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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

203–206

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sundermeier, Theo

Titel/Untertitel:

Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 258 S. 8°. Kart. DM 38,­. ISBN 3-525-01619-0.

Rezensent:

Walter Sparn

An der Dringlichkeit dessen, was der Titel fordert, kann auch in der Ersten Welt, wo immer mehr kulturell und religiös fremde Menschen und Gruppen miteinander auskommen müssen, kein Zweifel mehr bestehen. Wie läßt sich lernen, den Fremden zu verstehen? Kaum bezweifeln läßt sich auch, daß das Selbstbild der europäischen Moderne der Wahrnehmung des Fremden als Fremden nur geringe Chancen läßt. Was sind die Gründe dieser Schwäche? Diese Fragen, die konstruktiv-praktische und die kritisch-theoretische, will der Vf. beantworten, frühere Überlegungen zur Xenologie und zur interkulturellen Hermeneutik, vor allem in Die Begegnung mit dem Anderen (1991) und Den Fremden wahrnehmen (1992), fortführend.

Die Einleitung (7-15) begründet die Notwendigkeit einer xenologischen Hermeneutik damit, daß Verstehen die Voraussetzung jeder Kommunikation bilde. Denn während in der Beziehung auf den anderen die Selbstbezüglichkeit des Denkens und Handelns nicht ausschließt, beide vielmehr in Wechselwirkung stehen, wird sie in der Begegnung mit dem Fremden zur Falle, da sie den Fremden leicht zur Selbstfindung mißbraucht. Zur Überwindung dieser Selbstreflexivität ist die klassische "Vereinnahmungshermeneutik" (12) jedoch überhaupt nicht imstande; es bedarf einer geduldig zu erlernenden, ganz unten ansetzenden "Differenzhermeneutik, die das Differente verstehen lehrt, ohne es zu vereinnahmen, die praktische Hilfe bietet, die Nähe des Zusammenlebens einzuüben, und zugleich die richtige Distanz wahrt, die die Identität des Fremden respektiert und die uns allen gemeinsame Menschenwürde achtet" (13).

Teil I Zur Theorie inspiziert das vorhandene Instrumentarium. An erster Stelle (Dem Fremden begegnen, 19-35) steht naheliegenderweise die Ethnologie, die das hermeneutische Problem freilich lange verdrängt hat ­ der Fremde ist das alter ego in positiver oder negativer Gestalt. Erst neuerdings (B. Malinowski) hat die "teilnehmende Beobachtung" die methodische Notwendigkeit eines "Wechsels der Perspektive" und damit den Zusammenhang von Erkennen und Verhalten zu beachten gelehrt. Überraschend folgt die Kunstgeschichte (2. Den Fremden sehen, 36-50): Erst in der Moderne ist es zu einer den Künstler verändernden Wahrnehmung des Fremden gekommen (Gauguin, Nolde), die aber immer den ihm als Fremden wesentlichen Kontext ausblende.

Am ehesten vermieden wurden Instrumentalisierungen in der ikonologischen Reflexion der Begegnung mit dem Fremden an sich. E. Panofskys Unterscheidung der Sach-, der Bedeutungs- und der Sinnebene eines Kunstwerkes und die dafür nötigen Haltungen werden später, ergänzt um die (erneut die Perspektive wechselnde) Handlungsebene, wieder aufgenommen. Der philosophiehistorische Abschnitt (3. Den Fremden denken, 51-71) stellt für Platon und die Folgen wiederum Fehlanzeige fest: Der Fremde ist (störender) Grenzfall des anderen meiner selbst. Die modernen Subjektivitätstheorien erreichen wegen ihres monadischen Grundmusters nicht wirklich Intersubjektivität, wie der Vf. recht plakativ an Hegel, Husserl, auch an M. Buber bemängelt (der Andere im Dialog ist niemals der Fremde).

Sogar E. Lévinas, der die Egozentrik des abendländischen Idealismus so massiv kritisiert, reflektiert nicht den Fremden als Fremden, sondern bleibt in der Dualbeziehung, die die platonischen Interpretationen des Eros-Mythos vorgeben; wichtig ist aber seine Einsicht in der Asymmetrie der Begegnung und in den Primat der (diakonischen) Ethik in ihr. Eine Erste Zwischenbilanz (71-77) filtert hieraus drei "Modelle" der Begegnung: das in seinen Folgen zweischneidige Modell der Gleichheit aller Menschen, das Alteritätsmodell, das den Gegensatz zum Fremden ebenfalls ambivalent läßt, und das vorherrschende Komplementaritätsmodell, das nur Ansätze zum Verstehen des Fremden bietet. Im 4. Kapitel (Mit dem Fremden sprechen, 78-93) werden die philosophische und theologische Hermeneutik sowie der kommunikations- und systemtheoretische Versuch, statt auf "Verstehen" auf "Verständigung" abzuzielen, ziemlich grob befragt: Der Andere als Fremder kommt hier nicht vor, weil das Ziel der Horizontverschmelzung im Bannkreis der idealistischen Selbstreflexivität verbleibt (H.-G. Gadamer) bzw. weil die ideale Sprechgemeinschaft kulturelle Homogenität voraussetzt, d. h. den eigenen, partikularen Kontext universalisiert und dann Fremdheit remythisieren muß (J. Habermas). Allenfalls als polemische Pointierung mag es hingehen, wie der Vf. die Genannten auf Hegel ("Geist", 91 f.) oder sogar Nietzsche (Interpretieren als "Wille zur Macht", 80) festlegt und auch P. Ricoeur (dessen letztes Werk der Vf. kennt, 10 A. 4, 138 A. 2) hier subsumiert. Der Vf. knüpft nämlich selber an Schleiermacher an (154, 169, 212) und entwickelt das Programm eines hermeneutischen Zirkels.

Dieses Programm ist der Inhalt von Teil II Zur Praxis. Der Vf. skizziert zunächst die (wenigen) "Modelle" des Umgangs mit dem Fremden, die von den Religionen bereitgestellt wurden (5. Den Fremden einordnen, 97-127). Angesichts der xenologisch geforderten Sensibilität befremdet hier die starke Typisierung der Religionen sowie die fraglose Anwendung der von G. Simmel eingeführten drei Typen des "Fremden" (der äußere Feind; der kommende und wieder gehende Händler; der kommende und bleibende Gast); ohnedies meint der Vf., daß die Soziologie seither nichts wesentlich Neues erarbeitet habe (76f., 102; zum Ausfall von Germanistik und Pädagogik vgl. 8). Interessant ist die These, daß das stammesreligiöse (Innen und Außen auf allen drei Stufen der Wahrnehmung des Fremden eindeutig trennende) Grundmuster sich in den Versöhnungsreligionen durchhalte, auch im institutionalisierten und mit gesellschaftlicher Macht ausgestatteten Christentum ("ekklesiogene Stammesreligion", 123; der Islam will es weltweit durchsetzen, 126). Die Veränderungspotentiale, die gleichwohl im Buddhismus und besonders in Israel und im ursprünglichen Christentum aufgebaut wurden, und durchaus noch virulent sind (126 f.), werden in eine Zweite Zwischenbilanz (128-136) eingebracht, die ein viertes, homöostatisches Begegnungsmodell (136) entwirft. Es übernimmt das Gleichheits-, das Alteritäts- und das Komplementaritätsprinzip der genannten drei Modelle, doch nicht ihre falschen Konsequenzen auf der Handlungsebene. Es soll die "Identitäten der sich begegnenden, ihre unaufkündbare Zusammengehörigkeit und ein Aufeinanderangewiesensein, das zur Anerkennung führt" (132), festhalten. Dies hält der Vf. dann für möglich, wenn man die Gleichursprünglichkeit von Differenz und Zusammengehörigkeit annimmt (dazu brauchte er allerdings nicht über den "abendländischen Horizont" hinausgreifen ­ es handelt sich um einen Topos der abendländischen Metaphysik) und wenn die Grenze zwischen Innen und Außen eine weiche, "osmotischen Austausch" (135) ermöglichende Grenze ist, die eben Analogisierung und Verstehen zuläßt. Der Vf. redet hier in hohem Maße postulatorisch. Insbesondere vermißt man, angesichts der zunächst unvermeidlichen Asymmetrie der Begegnung (164, vgl. 133), eine Begründung für die unterstellte Möglichkeit der Gegenseitigkeit des Austauschs bzw. der Anerkennung und der Reziprozität des Verstehens (152, vgl. 129 f.).

Aber um die theoretische Klärung des "Paradoxes", wie es auch der Vf. nennt (132), geht es sichtlich weniger als um den Weg der hermeneutischen Praxis. Das Hauptkapitel des Buches (6. Den Fremden verstehen, 137-199) ist denn auch weitaus am besten gelungen. Der Vf. unterscheidet zunächst "Fremdsein" auf der emotionalen und auf der kulturellen Ordnungsebene (in Abweisung der psychoanalytischen Zurücknahme des Unheimlichen des äußeren Fremden in die innere Fremde des Unbewußten, 138, 158 ff.), um dann die Öffnung des "Raumes" für Verstehen zwischen Fremden zu beschreiben. Dieser vermittelnde Raum wurde früher durch das Gastrecht konstituiert, in modernen Gesellschaften ist neben Nachbarschaft und Partnerschaft (im Unterschied zum Tourismus) dieser Raum am ehesten das Fest, die andere Seite des Alltags, das Annäherung und Gleichheit im Erleben bewirkt (145 ff.). Die Stufen des Verstehens werden dann, in Ergänzung des ikonologischen Schemas, jeweils auf der Ebene der Phänomene, der Zeichen, der Symbole und der Relevanz erklärt hinsichtlich der dabei nötigen subjektiven Haltung (Epoché, Sympathie, Empathie, Respekt), der objektiven Erfassung (Beschreibung, Kontextualisierung, vergleichende Interpretation, Übersetzung zu uns) und der Handlung (Wahrnehmung in Distanz, teilnehmende Beobachtung, Teilidentifikation, Konvivenz 153 ff.; anschauliche Erläuterung des Distinktionszeichens "Schleier" 171 ff. und der Differenz fremder Heilungssysteme, Exkurs 174-182).

Konvivenz, das Ziel der xenologischen Hermeneutik, meint die experimentelle Hilfs-, Lern- und vor allem Festgemeinschaft, meint Anerkennung ohne Konkurrenzkampf, "gelingendes Zusammenleben, bei dem jeder er selbst bleiben kann, niemand vereinnahmt wird und dennoch ein Austausch stattfindet, der die Würde des anderen respektiert und stärkt" (189 ff., Zit. 183). Es handelt sich im ganzen um einen zirkulären oder besser spiralförmigen Prozeß (154, 183, 191), der Annäherung ohne Verschmelzung erreicht ­ "aus sich herausgehen, wieder zu sich einkehren und eine aktive Teilnahme, die beides miteinander verbindet" (183, entsprechend im Fest 146; auch im "Geist"? vgl. 92!).

Das abschließende 7. Kapitel (Den Fremden einladen, 198-228) vergewissert sich der christlichen Motivation auf dem hermeneutisch neuen Feld. Sie begründet allerdings keine theologische im Unterschied zu einer säkularen Hermeneutik des Fremden, sondern gibt dem beschriebenen Verstehensprozeß eine vertiefende, der Sensibilität und der Präzision dienende "Kolorierung" (223 ff.).

Die biblischen Texte reden von Fremdheit nicht nur als anthropologisches Existential und als soziologische Distinktion, sondern vor allem, durchaus verknüpft mit der prophetischen Wahrheitsfrage, in der kenotischen Bewegung, die vom "fremden Gott" ausgeht zum "fremden Gast" Christus und zum Geist, dem "Fremdenführer" auf der interkulturellen Wanderung des Wortes Gottes (207 ff.; hier auch das Stichwort "Liebe" 212, 225). Auf diesem Weg konstituiert sich die christliche Identität, deren Grund unveränderlich ist, jeweils neu, eben in der verändernden Begegnung, die nach den eigenen Wurzeln zu fragen nötigt.

Die besondere Stärke dieses flott geschriebenen, mit ausführlichem Literaturverzeichnis und Personenregister ausgestatteten (229-257) Buches liegt in den beschreibenden Partien, ganz besonders in den Fallbeispielen, die zur Lebensgeschichte des Vf.s gehören (31 ff., 155 ff., 179, 185 ff.). Überzeugend wirkt die auf solchen Erfahrungen beruhende These, daß Verstehen des Fremden schrittweise geübt werden muß, einen Zeit und Geduld erfordernden "Pilgerweg" (153, 165 u. ö.) darstellt, der Verstehen und Handeln wechselwirksam zusammenbindet (33f., 148, 213). Allerdings geht es dem Vf. (biographisch verständlich) vor allem um die Befähigung, "das Leben des Fremden als eine unendliche Geschichte zu verstehen, anzuhören und nachzuerzählen" (153). Ob diese hermeneutische Praxis auch in der Heimat zureicht, wäre noch zu prüfen. Gelingt etwa das so hoch geschätzte interkulturelle Begegnungsfest hierzulande nicht erst in einem recht späten, viel Nähe bereits voraussetzenden Schritt? Die hiesige Lage ist mindestens wegen der schon längerfristig aufgebauten Verflechtungen und Abgrenzungen zwischen Fremden komplizierter (und für Resignation anfälliger).

Gewiß ist auch in der Ersten Welt richtig, daß kulturell und religiös friedliches Zusammenleben die Achtung von Alterität und die Voraussetzung eigener Identität verknüpfen muß. Ob das vorgestellte Modell "die essentielle Zusammengehörigkeit des Ego und des Fremden" besser begründet als das bisherige europäische Denken und sie damit für einen christlichen Eropäer verständlich und annehmbar macht? Das Postulat "das Ich muß entmachtet werden" (131) mag man sich aneignen im Blick auf eine "narzistische[sic!] Selbstreflexivität (128), die den Andern verachtet und den Fremden durch das eigene Unbewußte ersetzt. Aber es müßte mit dem hermeneutisch ebenfalls unabdingbaren Postulat des "Ruhen(s) in sich selbst" (153), einer "ihrer selbst gewisse(n) Identität" (143), als kompatibel erwiesen werden. "Der abendländische Logos darf nicht universalisiert werden" (154) ­ vielleicht ist das einem Abendländer tatsächlich nicht konsistent denkbar, sondern nur lebbar. Der Vf. ist jedenfalls selber ein Beispiel für die "philosophische Schwierigkeit, Konsubjektivität zu denken" (199).