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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

196–198

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herlyn, Okko

Titel/Untertitel:

Die Sache der Gemeinde. Studien zur Praktischen Theologie des "allgemeinen Priestertums".

Verlag:

Neukirchen: Neukirchener Verlagshaus 1997. 240 S. 8°. Kart. DM 58,­. ISBN 3-7887-1629-0.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Karl Barth kommt in der Praktischen Theologie wieder zu Ehren, nachdem sein Freund Thurneysen bereits neu positiv gewürdigt wurde. In den vorliegenden Studien, die von der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bochum als Habilitationsschrift angenommen wurden, ist Karl Barth vor Martin Luther und Ernst Lange der am häufigsten zitierte Autor. Vor allem aber wird die Bibel zitiert und biblisch argumentiert.

Der Vf. spricht zwar nicht ausdrücklich von Hermeneutik, aber ihn beschäftigt durchweg die Frage, wie das Gemeindeleben mit seiner "Mitte" im Gottesdienst von der Bibel her zu verstehen und zu gestalten ist, und zwar als "Sache der Gemeinde". Allgemeines Priestertum heißt, daß die Gemeinde Subjekt des kirchlichen Handelns ist. H. weiß sich dabei in Übereinstimmung mit dem Neuen Testament und der Reformation. Besonders 1Kor 12 und 14 dienen als Leittexte. Wie können neutestamentliche und reformatorische ekklesiologische Motive unter Beachtung der einschneidenden Situationsveränderungen heute die Gestaltung des Gemeindelebens bestimmen? Wie läßt sich die historisch entstandene Klerikalisierung durch das allgemeine Priestertum überwinden? H. leistet einen Beitrag zur Lehre vom Gemeindeaufbau, indem er davon ausgeht, daß im Gottesdienst das "Herz" des Gemeindelebens schlägt. Diese Metapher hält er mit Recht für treffender als die Rede von der "Mitte". Die Aufgabe des Gemeindeaufbaus besteht darin, daß das Subjektsein der Gemeinde in der Liturgie und in der Predigt zur Geltung kommt und die "Entmündigung" der Gemeinde überwunden wird. Dazu legt H., der 17 Jahre in Duisburg Pfarrer war, praktische Vorschläge vor, die zum größten Teil nicht neu sind, doch das beansprucht der Vf. auch nicht.

Für mich enthält der letzte Beitrag die anregendsten Gedanken: "Auf der Suche nach dem verlorenen Wort. Zum Beitrag der Praktischen Theologie zum Reden des Glaubens extra muros ecclesiae". H. geht von der Frage aus, warum unser Glaube sprachlos wird, sobald wir den kirchlichen Raum verlassen. Er antwortet: "Solange eine ’Kirche des Wortes’ sich selber vornehmlich als eine Kirche des Monologs mißversteht und den Glauben intro muros primär auf das Zuhören fixiert, wird dieser extra muros nie zu einem mündigen Reden kommen können" (209). Die Praktische Theologie soll auf allen Arbeitsfeldern der gemeinschaftlichen, redefördernden Kommunikation Raum geben. Sie hat die "Kommunikation des Evangeliums" (E. Lange) zum Leitmotiv zu machen, allerdings nicht nach der Norm pastoraler Handlungsmodelle, sondern so, daß die der Gemeinde gegebenen Charismata authentisch zur Wirkung kommen.

H. schwimmt tapfer gegen den Strom. Er erwartet von der Praktischen Theologie, daß sie sich "nicht von gegenläufigen Erwartungshaltungen von seiten einer volkskirchlichen Gemeindeöffentlichkeit irritieren" läßt (212). Sie hat davon auszugehen, daß Christen "sozusagen per definitionem Zeugen, ’Verbi divini ministri’, sind (199), und sie hat "die Bedingungen zu klären, unter denen ein Sprechenlernen des Glaubens extra muros ecclesiae möglich wird". Damit erhält die Praktische Theologie eine missionarische Zielstellung. Das halte ich für notwendig. Vom Gottesdienst als dem Herzen des Gemeindelebens führt der Weg zum Zeugnis des "allgemeinen Priestertums" extra muros. Die Zusammengehörigkeit von Sammlung und Sendung, Ekklesia und Diaspora im Sinne Ernst Langes wird der Praktischen Theologie wieder als Aufgabe zugewiesen, die für alle Handlungsfelder bedeutsam ist.

Das Problem liegt in der Diskrepanz zwischen dem am Neuen Testament gewonnenen Gemeindebegriff und der empirischen Realität von Gemeinde in der Volkskirche sowie in der von H. nicht berücksichtigten nach-volkskirchlichen Minderheitskirche. Der Gottesdienst wird nach reformierter Tradition als die "versammelte Gemeinde" verstanden, wobei H. weiß, daß sich nur ein geringer Prozentsatz jeweils versammelt. Die Mehrzahl der nicht-sich-Versammelnden tritt kaum in Erscheinung. Von den Kasualien wird wenig gesprochen. Für die Taufe wird Barths Rede von der "tief unordentlichen Taufpraxis" übernommen, aber nicht unter dem Aspekt bedacht, daß es Gemeindeglieder sind, die das wünschen, was Barth so kritisiert. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der realen Gemeinde kommt gegenüber dem normativen Gemeindebild zu wenig zur Geltung. Wenn mit Recht das pastorale Verkündigungsmonopol kritisiert wird, muß meines Erachtens auch zugestanden werden, daß viele Christinnen und Christen im Gottesdienst nicht reden, sondern hören wollen, was natürlich nicht gegen das Glaubensgespräch in anderen Gemeindeveranstaltungen spricht.

Wie schwierig die Entklerikalisierung ist, zeigt wohl eher ungewollt der ursprünglich J. Fangmeier gewidmete Beitrag "Sich einmischen". Er geht von einem Leserbrief Fangmeiers aus, in dem dieser als Pfarrer und Prof. Dr. theol. unterzeichnend sich beschwert, daß in Wuppertal der Schnee nicht gefegt wurde, woraus Schlimmes für die Eingemeindung von Schöller zu schließen sei. Dieses Beispiel wertet H. als gemeindliche Tugend. Mir erscheint es als Beispiel für klerikales Denken. Jeder Bürger kann "sich einmischen", wenn ihn Schneematsch stört, aber das hat weder mit dem allgemeinen Priestertum noch mit dem kirchlichen Amt zu tun. Luthers Lehre von den beiden Regimenten halte ich hier für sachgemäßer.

Zur Begründung des allgemeinen Priestertums bei Luther sollte die differenzierte Untersuchung von Klaus Peter Voß, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums, 1990, berücksichtigt werden, wo deutlich wird, daß die Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung dieses Motivs bereits in der Reformation verzwurzelt sind. Im Blick auf die Gegenwart entsteht zu leicht der Eindruck, als sei es die Herrschsucht der Pfarrer, die an der Entmündigung der Laien festhalten wollten. Wer wie der Rez. die Grundintention des Buches bejaht, muß sich bemühen, die ihnen entgegenstehenden Hindernisse möglichst sachlich zu berücksichtigen.

Dazu gehört die Überwindung unfruchtbarer Gegensätze. Einen solchen sehe ich in der Erwartung, die Kirche solle "in ihrem unterweisenden Handeln biblischer Logik und nicht allgemeinem volkstümlichen Denken" folgen (147). In der Gemeindepädagogik geht es darum, diese Alternative zu überwinden. Die Bedeutung der Gemeindepädagogik für das allgemeine Priestertum wäre zu würdigen. Das "Hoyaer Modell" der durch Eltern geleisteten Konfirmandenarbeit könnte als positives Beispiel genannt werden.

Damit ist H.s Programm keineswegs als überflüssig erklärt. Es bleibt eine vorrangige Aufgabe der Praktischen Theologie, die redehindernden und redefördernden "Bedingungen für ein Sprechenlernen des Glaubens freizulegen" (215). Dafür hat H. einen wichtigen Beitrag geleistet.