funktion der Chronikbücher" (213-256) vertritt die These, daß die Chr das kanonische Abschlußstück ist, das, den Kanonteil "Propheten" bereits voraussetzend (gegen R. Albertz), den Akt der Kanonisierung der "Schriften" und damit der Schrift insgesamt beendet. Der klar strukturierte Beitrag situiert die Chr in ihrer Vernetzung mit der kanonischen Literatur, bewertet einige Einleitungsfragen neu (Destruktion der These von einem ChrG, Datierung in die frühe Makkabäerzeit) und zeigt wesentliche Aspekte der Torabindung der Chr auf.

"Tora" ist nach S. in der Chr der Pentateuch und der jeweils aktuell mitgeteilte Gotteswille, die Wegweisung, womit sich die Lehre von der doppelten Tora abzeichne. Die Tora präge das Werk inhaltlich wie kompositionell, zentriere seine Hermeneutik wie seine Theologie, wobei sich deutliche Spuren einer "Theorie der Toraauslegung" (240) erkennen ließen. Abschließend führt S. seine These "Die Chronik als kanonisches Abschlußphänomen" aus, die aus seiner gleichnamigen Dissertation bekannt ist. Er zeigt auf, daß in der Chronik der Übergang von der Kanonwerdung zur Kanonisierung greifbar wird. Die Chr "konzipiert Israel aus der Perspektive der Tora in konsequenter Fortführung der Programmatik des Kanonteils ’Propheten’" (246). Durch die Dominanz der Torathematik eröffne die Chr eine torazentrierte Gesamtsicht des Kanons in allen drei Teilen.

Karlheinz Müller "Anmerkungen zum Verhältnis von Tora und Halacha im Frühjudentum" (257-292) beleuchtet die Folgen der Kanonisierung der Tora = Pentateuch im frühen Judentum. Da es sich bei der Endfassung des Pentateuch um eine "gewollte und erzwungene Niederschrift des Dissenses frühjüdischer Gruppierungen aus der Perserzeit" (262) gehandelt habe, konnte sie nach M. die Ordnungen und Regulierung für eine umfassende und gelingende jüdische Lebensgestaltung nicht bieten, so daß eine Instanz neben dem Pentateuch erforderlich war, deren Entscheidungen und Weisungen "kanonischen" Rang besaßen.

So habe sich die Halacha entwickelt, ein Kanon neben dem Kanon, eine weitere Offenbarung, die ebenfalls als "Tora" angesehen wird. Das Verhältnis der Halacha = Tora zur Tora = Pentateuch sei nicht mit Notwendigkeit so bestimmt, daß die Halacha von der Tora so abhängig sei, daß sie sich aus der Tora rechtfertigen oder durch Mittel der methodischen Exegese bzw. Kommentierung mit ihr verknüpft werden müßte. Die Halacha sei nicht nur ein Kommentar oder eine Auslegung des Textes der Tora, sondern die "situationsgebundene[n] Weiterentwicklung von deren Stoffen ­ sei es in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Pentateuchs oder nicht" (265). Auf der Grundlage der Überzeugung von der grundsätzlichen und umfassenden Tora-analogen Strukturiertheit aller geschichtlichen Erfahrung, eröffnet sich für die Halacha ein Toleranzrahmen des Tora-Bezugs, der die Autorität der Tora voraussetzt, während ihr Wortlaut (ohne exegetische Begründungen) zugunsten seiner allein analogiefähigen halachischen Stoffe in den Hintergrund gedrängt werden kann.

Heinz-Josef Fabry "Der Umgang mit der kanonisierten Tora in Qumran" (293-328) eröffnet seinen Beitrag mit einem instruktiven forschungsgeschichtlichen Abriß, der in verschiedene Positionen (O. Betz, J. M. Baumgarten, I. H. Eybers, L. H. Schiffman, G. J. Brooke, H. Stegemann, J. Maier, S. Talmon) zur Frage nach Tora und Kanon in Qumran einführt. Anschließend sucht F. nach Kriterien und Argumenten, um die Begriffe Kanon und Kanonizität (die als Termini in Qumran nicht bekannt sind) in Abgrenzung zu "Textautorität" zu bestimmen; sein Abklopfen des Verschriftungs-, Traditions-, Häufigkeits-, Zitations- und des Kommentararguments ergibt in der Zusammenschau nach F. einen Q-Kanon, der den "rabbinisch-jüdischen Kanon an Umfang erheblich überschritt" (312), in seiner genauen Abgrenzung jedoch nicht feststellbar sei.

Anders als "Kanon" ist der Terminus "Tora" in Qumran belegt und bezeichnet (1.) den Pentateuch, von dem es mehrere Textfassungen gab und (2.) den Pentateuch plus zusätzliche Materialien. Weiterhin verstehe sich die (3.) Tempelrolle selbst als Tora, und man glaubte an (4.) die "verborgene" Tora. Weniger wahrscheinlich ist nach F. die Einordnung (5.) des Buches HGW sowie (6.) des Jubiläenbuches als Tora. Wesentlich für den Umgang mit der Tora sei der dôres hattôrah gewesen, der die Tora auslegte und bindende Weisungen erließ. Insgesamt zeige das in Qumran entstandene und bewahrte vielschichtige theologische Schrifttum, daß Tora und Kanon in Qumran keinesfalls das Aus für jede weitere Offenbarung, sondern den lebendigen Umgang mit Schrift und Geist bedeuteten. Das Bestreben, in Qumran Textautorität von Textkanonizität zu unterscheiden, konnte die Rezn. kaum überzeugen, da die Rückprojektion des Begriffes "Kanon" wenig ergiebig erscheint.

Günter Stemberger "Zum Verständnis der Tora im rabbinischen Judentum" (329-344). Tora ist für die Rabbinen "göttliche Weisung" und ihre dialektisch geprägte Toratheologie läßt sich mit S. am ehesten in Form von Antithesen zusammenfassen: 1. Die Tora ist genau umgrenzt und doch unendlich; sie umfaßt den Pentateuch, aber auch den gesamten Tenakh, sowie die Bibelauslegung, die mündliche Tora. 2. Die Tora ist präexistent und doch in der Geschichte gegeben. 3. Die Tora ist Weltgesetz und doch nur Israel verliehen. 4. Die Tora ist vom Himmel und doch in menschlicher Sprache. 5. Die Tora ist auf einmal und doch stufenweise geoffenbart.

Gerhard Dautzenberg "Jesus und die Tora" (345-378) stellt in den Q- und Markus-Traditionen über Jesu Stellung zum Sabbat, zu Speisegeboten, Reinheitsfragen und Ehescheidung fest, daß ihnen grundsätzlich eine positive Grundeinstellung zur Tora, Halacha und deren Recht zu Weiterentwicklungen (und damit ein Ansatz innerhalb des frühjüdischen Gesetzesverständnisses) gemeinsam ist; bei Mk sei allerdings eine Entfernung von der palästinischen Diskussion um Sabbat und Speisegesetze und zunehmend eine polemische Gegenüberstellung pharisäischer und christlicher Positionen zu bemerken.

Gesetzeskritische Spitzen seien den frühen Jesustraditionen nicht zuzuschreiben, sondern entwickelten sich erst im Verlauf der Profilierung einer hellenistischen Jesustradition. Jesus selbst habe an der Geltung der ganzen Tora festgehalten; der von ihm und den Jüngern praktizierte Toragehorsam steht für D. im Kontext der Naherwartung des Reiches Gottes. Als motivierender Rahmen von Jesu Ethik und Toraverständnis wäre nach Meinung der Rez. auch die Weisheit zu bedenken.

Hubert Frankemölle "Die Tora Gottes für Israel, die Jünger Jesu und die Völker nach dem Matthäusevangelium" (379-419) beleuchtet die Aussagen des MtEv zur Bedeutung der kanonisch vorgegebenen Tora für Israel, die Jünger Jesu und die Völker. Die von F. gewählte Methode der synchronen Lektüre ergibt eine Differenzierung der Tora in die für Israel am Sinai offenbarte Mose-Tora, die durch die Propheten und in der Halacha jeweils aktualisiert wird, und "die für die Jünger Jesu in Jesus Immanuel aktualisierte Tora Gottes" (395), wobei Jesus nicht als neuer Moses eine neue Tora geschenkt, sondern die alte in eigener Vollmacht interpretiert habe.

Die von ihm verkündete Tora ist unbedingter Wille Gottes und als solcher maßgeblich für seine Jünger, Juden und Heiden. Bedingt durch die Ausdehnung der Zeit findet sich nach F. in Mt 25,31-46; 8,5-13; 9,18 f.23-26; 15,21-28 neben der universalen Gültigkeit der Tora als gnädige Willensoffenbarung Gottes in der Aktualisierung Jesu Immanuel für die Völker ein weiterer Heilsweg, der nicht an die Tora gebunden ist, sondern im universalen Heilswillen Gottes gründet. Jahwe ist Gott Israels und der Völker, Jesu Sendung richtet sich an Israel wie an die Heiden, so daß sich auch im MtEv das spannungsvolle Nebeneinander von Universalismus und Partikularismus findet.

Der Rezn. fiel auf, daß wiederholt auf alttestamentliche Texte Modelle appliziert wurden, die für die Interpretation moderner Literatur entwickelt worden waren (C. Kahrmann/G. Reiß/M. Schluchter; M. Pfister), ohne daß die Anwendungsfähigkeit dieser Modelle grundsätzlich diskutiert oder plausibel gemacht worden wäre. Betrachtet man das Werk im ganzen, so eröffnet es die Spannweite der schriftlichen und mündlichen Tora, die in allen ihren Formen im Willen Gottes gründet. Es führt die verschiedenen Variationen des Kanonbewußtseins vor Augen, das bereits innerbiblisch von Dynamik und Kreativität geprägt ist und auch Kritik, Widerspruch, Ironisierung und Uminterpretation beinhalten kann. Eindrucksvoll entfalten die Einzelbeiträge die Produktivität der Kanonisierung der Tora, die nicht das Ende für jede weitere Offenbarung, sondern der Beginn des lebendigen Umgangs mit Schrift und Geist war. So leistet der vorliegende Band einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer christlichen Toratheologie, die nicht in Konkurrenz zur jüdischen Toratheologie, sondern im konstruktiven Dialog mit ihr steht.