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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

193 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wilhelms, Günter

Titel/Untertitel:

Die Ordnung moderner Gesellschaft. Gesellschaftstheorie und christliche Sozialethik im Dialog.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 207 S. gr.8°. Kart. DM 74,­. ISBN 3-17-014408-1.

Rezensent:

Martin Honecker

Der ursprüngliche Titel "Zwischen Differenzierung und Integration. Reflexionen über die Ordnung moderner Gesellschaft", unter dem die Publikation von G. Wilhelms "Die Ordnung moderner Gesellschaft" als Habilitationsschrift 1995 von der Fakultät Katholische Theologie der Universität Bamberg angenommen worden war, bezeichnet genauer Intention und Inhalt der Studie. Es geht in ihr um einen Dialog zwischen allgemeiner Gesellschaftstheorie und christlicher Sozialethik, bei dem drei Begriffe leitend sind: Differenzierung, Integration, Reflexivität.

Als Leitfaden zieht sich neben dem Motiv Verantwortung vornehmlich Aufgabenstellung und Zweck von Ethikkommissionen durch die Studie. Am Anfang stehen Beispiele, wie die Bankenpleite der Baringbank, die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Gutachten, die Risikodiskussion, die Frage, ob Staat oder Markt der ideale Integrator seien, die "Ethikwelle" mit ihrem Ruf nach Verantwortung und der verbalmoralischen Kampfstrategie in der Gesellschaft, sowie die Frage, ob Ethik-Kommissionen als integrative Mechanismen tauglich sind (9-27). Es sind also aktuelle Anlässe, welche hinter der Fragestellung stehen. In den 3 Hauptteilen wird eine gesellschaftstheoretische Grundsatzdiskussion geführt:

1. Zwischen Differenzierung und Integration. Gesellschaftstheoretische Grundlinien (31 ff.). 2. Wie kann Integration gelingen? Reformulierungen (85 ff.), 3. Zwischen Subsidiarität und Verantwortung. Sozialethische und theologische Implikationen gesellschaftlicher Ordnung (125 ff.). Der Schluß (191 f.) faßt sehr knapp das Ergebnis zusammen: Angesichts eines Integrationsdefizits der modernen Gesellschaft und der Risikothematik bedarf es einer Erhöhung der Reflexionsfähigkeit der ausdifferenzierten Systeme. "Diese Reflexionsfähigkeit erweist sich schließlich als die Bedingung der Möglichkeit für eine subsidiäre Gesellschaft" (191). Am Schluß werden eine Reihe offener Fragen formuliert und "notwendige Anschlußstudien" auf empirischer Grundlage vorgeschlagen. Die Studie schließt mit einem Appell an die christliche Sozialethik, "an der vornehmlich sozialwissenschaftlich geführten Diskussion um die Ordnung moderner Gesellschaft teilzunehmen" (192).

Im Hauptteil der Arbeit werden auf abstraktem Niveau sozialwissenschaftliche Diskussionen nachgezeichnet: Die Risikodebatte, deren prominente Vertreter Ulrich Beck, "Risikogesellschaft", und N. Luhmann sind (31 ff.); gesellschaftstheoretische Interpretationen von sozialer Differenzierung und Integration wiederum im Anschluß an Niklas Luhmann ­ und in Abgrenzung zur "St.-Niklas-Gemeinde" (129) ­; Arbeitsteilung nach E. Durkheim, das Autopoiese-Theorem (53), O. Hondrich (57ff.), H. Willke (63: "Komplexitätstransformation"), R. Münck (69: "Interpenetration") und J. Habermas als Repräsentant Kritischer Gesellschaftstheorie (75 ff.). Es folgen die Erörterung der Bedingungen des Gelingens von Integration ("Reformulierung", 85ff.); Reflexivität und Identität (90 ff.; G. Mead, neben wiederum Luhmann, Willke); Empathie und Solidarität (112 ff.); F. X. Kaufmanns "Ruf nach Verantwortung" (123) leitet über zur Erörterung der sozialwissenschaftlichen Deutung des Verantwortungsbegriffs (125 ff.), vor allem bei Günter Ropohl und Walther Chr. Zimmerli, sodann nach Lenk (136 ff.) und zur spieltheoretischen Betrachtung des Gefangenendilemmas (142 ff.).

In den beiden letzten Kapiteln wird die christliche Sozialethik berührt: 7. "Subsidiarität heute und die Idee integrativer Mechanismen", (147 ff.) und 8. "Verantwortung und Subsidiarität ­ Theologische Reflexionen" (176 ff.). Das Subsidiaritätsprinzip wird im wesentlichen sozialwissenschaftlich analysiert; der berufsständische Gedanke wird kritisch bewertet (169; 173 f.). Die theologischen Reflexionen zur Struktur von Verantwortung sind knapp gehalten und referieren in der Hauptsache evangelische Theologen, nämlich T. Rendtorff (137 f.) und W. Huber (180 f.). W. hält emphatisch an der Freiheit als Voraussetzung der Vermittlungsaufgabe der integrativen Mechanismen fest (176: "Subjekt der Vermittlung ist letztlich immer das Subjekt") und betont als theologisches Spezifikum die Sündhaftigkeit des Menschen und die dadurch verursachte bleibende Notwendigkeit der Kritik (183 ff.).

Auch der theologische Annex auf den letzten 15 Seiten ist weithin Referat der Diskussionslage. Die katholische Soziallehre mit ihren lehramtlichen Aussagen wird höchstens beiläufig gestreift. Die Studie gibt eine weit ausgreifende Übersicht über den Diskussionsstand in der gesellschaftstheoretischen Grundlagendebatte. Der Dialog von der christlichen Sozialethik her ist nur in Ansätzen angedeutet. Denn dazu ist die Darstellung und Argumentation zu asymmetrisch angelegt und die Berücksichtigung christlicher (oder theologischer) Sozialethik zu schmal.

Die klassische katholische Soziallehre wird nur ganz wenig herangezogen. Anregend ist die Warnung, das individualethische Paradigma vorschnell zu verabschieden (187), der Aufweis von offenen Fragen und Inkonsistenzen in den gesellschaftstheoretischen Deutungstheorien und damit die Kritik an in sich geschlossenen sozialwissenschaftlichen Systemtheorien.