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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

23–27

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Nicolaisen, Carsten]

Titel/Untertitel:

... und über Barmen hinaus. Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Hrsg. von J. Mehlhausen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 642 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, 23. Geb. DM 158,­. ISBN 3-525-55723-X.

Rezensent:

Markus Huttner

Als langjähriger Geschäftsführer der "Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte" gehört Carsten Nicolaisen seit drei Jahrzehnten zu denjenigen Wissenschaftlern, die die Entwicklung und die Konturen der noch jungen Disziplin "kirchliche Zeitgeschichte" maßgeblich mitgeprägt haben. Die opulente Festschrift, die Nicolaisen anläßlich seines 60. Geburtstags gewidmet wurde, zeugt denn auch von der Anerkennung, die sein wissenschaftliches Werk und sein wissenschaftsorganisatorisches Wirken über den engeren Kreis der im Bereich der protestantischen Zeitgeschichtsforschung tätigen Fachkollegen hinaus gefunden haben. Die Themen- und Methodenvielfalt der 37 Beiträge des Bandes dokumentiert eindringlich, wie weit der "Pluralismus der Lesarten" (J. Mehlhausen nach J. Habermas) innerhalb der kirchlichen Zeitgeschichte in Deutschland mittlerweile realisiert ist.

Der Band wird durch zwei Beiträge eröffnet und abgeschlossen, die sich mit den das Verhältnis von Politik und Religion thematisierenden theoretischen Begriffen und Deutungskonzepten "politische Theologie", "politische Religion" und "Zivilreligion" befassen. Beachtung verdient hier vor allem der Aufsatz von Ernst Feil, der einen sehr aufschlußreichen Beleg für die noch weitgehend im dunkeln liegende Vorgeschichte des seit den späten 1930er Jahren zur Kennzeichnung moderner ideologischer Massenbewegungen benutzten Begriffs der "politischen Religion" vorstellt. Allerdings überfordert Feil den begriffsgeschichtlichen Ansatz, wenn er die wohl von den Verhältnissen des konfessionsnormierenden Territorialstaates her zu interpretierende Abhandlung des Helmstedter Juristen Daniel Clasen von 1681 direkt für eine systematische Kritik an modernen Tendenzen zur politischen Instrumentalisierung von Religion fruchtbar zu machen sucht. ­ Die folgenden Beiträge spüren konkreten Ausprägungen des Verhältnisses von Politik und Religion in der deutschen Geschichte des 20. Jh.s nach.

Die biographische Daten- und Materialsammlung von Heinz Boberach zur Rolle evangelischer Theologen in deutschen Parlamenten von 1848 bis 1990 verdeutlicht die Fruchtbarkeit von epochenübergreifenden strukturgeschichtlichen Frageansätzen. In Anbetracht des vielbeschworenen Bündnisses von Thron und Altar mag es überraschen, daß die Mehrzahl der in die Reichstage des Deutschen Kaiserreichs gewählten evangelischen Pfarrer linksliberale Parteien vertrat. Am grundsätzlichsten kommen die politischen Implikationen kirchlichen Handelns in der Betrachtung von Jonathan R. C. Wright zum Weg des deutschen Protestantismus im 20. Jh. zur Sprache. Dem Oxforder Historiker ist es vor allem um die Spannungen zwischen religiös-theologischen Orientierungsgrundsätzen und politischen Optionen zu tun. Ohne die dem barthianischen Denken innewohnende Tendenz zur "Einebnung aller politischen Maßstäbe und Kriterien" (A. Schwan) zu verkennen, hält er das von Karl Barth 1946 entwickelte Denkmodell zweier konzentrischer Kreise für einen plausiblen Vorschlag zur Abgrenzung von kirchlicher und staatlicher Sphäre, mit Hilfe dessen sich eine grundsätzliche Option des Christen und der Kirche für Demokratie und Rechtsstaat begründen lasse. Thematisch daran anknüpfend beschäftigt sich Herbert Anzinger mit dem schon häufig behandelten Standort Karl Barths gegenüber der jungen Weimarer Demokratie. Nach Ansicht Anzingers lassen Barths Äußerungen kaum einen Zweifel daran, daß der Schweizer Theologe ungeachtet der von ihm immer schärfer gezogenen Trennlinie zwischen Gottesreich und weltlich-politischen Bestrebungen auch in der Frühphase der Weimarer Republik für eine sozialstaatlich ausgestaltete parlamentarische Demokratie optiert habe.

Einen im Gesamtkontext des Weimarer Protestantismus eher marginalen, in seinen Langzeitwirkungen jedoch nicht zu unterschätzenden Syntheseversuch von Politik und Religion analysiert Kurt Nowak in seinem Beitrag "Religiöser Sozialismus in der Weimarer Republik", der die Heterogenität dieser Bewegung unter anderem anhand der sehr unterschiedlichen genealogischen Selbstdeutungen herausarbeitet. Einen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches weithin aus dem historischen Gedächtnis getilgten Winkel der Religionsgeschichte der Weimarer Zeit leuchtet Eva-Maria Zehrer in ihrem Porträt des 1927 von seinem Amt als thüringischer NSDAP-Gauleiter entfernten und im Folgejahr aus der NSDAP ausgeschlossenen völkischen Religionsstifters Arthur Dinter aus. Es geht der Autorin nicht so sehr um die seit längerem bekannte Bedeutung des "Falles Dinter" für die Durchsetzung von Hitlers religionspolitischem Kurs innerhalb der NSDAP, als vielmehr um die abstruse Gedankenwelt des von Dinter in mehreren programmatischen Schriften entwickelten völkisch-spiritistischen "Geistchristentums".

Die thematische Ausrichtung der in die Festschrift aufgenommenen Studien läßt erkennen, in welchem Maße sich das Interesse der um die "Evangelische Arbeitsgemeinschaft" gruppierten Zeitgeschichtsforschung nach wie vor auf die Zeit des Nationalsozialismus konzentriert.

Der Überblick von Hans Maier zur Kernfrage nach der Widerstandsleistung der christlichen Kirchen und deren Verhältnis zum im engeren Sinne politischen Widerstand stellt einmal mehr die vielfach erprobte Fähigkeit des Autors zur typologisierend-einprägsamen Bilanzierung komplexer Forschungszusammenhänge unter Beweis. Im Rahmen einer Einführung in die Quellenkritik und die Auswertungsprobleme der bekenntniskirchlichen Fürbittenlisten untersucht Gertraud Grünzinger das Vorhandensein und die Verbreitung von Formen "widerständigen Verhaltens" innerhalb des Protestantismus. Eine ganze Reihe weiterer Beiträge demonstriert, daß es auch innerhalb vielbehandelter Themenfelder noch "wissenschaftliches Neuland" zu erschließen gibt. So rekonstruiert Hannelore Braun in ihrer Studie über die Entstehung und Bedeutung der "Lüneburger Konferenz", eines seit 1935 mehrfach zusammengetretenen Gremiums aus Bruderräten der niederdeutsch-lutherischen Landeskirchen, ein bislang kaum bekanntes Kapitel der Institutionengeschichte des protestantischen Kirchenkampfes. Siegfried Bräuer erweitert unsere Kenntnisse über den Standort der evangelischen Theologie im Jahr der "Machtergreifung" mit einer Studie über den aus der Schule Karl Holls kommenden jungen Tübinger Kirchenhistoriker Hanns Rückert. Und Thomas M. Schneiders Untersuchung der Kontakte Friedrich von Bodelschwinghs zum Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten beleuchtet einen bislang unbekannten Aspekt der Kirchenpolitik und der Staat-Kirche-Beziehungen im Dritten Reich.

Ebenso wie die beiden zuletzt genannten Beiträge ist die Mehrzahl der in dem Band versammelten Studien zur nationalsozialistischen Zeit biographisch angelegt.

Der spezifische Erkenntniswert dieses Ansatzes tritt in dem einfühlsamen Porträt des Landesbischofs Marahrens von Inge Mager am deutlichsten hervor, das den maßgeblichen Einfluß dieses Kirchenführers auf Stellung und Kurs der hannoverschen Landeskirche im Kirchenkampf herausarbeitet. Björn Mensings Skizze zum Wirken eines dem bruderrätlichen Flügel der Bekennenden Kirche zuneigenden Vikars im oberbayerischen Gauting zeigt, zu welch verwirrenden Konstellationen lokale Ausprägungen der Frontlinien des reichsweiten Kirchenkampfes führen konnten. Ein klassisches Thema der katholischen Kirchengeschichte im Dritten Reich behandeln Petra Ritter-Müller und Armin Wouters in ihrem Beitrag über die Adventspredigten Kardinal Faulhabers. Plausibel ist der darin aufgezeigte Zusammenhang zwischen dem bibelwissenschaftlichen und exegetischen Traditionalismus des Münchener Kardinals und seinem vielbeachteten Eintreten für den Wert des Alten Testaments am Ende des Machtergreifungsjahres. Korrekturbedürftig ist dagegen die abschließende Behauptung, Faulhaber habe mit den Adventspredigten "seinen Versuch der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten" abgebrochen und die führende Rolle "im weltanschaulichen Kampf" anderen katholischen Bischöfen überlassen (252). Vielmehr galt der Münchener Kardinal wegen der Wirkkraft seiner Predigten vielen ausländischen Beobachtern zumindest bis 1939 als der bei weitem profilierteste Vertreter der katholischen Sache im Dritten Reich.

Die Beiträge von Ursula Büttner und Herbert Immenkötter demonstrieren, wie sich die Darstellung bewegender Einzelschicksale mit der Analyse allgemeinerer Aspekte der NS-Judenpolitik verknüpfen läßt.

Büttner rückt den relativ bekannten Leidensweg der in den Freitod getriebenen Familie des Schriftstellers Jochen Klepper in den erst in jüngster Zeit intensiver erforschten Kontext der Entrechtung jüdisch-christlicher "Mischfamilien" im Dritten Reich. Und Immenkötter rekonstruiert ein in den Akten der katholischen Heil- und Pflegeanstalt Ursberg dokumentiertes Schicksal eines jüdischen Heimbewohners, um daran die vielen ungeklärten Fragen in bezug auf die systematische Ermordung jüdischer Behinderter, die 1940 den Massenmorden im Rahmen der allgemeinen "Euthanasie" vorausging, aufzuzeigen. Am Ende dieser Serie von Beiträgen stehen zwei Arbeiten, die ihren Blick über Deutschland hinaus auf die internationale Dimension des Kirchenkampfgeschehens richten. Jens Holger Schjörring geht es um Auswirkungen des Kirchenkampfes auf theologische Entwicklungen und die konfessionelle Identitätsfindung innerhalb des nordisch-skandinavischen Luthertums. Martin Greschats "Anmerkungen zum deutschen Protestantismus in Polen in der Zeit des Nationalsozialismus" führen vor Augen, wie wenig sich Kirchengemeinschaften und Kirchenleitungen gerade in Gebieten mit ungelösten Nationalitätenproblemen der mentalitäts- und verhaltensbestimmenden Prägekraft des Nationalen entziehen können.

Die Beiträge zur Zeit nach 1945 spiegeln in exemplarischer Weise Schwerpunkte wie Defizite der deutschen Protestantismusforschung wider. Zunächst einmal fällt auf, daß sich die Studien zum Weg des Protestantismus nach 1945 nahezu ausschließlich mit den unmittelbaren Nachkriegsjahren befassen. Dagegen fehlen Untersuchungen zur Stellung der evangelischen Kirche in der westdeutschen Bundesrepublik, sieht man von der von Ulrich Bayer mitgeteilten Episode über einen 1953 durch Intervention von Bonner Regierungsbeamten verhinderten Auftritt Carl Schmitts vor der Evangelischen Akademie Bad Herrenalb einmal ab. Ebenso bezeichnend erscheint die augenfällige Konzentration auf institutionen- oder theologiegeschichtliche Aspekte des deutschen Nachkriegsprotestantismus. Einen klar erkennbaren Forschungsschwerpunkt bildet die institutionelle Neuordnung der die Landeskirchen übergreifenden Zusammenschlüsse nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft, die gleich in zwei Beiträgen behandelt wird.

Nora Andrea Schulze beleuchtet die bei der Übernahme der Kirchenkanzlei durch den neugebildeten Rat der EKD aufgetretenen Spannungen zwischen dem für ein höheres Maß an personeller Kontinuität eintretenden "konsistorialen Praktiker" Heinz Brunotte und den einen völligen Neuanfang einfordernden bruderrätlichen Bekenntniskreisen ­ Differenzen, die aus dem unklaren Rechtsverhältnis der EKD zu ihrer Vorgängerinstitution erwuchsen. Wolf-Dieter Hauschild zeichnet die parallel und in Konkurrenz zur Neuordnung des gesamtprotestantischen Zusammenschlusses verfolgten Bemühungen um Gründung einer lutherischen Einheitskirche in Deutschland nach, die 1948 zur Kompromißlösung der den Gliedkirchen ihre Selbständigkeit belassenden VELKD führten.

Der Beitrag von Joachim Mehlhausen zu einem weiteren klassischen Themenschwerpunkt der kirchlichen Zeitgeschichte, dem Problemfeld "kirchliche Verstrickung und Schuldbekenntnis", demonstriert die spezifischen Erkenntnischancen der in der historischen Protestantismusforschung nicht selten anzutreffenden Verknüpfung von theologischer und geschichtswissenschaftlicher Fragestellung. Mehlhausen fragt nach den Wahrnehmungsbedingungen für konkrete Schuld von Christen und Kirchen in der Geschichte und arbeitet anhand verschiedener früher Stellungnahmen zur Schuldfrage nach 1945 das Wechselverhältnis von präziser Geschichtskenntnis, a priori vorgegebener theologischer Geschichtsdeutung und Schuldeinsicht heraus.

Friedrich Wilhelm Graf erinnert an das weithin ausgeblendete Fortwirken der liberalprotestantischen Kulturtheologie über die durch das Auftreten der dialektischen Theologie markierte "Wende" von 1918/19 bis in die Zeit nach 1945 hinein. Eine in diesem Zusammenhang erstmals publizierte Denkschrift des Marburger Systematikers Theodor Siegfried aus dem Jahre 1946 zeigt, welche Chancen und Wirkungsmöglichkeiten ein Repräsentant dieser Theologietradition in der nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft entstandenen kirchlich-religiösen Lage sah.

Wesentlich näher an die Gegenwart heran führen die Beiträge zum jüngsten Arbeitsschwerpunkt der kirchlichen Zeitgeschichte, der Rolle der Kirchen in der einstigen DDR. Erhellend ist hier die von Trutz Rendtorff beigesteuerte kritische Analyse jener sozialethischen Orientierungsgrundsätze, auf denen die mit der Formel "Kirche im Sozialismus" zum Ausdruck gebrachte Annäherung der evangelischen Kirchen in der DDR an den real existierenden Sozialismus beruhte. Den "Thüringer Weg" zur "Kirche im Sozialismus" beleuchtet der Beitrag von Clemens Vollnhals, der die jahrzehntelange IM-Tätigkeit des thüringischen Oberkirchenrats Lotz, einen der folgenreichsten Fälle für die Infiltration kirchlicher Leitungsstrukturen, nachzeichnet.

Betrachtet man diesen reichhaltigen Sammelband, an dem eigentlich nur die zahlreichen Druckfehler zu bemängeln sind, als einen repräsentativen Querschnitt durch die innerhalb der kirchlichen Zeitgeschichte verfolgten Forschungsvorhaben und Frageansätze, so wird deutlich, wie weit sich diese Disziplin mittlerweile von ihrer ursprünglichen Neigung zu "theologisierender" Betrachtung ihres Gegenstandes gelöst hat. Andererseits ist unverkennbar, daß nach wie vor institutionengeschichtliche, theologie- und ideengeschichtliche sowie biographische Zugriffsweisen dominieren, mit deren Hilfe binnenkirchliche Vorgänge und Phänomene sowie der Standort der Kirchen innerhalb der durch die politische Ereignisgeschichte vorgegebenen Entwicklungen erschlossen werden. Demgegenüber hat die immer wieder propagierte Erweiterung der kirchlichen Zeitgeschichte zu einer umfassend verstandenen Sozial- und Kulturgeschichte christlicher Religiosität, die die anhaltende Durchdringung moderner Gesellschaften mit kirchlich-konfessionellen Elementen in den Blick nimmt, noch kaum Spuren im vorliegenden Band hinterlassen. Und eine konfessionsübergreifende "Christentumsgeschichte", die das Mit- oder Nebeneinander der großen Konfessionsrichtungen zu neuen Erklärungsperspektiven verdichten würde, ist hier nicht einmal ansatzweise erkennbar ­ ein Befund, der nicht als Kritik an dem Band verstanden werden muß, sondern der darauf hindeutet, daß sich die programmatische Methodendiskussion in diesem Punkt von der Realität kirchen- und konfessionsgeschichtlicher Detailforschung entfernt hat.