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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

200–203

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael

Titel/Untertitel:

Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 161 S. 8°. Kart. DM 28,­. ISBN 3-525-60394-0.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Im Vorwort dieses Büchleins legt der Vf. seine Absicht dar: weil er dem Sonntagsgottesdienst zutraut, den Bedürfnissen der Menschen nach Lebensdeutung, Selbstfindung und Gottesbegegnung zu entsprechen, soll sein Buch Interesse wecken an dem Schatz der eigenen gottesdienstlichen Traditionen, die vorwiegend anhand der Grundform I (Meßtyp) des Vorentwurfs der Erneuerten Agende von 1990 gezeigt werden sollen, allerdings weniger für Experten für Liturgik, auch nicht nur für Pfarrer, sondern für alle, "die dem Sonntagsgottesdienst wieder (nicht "noch"!) etwas zutrauen wollen" (11). So fügt er bei seiner Erklärung des Gottesdienstes teilweise auch historische Anmerkungen an, um entweder auf die Kraft der Tradition hinzuweisen oder aber heutige, vielleicht unverständliche Gottesdienstpraxis zu erklären. Manchmal läßt der Vf. sogar Vorschläge zur Gottesdienstgestaltung einfließen, die im folgenden z.T. aufgeführt werden sollen.

Bei seiner Darlegung der vier Gottesdienstschritte nach Grundform I geht er vom Begriff der ’Inszenierung’ aus. Mit diesem Begriff, der aus der Theaterwelt stammt, aber zunehmend auch in der Alltagssprache zu finden ist, will der Autor das Ineinander von Gottes Verheißung und menschlicher Gestaltungskunst darstellen. Beide Momente sieht er als Konstitutiva des Gottesdienstes an. Bevor er sich an die Darstellung der vier Gottesdienstschritte macht, führt er in neuere liturgische Einsichten ein, die seine ’Inszenierung des Evangeliums’ beeinflussen: Durch die Medienwelt erlebt jeder die Wirklichkeit als eine inszenierte Wirklichkeit. Die eigentliche Frage ist, ob das Inszenierte wahr oder vorgemacht ist. Gleichwohl gilt: nur gut Inszeniertes wird heute noch wahrgenommen. Deshalb ist es nötig, die unverfügbare Wirklichkeit Gottes zu inszenieren als menschlich verantwortete, dargestellte Wirklichkeit des Evangeliums. Dabei sind die Sprachen des Gottesdienstes, z. B. die Sprache des Raumes, des Geruchs, der Kleidung, des Auftretens, etc. zu beachten, damit das Verhältnis von Inhalt und Form stimmig ist. Der Gottesdienstbesucher kann so ästhetisch gut Inszeniertes als überzeugend wahrnehmen. In einem unterscheidet sich aber der Gottesdienstbesucher vom Theaterbesucher: Es gibt keine Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Die ganze Gemeinde ’spielt das Stück’ mit.

Nachdem der Vf. auf die eher vertrauten Gedankengänge des tiefenpsychologisch-therapeutischen Blickwinkels des Gottesdienstes anhand von S. Freud und C. G. Jung eingegangen ist, hebt er besonders die Sprache des Leibes hervor. Hier wird die jüngere Liturgische Bewegung gewürdigt. Vielfältig wird verdeutlicht, daß jeder Mensch zugleich verbal wie auch leiblich kommuniziert. Dies wird in der Gottesdienstpraxis noch zu wenig beachtet. Viel Beachtung hat dieser Komplex in der feministischen Theologie gefunden einschließlich der Frage nach der Geschlechtlichkeit. Dieser Frage geht der Autor in einem kleinen Exkurs nach auch unter Berücksichtigung der römisch-katholischen liturgischen Bewegung.

Danach gibt der Vf. Einblick in seine theologischen und anthropologischen Entscheidungen in bezug auf das Gottesdienstgeschehen. Von den in der Praktischen Theologie geläufigen zwei Denkmodellen, die versuchen, die anthropologischen Fragen theologisch einzuordnen, wählt der Vf. nicht das Inkarnationsmodell, sondern das Modell der Trinitätslehre. Ausgehend vom Christusbezug des Gottesdienstes wird der Bezug zum Schöpfer und zum Heiligen Geist hergestellt. Der Schöpferbezug wird deutlich an der Leiblichkeit des Menschen, besonders anhand seiner fünf Sinne. Der Bezug zum Heiligen Geist ist ­ aufgrund der Leiblichkeit ­ die Lebendigkeit des Menschen. Der lebendige Mensch ist kraft des Heiligen Geistes dynamisch am Gottesdienstgeschehen beteiligt. Der Ritualbegriff in seiner Bedeutung als Zusammenschau des sakramentalen und sakrifiziellen Aspektes ist darum für das Verständnis des Gottesdienstes als Kult hilfreich. Der Vf. stellt in bezug auf die vier Gottesdienstschritte, wie sie die Erneuerte Agende vorlegt, fest, daß der christliche Gottesdienst auch dort verstanden wird als szenische Darstellung theologischer Anthropologie.

Der Gottesdienstschritt A ’Eröffnung und Anrufung’ zeigt, daß der Mensch auf Kommunikation mit seinem Ursprung und Ziel angewiesen ist. Diese Kommunikation aufzunehmen, geschieht nicht im Handumdrehen, sondern: sich dem heiligen Gott nähern heißt, äußere und innere Distanz zu überwinden, gleichsam in die Kirche gehen und die Sünde überwinden mit Introitus, Kyrie und Gloria. Der Vf. schlägt darum einen Einzug der Amtierenden vor, der nicht nur zur Konfirmation und Trauung, sondern jeden Sonntag ausgeführt wird. Die trinitarische Eröffnung soll den Taufbezug herstellen, der Eröffnende könnte am Taufbecken stehen, eventuell diesen Bezug mit Kreuz und Wasserbesprengung verdeutlichen. Beim Kyrie könnte der Liturg die Hände zum Gebet erheben. Beim Gloria wendet er sich wieder der Gemeinde zu.

Der Gottesdienstschritt B ’Verkündigung und Bekenntnis’ zeigt den mit seinen Ursprungs- und Zukunftsmächten Kommunizierenden als einen, der dies nicht neu und nicht als erster tut. Er erfährt sein Leben in geschichtlicher Dimension. Der Vf. schließt sich zu Recht nicht dem einseitigen Verständnis der ’Torgauer Formel’ von Wort und Antwort an, da sie für den Gottesdienst als Ganzheit gilt; Wort und Antwort lassen sich nicht einzelnen liturgischen Stücken zuweisen. Die Predigt ist nicht nur Wort Gottes, sondern auch die Antwort des Glaubens. Darum wählt der Vf. die psychoanalytische Trias ’Erinnern ­ Wiederholen ­ Durcharbeiten’, die S. Freud 1914 erstmals publizierte und die von Y. Spiegel 1972 auf die Sozialpsychologie des Gottesdienstes angewandt wurde. Es wird erinnert an das heilige Geschehen.

Der Vf. macht Mut, sich der traditionellen Perikopenordnung zu bedienen, anstatt sich auf den eigenen Einfallsreichtum zu verlassen. Vorsichtig plädiert er sogar für die Perikopenordnung der alten Evangelienreihe, nicht zuletzt wegen des sich daran orientierenden Kantatenwerks J. S. Bachs. Auch das jährlich wiederkehrende Graduallied ist beachtenswert. Mit dem ’Wiederholen’ wird das heilige Geschehen gegenwärtig gesetzt. Dieser Dialog mit Gott angesichts des menschlichen Defizitbewußtseins und des Verlangens nach Vertiefungs- oder Vervollkommnungsbewußtsein verheißt Lebensgewinn. Denn in diesem Dialog kann der Mensch sein gestörtes Gottesverhältnis zur Sprache bringen und kontrolliert wiederholen, um es dann durch Anteilnahme am heiligen Geschehen mit Lebensgewinn zu intensivieren. Insofern ist der Gottesdienst ein ’Zwischenreich’ zwischen realem und verheißenem Leben. Mit ’Durcharbeiten’ ist gemeint, daß die Gemeinde heute vor dem redenden und handelnden Gott steht und Gottes Wort heute sagt, weitersagt und verantwortet. Erinnern und Wiederholen werden also vermittels des Durcharbeitens als Erinnern und Wiederholen erkannt. Das gottesdienstliche Ritual wirkt nicht unmittelbar, sondern der evangelische Gottesdienst ­ das ist Kennzeichen seiner Moderne ­ ist ein reflektiertes Geschehen, das in gebrochener Weise wirkt. Gottes Nähe ist real, der Gottesdienst ist die ­ reflektierte ­ Durcharbeitung dieser Nähe.

Der Gottesdienstschritt C ’Abendmahl’ bringt die Leiblichkeit und die damit zusammengesehene Sozialität zu Bewußtsein und Darstellung. Das Essen ist neben der Sexualität das Mittel, Leben zu fördern und Tod zurückzudrängen. Essen kann Rettung aus Todesgefahr bedeuten, kann auch ­ vergiftet ­ in Todesgefahr bringen. Diese anthropologische Erfahrung mag in 1Kor 11, 27-29 anklingen. Zugleich ist gemeint die natürliche Scheu vor dem heiligen Essen. Für das christliche Abendmahl aber gilt: das Essen bedeutet die leibliche Kontaktaufnahme mit Christus nach der Dialogaufnahme des Wortteils in Schritt B mit Gott. Der Vf. wendet sich sowohl gegen die Rede vom verbum visibile als auch gegen ein magisches Verständnis des Heiligen Mahles, als könne das Essen dieses Mahls unabhängig vom Glauben Lebensgewinn oder -verlust ermöglichen. Heiliges und alltägliches Essen sollen in ihrem Zusammenhang gesehen werden, darum schlägt der Vf. vor, die Gemeinde schon durch die Herstellung des Brotes zu Hause am gottesdienstlichen Vollzug zu beteiligen.

Den Gottesdienstschritt D nennt der Vf. auf S. 50 ’Entlassung und Segen’, dann auf S. 117 ’Segen und Sendung’, hingegen der Vorentwurf der Erneuerten Agende nennt D ’Sendung’, dieser Gottesdienstschritt weist den Menschen ihren Weg. Kurz vor dem Ende des Gottesdienstes vergewissert sich die Gemeinde noch einmal ihrer Nähe zu Gott. In diesem Sinn sieht der Vf. einen generellen Perspektivenwechsel in bezug auf das Gottesdienstverständnis als nötig an. Standen bisher in der Verkündigung die Gedanken der "Erlösung, Vergebung, Rettung, Umkehr und Bekehrung" im Vordergrund, so sollte die "Dimension des Stetigen, des Wachsens und Reifens" (127) als eigenständiges Thema begriffen werden.

Damit tritt die alltägliche Lebensbewältigung der Gottesdienstbesucher in den Vordergrund, die weniger jede Woche ein neues Leben anfangen wollen als vielmehr besorgt sind, im Leben gehalten und bewahrt zu sein. Von daher ergibt sich ein positives Verständnis des Kasualchristentums. Die kirchliche Theologie darf sich nicht einseitig am rettenden Handeln Gottes orientieren, sondern muß ebenso sein segnendes Handeln im Auge behalten. Als Beispiel nennt der Vf. die 99 Benediktionen der römisch-katholischen Kirche. Die Salbung für die evangelische Kirche hebt er anhand der neuen lutherischen Agende ’Dienst an Kranken’ hervor. Folgerichtig schließt der Vf. sein Buch ab mit der Darstellung des Kirchenjahres, das er interpretiert als Psychodrama des Jahres- und Lebenslaufes.

Schon vor der Darstellung der vier Gottesdienstschritte stellte der Vf. zusammenfassend fest: "Die Lehre vom Menschen in unserem Gottesdienst, die liturgische Anthropologie, interpretiert den Menschen demnach als geschichtlich und leiblich existierend, angewiesen auf seinen Ursprung und auf ethische Verantwortlichkeit in unauflösbarer Verwobenheit. Diese wenn auch nicht unbedingt aus christlichem Glauben heraus bejahte, aber doch aus einfachen Gründen menschlicher Weisheit plausible Sicht dürfte dem Gottesdienst seine latente Akzeptanz auch bei denen verschaffen, die ihn selbst nicht besuchen" (50).