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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

430–432

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kobusch, Theo, u. Burkhard Mojsisch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Platonismus.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997. VII, 311 S. 8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-534-12956-3.

Rezensent:

Christoph Strohm

Die 16 abgedruckten Beiträge, ursprünglich im Rahmen einer Ringvorlesung im Sommersemester 1995 an der Ruhr-Universität in Bochum vorgetragen, erörtern ein sowohl zeitlich als auch sachlich ausgesprochen breites Spektrum der Wirkungsgeschichte Platons.

Der erste Beitrag von John M. Dillon über "Die Entwicklung des Mittelplatonismus (15-32) zeigt die Veränderungen, die Platons Philosophie vor allem im Zuge einer verstärkten Systematisierung erfährt. Platonisches Gedankengut wurde mit der pythagoreischen Tradition verbunden, worin Dillon den Ursprung der späteren "neupythagoreischen Bewegung" sieht (vgl. 21). Als ein geschlossenes System kann aber erst Plotins Philosophie über das Gute, den Geist und die Seele im 3. Jh. angesehen werden. Dominic J. O’Meara zeigt in seinem Beitrag über "Das Böse bei Plotin" (33-47), daß hier dem Bösen der Charakter der metaphysischen Notwendigkeit und damit eine konstitutive Rolle im System des Neuplatonismus zukommt. Drei Beiträge widmen sich der für die Zeit der Alten Kirche charakteristischen Verbindung platonischen Denkens mit dem Christentum. Anthony Meredith arbeitet dies exemplarisch am Thema "Licht und Finsternis bei Origenes und Gregor von Nyssa" (48-59) heraus. Im Westen kommt insbesondere Augustin die Bedeutung zu, platonisches bzw. neuplatonisches Gedankengut für die Formulierung der christlichen Lehre fruchtbar gemacht zu haben. Wilhelm Geerlings stellt in seinem Beitrag "Libri Platonicorum. Die philosophische Bildung Augustins" (60-70) drei zentrale Themen christlicher Lehre dar, die von Augustin im Licht platonischer Metaphysik behandelt werden: die Frage nach dem Glück bzw. nach dem Bösen, die Prädestinationslehre und die Lehre vom Willen. "Die drei genannten Problemkreise bilden - soweit es möglich ist - die systematische Struktur des Augustinismus" (70). Der dritte Beitrag zur Platon-Rezeption in der Alten Kirche des Ostens und Westens widmet sich Dionysios Pseudo-Areopagites (71-100). Werner Beierwaltes konzentriert sich auf den prägenden Einfluß der neuplatonischen und insbesondere der proklischen Philosophie auf das pseud-areopagitische Schrifttum.

Die folgenden Beiträge zeigen dessen zentrale Rolle bei der Tradierung des Neuplatonismus im Mittelalter. Es werden zahlreiche Hinweise und Belege präsentiert, die dafür sprechen, die fortwirkende Bedeutung des Platonismus angesichts des aufsteigenden Aristotelismus nicht zu unterschätzen. So weist John Marenbon in seinem Beitrag über "Platonismus im 12. Jahrhundert" (101-119) nach, daß der ältere Abaelard seit seinem Eintritt in das Kloster von St. Denis im Jahre 1117 intensiv Platon studiert und in sein schriftstellerisches Wirken aufgenommen hat (vgl. 107-109). Besonders zu erwähnen sind auch Marenbons Hinweise auf eine anonyme Abhandlung aus dem 12. Jh. über Gott, die Engel und den Menschen (Incipit "Archiformis theologia"), die das klassische Problem erörtert, wie die Vielheit der Ideen im Geiste Gottes mit seiner Einfachheit zu vereinbaren sei. Carlos Steel erläutert "Das neue Interesse für den Platonismus am Ende des 13. Jahrhunderts" (120-133). Nach Steels Auffassung muß die Bewertung Petrarcas als des ersten Autors, der ein neues Verhältnis gegenüber Platon zum Ausdruck gebracht habe, differenziert werden. Im 15. Jh. erfährt der Platonismus in Gestalt des Nikolaus von Kues eine umfassende Rezeption. Burkhard Mojsisch zeigt in seinem Beitrag "Platonisches und Platonistisches in der Philosophie des Nikolaus von Kues" exemplarisch auf, daß in der Philosophie des Cusaners ursprünglich platonische Elemente mit typisch neuplatonischen zu einem Ganzen gestaltet werden (134-141). "Dabei hat die Theorie von der übergegensätzlichen Einheit, deren Entwicklung in den Werken nachgewiesen wird, den Rang eines Leitmotivs, dem der Cusaner bis in die späten Schriften gefolgt ist" (6). Mit dem Thema "Marsilio Ficino und der Platonismus der Renaissance" (142-154) ist ein weiterer Knotenpunkt der Rezeption des platonischen Denkens erreicht. Edward P. Mahoney versucht zu zeigen, "daß es ein Fehler ist, Ficino primär oder hauptsächlich als Ausleger von Platon und der platonischen Tradition darzustellen" (142). Vielmehr müsse er als eigenständiger Autor einer "theologia Platonica" gewürdigt werden. Wichtig sei für Ficino zum einen die Vorstellung einer metaphysischen Hierarchie und der Gebrauch räumlicher Sprache gewesen, sodann die Theorie der angeborenen Ideen und schließlich die Frage der moralischen Basis des politischen Lebens.

Die restlichen Beiträge des Bandes erörtern lediglich vereinzelte Sachverhalte der Platon-Rezeption in den noch ausstehenden fünf Jahrhunderten abendländischer Geistesgeschichte. Dem 16. Jh. ist kein einziger Beitrag gewidmet, aus dem gesamten 17. Jh. erfahren nur die sogenannten Cambridge-Platoniker der 2. Jahrhunderthälfte eine Würdigung (155-169). Graham A. J. Rogers setzt sich hier mit der verbreiteten Auffassung auseinander, daß dieses Phänomen der Frühaufklärung im Kontext einer verstärkten Säkularisierung zu verstehen sei. Die Cambridge-Platoniker hätten versucht, das neue Wissen mit der als bedroht angesehenen Religion zu vermitteln. Platons Philosophie wurde "als ein System angesehen, dessen Ontologie und Metaphysik stark genug waren, um die wachsende Bedrohung der Religion durch den Mechanismus und Materialismus des modernen Zeitalters abzuwenden" (158). Als zwei weitere, auch für die Platon-Rezeption im 19. Jh. wichtige Stationen werden die Philosophie des friesischen Niederländers Frans Hemsterhuis (1721-1790) und Friedrich Heinrich Jacobis beschrieben. In Marcel F. Frescos Beitrag über Hemsterhuis (170-182) wird einmal mehr deutlich, daß wohl jede Platonrenaissance grösseren Ausmaßes einen oder mehrere Dialoge zum Fundament ihrer Auslegung gemacht hat. Im Falle Hemsterhuis’ sind hier das Symposion und der Phaidros zu nennen. So gerät wie auch bei anderen Autoren des 18. Jh.s der Liebesbegriff in das Zentrum der Philosophie. Die Hochschätzung dieser beiden Dialoge findet sich dann ebenfalls bei Schlegel und Schleiermacher. Bei der unterschiedliche Auffassungen von der Dialogizität philosophischer Aussagen arbeitet Theo Kobusch heraus (210-225: "Die dialogische Philosophie Platons nach Schlegel, Schleiermacher und Solger"). Das dialogische Platon-Verständnis stößt auf die scharfe Kritik Hegels. Denn hier komme nicht mehr zum Ausdruck, daß Platon der Begründer der wahren spekulativen Dialektik ist, nach der das Absolute als die höhere Einheit des Entgegengesetzten zu verstehen sei (vgl. 214-216 u. 9). Der Platon-Rezeption Hegels hat Jens Halfwassen einen eigenen Beitrag gewidmet (193-209). In seinen Überlegungen "Zur Platondeutung Hegels und Schellings am Beispiel ihrer Deutung des Timaios" betont Halfwassen, daß Hegel nicht nur den platonischen Parmenides hochgeschätzt hat, da hier die Lehre von der wahren Dialektik vorweggenommen sei. Hegel hat wie Schelling auch den Timaios in den Dienst der idealistischen Metaphysik gestellt. Wie vielfältig die Aufnahme platonischen Gedankenguts in der Philosophie des 19. und des beginnenden 20. Jh.s gewesen ist, wird deutlich, wenn man den Beitrag Helmut Holzheys über "Platon im Neukantianismus" (226-240) hinzunimmt. Holzhey entfaltet die pointierte These, daß der von Cohen und Natorp entwickelte "Idealismus" weniger auf Kant als vielmehr auf Platon zurückgehe. Den Abschluß des Bandes bilden die Überlegungen Otto Pöggelers zur phänomenologisch-hermeneutischen Interpretation der platonischen Philosophie bei Heidegger und Gadamer (241-254). Danach stellt deren Streit um Platon letztlich eine Auseinandersetzung um das für das zeitgenössische Denken zentrale Problem der Technik dar.

Die in dem Band abgedruckten Beiträge beschreiben exemplarisch die umfassende und komplexe Wirkung platonischen Denkens in der abendländischen Geistesgeschichte. Beklagenswert ist, daß die Platon-Rezeption im 16. Jh. überhaupt nicht in den Blick kommt. Für die Reformation, insbesondere Calvin, aber auch große Teile des Humanismus wäre hier viel für die weitere Geistesgeschichte Wichtiges zu sagen. Angesichts des mit dem Charakter einer Ringvorlesung verbundenen punktuellen Zugriffs auf das Thema kommt der Einleitung ein besonderer Wert zu. Die Herausgeber verstehen es hier, Linien zu ziehen, die die einzelnen Beiträge nicht ohne weiteres erkennen lassen. Hilfreich ist auch das umfassende Literaturverzeichnis sowie ein Namens- und Sachregister.