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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

184 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Keiser, Melvin R.

Titel/Untertitel:

Roots of Relational Ethics. Responsibility in Origin and Maturity in H. Richard Niebuhr.

Verlag:

Atlanta: Scholars Press 1996. XXI, 248 S. 8° = American Academy of Religion. Reflection and Theory in the Study of Religion 09. ISBN 0-7885-0212-3.

Rezensent:

Dietz Lange

Der Vf., der bereits 1964 seine Master’s Thesis, 1974 seine Dissertation und 1988 das Buch "Recovering the Personal" über seinen Lehrer H. R. Niebuhr (1894-1962) geschrieben hatte und sich bis hin zur unveröffentlichten Korrespondenz in dessen Werk genau auskennt, legt hier eine Art Kommentar zu N.s postum veröffentlichter Monographie "The Responsible Self" (1963) vor. Er verfolgt damit einen doppelten Zweck. Einmal will er den fragmentarisch ausgearbeiteten, "relationalen" Ansatz bei der Verantwortung (Antwort auf Gottes gegenwärtiges Handeln), konzipiert als Alternative zu deontologischen und teleologischen Ansätzen, als späten Höhepunkt in N.s geistiger Entwicklung beschreiben. Zweitens will er die Fruchtbarkeit von N.s Denken für die modernen Themen Feminismus, Antijudaismus und Ökologie erweisen.

Der erste Teil zeichnet N.s geistigen Weg von einer liberalen, stark von Troeltsch beeinflußten Position über die (vielleicht ein bißchen zu exakt auf Nov. 1929 datierte) "Bekehrung" (213, Anm. 21) zu einem theozentrischen Ansatz, unter der Einwirkung Barths und vor allem des großen Erweckungstheologen Jonathan Edwards (1703-1758), bis an die Schwelle der Spättheologie nach. Dies ist meines Erachtens der schwächste Teil des Buches. Er ist eher an Stichworten oder "Motiven" orientiert (z. B. Kap. 2: Wert, Geschichte, Glaube, Gefühl, Verantwortung), als an klar strukturierten Entwicklungslinien. Ähnlich steht es mit den Bezügen zu den geistigen Vätern N.s, deren Wirkung eher punktuell als zusammenhängend dargestellt wird (Kap. 3). Wesentliche Bezüge wie die zum Pragmatismus oder zu Josiah Royce werden gar nicht oder unzureichend dargestellt. Das Verhältnis N.s zu seinem berühmterem Bruder Reinhold, der viel stärker in dialektischen Spannungen dachte, andererseits stets klare und kontroverse Positionen bezog, dürfte weniger einseitig antithetisch, eher komplementär gewesen sein.

Die beiden anderen Hauptteile, die sich mit den Grundlagen der Verantwortungsethik (II) und mit deren spezifisch christlicher Begründung (Christus als exemplarische Gestalt des verantwortlichen Selbst, 102) sowie den Grundlinien ethischer Verwirklichung beschäftigen, sind erheblich besser geraten. Der Vf. zeichnet einfühlsam und sorgfältig ein großenteils bis in die Nuancen verläßliches Bild der reifen theologischen Ethik N.s, das der anregenden Kraft und Differenziertheit dieses bedeutenden Denkers ­ bis auf die auffällige Unterbelichtung des Themas der Sünde, dem N. ein ganzes Kapitel in "The Responsible Self" gewidmet hat (131-145) ­ gerecht wird. Sein erstes Ziel hat er damit erreicht. Dabei ist er nicht unkritisch, insbesondere bezüglich der mangelnden Konkretheit der materialethischen Äußerungen. Er macht dafür mit Recht die Konzentration auf das Handeln Gottes und die damit verbundene Kritik aller Selbstbehauptung des Menschen (140.197) sowie die Betonung von dessen Eigenverantwortlichkeit (71), meines Erachtens mit weniger Recht einen verbleibenden "Dualismus" in N.s Denken (197) verantwortlich.

Das zweite Ziel, Niebuhrs Denken als fruchtbar für die vieldiskutierten Themen Feminismus, Antijudaismus und Ökologie zu erweisen, ist nicht ganz unproblematisch. Zwar hat N.s Einsatz beim geschichtlichen Handeln Gottes auf manche politische Theologen stark gewirkt, so etwa auf Paul Lehmann, Schüler N.s und geistiger Großvater der "Theologie der Revolution". Man kann auch auf N.s Bejahung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, seine Hochschätzung jüdischer Tradition oder auf Forderungen einer Schonung der Natur verweisen (133-138). Doch hat N. nie gemeint, aus Gottes geschichtlichem Handeln eindeutige Handlungsanweisungen ableiten zu können, und er hat es stets abgelehnt, das Evangelium für irgendwelche "Bewegungen" einzuspannen. Vor diesem Hintergrund wirkt das Interesse, ihn für jene modernen Richtungen in Anspruch zu nehmen, bemüht modernisierend (vgl. die Rolle des Schlagworts liberation (127-176, oder die Verteidigung N.s gegen feministische Kritik, 52-62).

Insgesamt gibt der Vf. eine brauchbare Einführung in das Spätwerk Niebuhrs, die ihren Zweck, zur Lektüre des Originals anzuregen, durchaus erfüllt.