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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

31 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1996. 255 S. 8° = Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie in der DGS, 1. ISBN 3-579-02610-0.

Rezensent:

Hans-Joachim Höhn

Daß die Moderne von Mythos und Religion einmal ganz loskommen könnte, gehört zu den modernen Illusionen, von denen sie loskommen muß. Sie muß sich auf eine bleibende Koexistenz mit diesen Größen einrichten. Diese Koexistenz bedingt allerdings auch, daß die Entwicklungen, welche Verlaufsform und Sozialgestalt der Moderne bestimmen, ihrerseits nicht hintergehbar sind bei dem Versuch, Funktion und Ort des Religiösen zu bestimmen. Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung sind jene Kategorien, ohne die eine zeit- und sachgemäße Sondierung des religiösen Sektors einer Gesellschaft nicht auskommt. Zwar ist nicht zu verkennen, daß große Teile kirchlich gebundener Religiosität "liquidiert" werden, d.h. sich verflüssigen und verdunsten. Gleichwohl kondensiert ein großer Teil auch wieder in der Gesellschaft ­ wenn auch in den nicht-religiösen Segmenten der Kultur und in erheblicher Streuungsbreite.

Das Spektrum einer "Religion im Plural" reicht von synkretistischen Mythologien über esoterische Lebensstilszenarios bis hin zu fundamentalistischen Kleinaktionären von Christentum und Islam. Es umfaßt religiös getarnte Psychokonzerne à la Scientology ebenso wie die Anhängerschaft von Geistheilern. Und bei Gelegenheit ­ wenn etwa über die Beibehaltung der "invocatio Dei" in der Präambel des Grundgesetzes gestritten wird oder ein "Kruzifixurteil" als Angriff auf die kulturelle und geschichtliche Identität weiter Bevölkerungskreise erscheint ­ werden auch die "zivilreligiösen" Bestände der modernen Kultur einer größeren Öffentlichkeit wieder bewußt. Fündig wird eine religiöse Spurensuche schließlich in nahezu allen Bereichen medialer Kommunikation, wo religiöse Motive "umcodiert", für nicht-religiöse Zwecke eingesetzt werden (z. B. in der Werbung und im Marketing) und mythische Stoffe säkulare "updates" erhalten. Das Religiöse ist in unterschiedlichen Konfigurationen und Konstellationen an verschiedenen Orten kulturell antreffbar mit jeweils unterschiedlicher sozialer Signifikanz: Die individualisierte und privatisierte Religiosität ist zwar lebensweltlich verankert und kann aufgrund ihrer Biographienähe normierende, sinn- und identitätsstiftende Funktionen wahrnehmen. Sie bleibt aber weit entfernt von jedem prägenden Einfluß auf die sozialstrukturell relevanten ’großen’ politischen und wirtschaftlichen Institutionen. Ihr stehen die Formen einer hochgradig institutionalisierten Religiosität gegenüber ("Amtskirche"), die zwar an Alltagsrelevanz verlieren, deren Vertreter aber darum wissen, daß eine sozialstrukturelle Bedeutung für Religion als "Kulturfaktor", als politische Größe, nur über organisatorisch generalisierte Zusammenhänge der Selbstdarstellung und Einflußnahme möglich ist.

Vor diesem Hintergrund verdient der vorliegende Band Aufmerksamkeit, der eine Tagung der 1995 in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie neu- bzw. wiedererrichteten Sektion Religionsoziologie dokumentiert. Er spiegelt zum einen das Bemühen um die Gewinnung einer angemessenen theoretischen Perspektive für den religionssoziologischen Blick auf die Gegenwartsgesellschaft. Zum anderen enthält er qualitativ-empirische Studien, in denen es um die Biographie und um (Klein-) Gruppenprozesse als Ort und Bezugspunkt von Religion geht. Bezogen auf die Theorietradition der Religionssoziologie läßt sich der I. Teil des Buches (mit Beiträgen von Th. Luckmann, U. Oevermann, A. Nassehi, D. Pollack und K.-F. Daiber) als kontroverse Überprüfung der "Säkularisierungsthese" lesen, mit der über Jahrzehnte hinweg das neuzeitliche Verhältnis von Religion und Kultur auf den Begriff gebracht wurde. Zunehmend wird die Plausibilitätsgrenze dieses Theorems deutlich. Das gleichzeitige Vergehen und Neuentstehen von Religion in der späten Moderne, die De-Institutionalisierung und Pluralisierung religiöser Sinnsysteme kann mit der Säkularisierungsthese nicht mehr zureichend erklärt werden.

Aussichtsreicher und heuristisch fruchtbarer scheint es, diese Phänomene vor dem Hintergrund einer sozio-strukturell verankerten Individualisierung zu betrachten. Sie stehen in engem Zusammenhang mit jenen funktionalen Voraussetzungen und Mobilitätsanforderungen, die mit einer hochgradig arbeitsteiligen und funktional differenzierten Gesellschaft korrelieren (vgl. auch den Schlußbeitrag von M. Krüggeler). Teil II ("Religiöse Individualisierung und Biographisierung") und Teil III ("Religiöse Sinnstiftung im Kontext von Gruppenprozessen") des Buches versammeln thematisch breit gestreute Feld- und Fallstudien zu religiös konnotierten Prozessen der Identitätsvergewisserung von Gruppen und Individuen. Das Spektrum reicht von Annäherungen an die spezifische Religiosität von "kirchentreuen Kirchenfernen" (P. Zimmermann), über die Sondierung der Funktion religiöser Deutungsmuster in der Adoleszenz (A. Schöll) und in Managerbiographien (K. Hartmann) bis hin zur Rekonstruktion christlich-islamischer Konversionsprozesse (M. Wohlrab-Sahr), über die Bestimmung ethisch-religiöser Deutungsmuster bei christlichen Dritte-Welt-Gruppen (K. Gabriel/ M. Treber) bis zur Evaluation "religioider" Anteile im Denken von Umweltschützern (G. B. Christmann). Bemerkenswert ist hier neben einer Fülle von Detailinformationen unter forschungsmethodischer Rücksicht die Leistungsfähigkeit einer rekonstruktiv verfahrenden qualitativen Religionssoziologie im Gegenüber zur Dominanz massenstatistisch-quantitativer Sozialforschung.

Der besondere Wert dieser Publikation besteht darum auch in der Doppelperspektive theorieorientierter Diskurse und empirienaher Forschungsberichte. Ihr werden hoffentlich bald weitere Veröffentlichungen ähnlichen Zuschnitts folgen, die auch dem theologisch motivierten Interesse entgegenkommen, mehr über den Ort und die Bedeutung des religiösen Faktors im Prozeß der fortschreitenden Modernisierung der Gesellschaft zu erfahren.