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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

178–180

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Märker, Michael

Titel/Untertitel:

Die protestantische Dialogkomposition in Deutschland zwischen Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach.

Verlag:

Köln: Studio 1995. 162 S. gr.8° = Kirchenmusikalische Studien, 2. DM 42,­. ISBN 3-89564-013-1.

Rezensent:

Don O. Franklin

Michael Märkers als Band 2 der von Friedrich Wilhelm Riedel herausgegebenen Kirchenmusikalischen Studien (1995) vorgelegte Untersuchung (Habilitationsschrift der Universität Leipzig, 1990) hat eine Form der protestantischen Kirchenmusik zum Thema, mit der sich zum letzten Mal Hans-Olaf Hudemann in der 1941 erschienenen Veröffentlichung "Die protestantische Dialogkomposition im 17. Jahrhundert" auseinandergesetzt hat. Wie schon der Untertitel von M.s Untersuchung andeutet, setzt sich der Autor hauptsächlich mit den musikalisch-stilistischen Eigenschaften der Dialogkomposition auseinander, wobei er vor allem deren "autonome Struktur" (4) hervorhebt: "Vielmehr muß die Musik im Sinne einer autonomen Struktur ernst genommen werden und nach ihren eigenen Komponenten und Gesetzlichkeiten befragt werden". Im Sinne von Wolfram Steinbecks Ruf nach "Studien zur immanent musikalischen Konzeption des Werkes und seiner kompositionsgeschichtlichen Bedeutung" (Schütz-Jahrbuch 1990) betont M.: "Erst auf dieser Grundlage kann die Verbindung, die Musik und Text (der ja ebenfalls eigenen Gesetzlichkeiten zu folgen hat) miteinander eingehen, gewürdigt und zugleich deren Konsequenzen für jede der beteiligten Seiten aufgezeigt werden".

Obwohl sich der Autor auf die Dialoge in ihrer Funktion als "musikalische Kompositionen" und in gewissem Ausmaß auch auf die Natur der Texte konzentriert,berührt er in diesem Zusammenhang auch theologische Problemkreise. In den meisten Fällen fußen diese Querbindungen allerdings auf Sekundärquellen und werden zu häufig in einer eher verwirrenden denn erklärenden Art und Weise eingeschaltet.

Zum Beispiel bemerkt M. im Abschluß jenes Teils der Einführung, die sich mit den "Theologischen Grundlagen" befaßt (13): "Unter dem Einfluß des Pietismus gewann der Dialog aber auch als homiletisches Prinzip an Bedeutung". M. bezieht sich hier auf Winfried Zellers "Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts" (1962), scheint aber in den vorangehenden Paragraphen das, was Zeller als "neue Frömmigkeit" bezeichnet hatte ­ welche zu Beginn des 17. Jh.s in Erscheinung tritt ­ mit dem Pietismus gleichzusetzten, dessen Erscheinen jedoch erst später in jenem Jahrhundert angesetzt wird. Auch wenn theologische Fragen in M.s Untersuchung keine zentrale Position einnehmen, hätte ein eindeutigerer Gebrauch relevanter Terminologie wesentlich zum Erfolg seines Unternehmens beigetragen.

In seiner zentralen stilkritischen Analyse untersucht der Autor repräsentative Kompositionen aus der Blütezeit des Dialogs, also der Zeitspanne von etwas über hundert Jahren von 1620 bis 1730. Kommentar und Analyse beschränken sich hauptsächlich auf eine Untersuchung von Form und Stil, ziehen jedoch auch häufig die Struktur der Texte in Betracht. Ein sich wiederholendes Motiv in diesem Zusammenhang ist die Weise, in der das Hohelied Salomos als Prototyp für verschiedene Formen des "geistlichen Gesprächs" verstanden werden kann, besonders jener des Jesus-Seele Typus. Dies wird zum Beispiel an der Sammlung "Dialogi oder Gespräche zwischen Gott und einer gläubigen Seele" (1645) von Andreas Hammerschmidt ersichtlich gemacht. (Hammerschmidt ist neben Johann Ahle und Wolfgang Briegel einer von drei Komponisten, mit denen sich M. im Abschnitt "Sammlungen von Gesprächen auf Evangelientexten ­ Das Klassische Dreigestirn des protestantischen Dialoges" befaßt). M. analysiert nicht nur repräsentative Stücke aus Hammerschmidts Sammlung, sondern untersucht auch deren Texte und hebt hervor, daß eigentlich weniger als die Hälfte davon Gespräche zwischen Jesus und der Seele darstellen, während die anderen Dialoge zwischen gleichgepaarten verschiedenen Gesprächspartnern stattfinden. Darüber hinaus verdeutlicht der Vf. den engen Zusammenhang, der zwischen den Texten und den Perikopen des Kirchenjahres besteht. Dort, wo der Autor die Dialoge in ihrer Doppelfunktion als Text und Musik beleuchtet und sie solcherart in einen liturgischen Kontext stellt, vermittelt er besser als anderswo in seinem Buch ein Gefühl für den wahren Zusammenhang, in dem diese besondere Art der Kirchenmusik komponiert und aufgeführt wurde.

Bei der Musik von Buxtehude wirkt diese Annäherung weniger befriedigend. Ein besseres Verständnis wird wiederum vom unklaren Gebrauch theologischer Termini verstellt.

In dem Abschnitt "Dialog unter dem Einfluß pietistischer Jesumystik" beruft sich M. auf Martin Gecks "Die Vokalmusik Dietrich Buxtehudes und der frühe Pietismus" (1965), aber die folgende Analyse der Musik bezieht sich kaum oder gar nicht auf pietistische Einflüsse. Jüngere Untersuchungen über die pietistische Natur von Buxtehudes Musik fallen außer Betracht, wie zum Beispiel der entgegengesetzte Standpunkt in Kerala Snyders "Dietrich Buxtehude: Organist in Lübeck" (1987), oder Friedhelm Krummachers ausgeglichene Analyse "Die Choralbearbeitung in der protestantischen Figuralmusik zwischen Prätorius und Bach" (1978, 409 ff.).

Darüberhinaus entgeht dem Autor, indem er sich zu ausschließlich auf des Komponisten Gebrauch von Dialogen konzentriert, häufig deren Beziehung zu und Zusammenspiel mit anderen Werkformen, wie zum Beispiel dem Konzert, dem Choral und der Arie, welche Buxtehude (wie Bach nach ihm) oft in einem vielteiligen Ganzen miteinander verknüpft. Mit Hinblick auf das "Herr, ich lasse dich nicht," BuxWV 36, zum Beispiel, hebt M. ganz richtig hervor, daß das Werk nicht den inhärenten intensiven Konflikt im Kampf Jakobs mit dem Engel (Genesis 32) einzufangen sucht, erwähnt jedoch nicht die musikalisch-dramatische Spannung, welche das Stück durch den konzertanten Einsatz zweier kontrastierender Instrumentalgruppen erfährt.

Bei seiner Untersuchung der Dialogkompositionen J. S. Bachs, die den dritten Teil des Werks einnimmt, bewegt sich M. auf festerem Boden als bei Buxtehude. Nach einer Einteilung von Bachs Dialogen in 1.: Dialogkantaten, 2.: Tropierende allegorisierende Dialogsätze in geistlichen Kantaten, darunter in Arienform und Rezitativform, 3.: Dialogsätze in geistlichen Kantaten ohne Allegorisierung, darunter mit Choralanteil und ohne Choralanteil, 4.: reale Dialoge in oratorischen Werken und 5.: Dialoge in weltlichen Kantaten, widmet M. seine besondere Aufmerksamkeit den Dialogkantaten (Kantaten 32, 49, 57, 58 und 60). Er greift auf seine beträchtliche Erfahrung bei der Beschreibung der Beziehung zwischen vokalen und instrumentalen Praktiken untereinander in Bachs Arien zurück (das Thema seiner Dissertation von 1984 und des Artikels in "Musica" von 1987) und bietet eine Analyse der Werke, die Bachs Gebrauch ­ und Modifizierung ­ des Dialogprinzips in Zusammenhang mit obligaten und konzertierenden Instrumenten und dem Choral umfaßt. Ebenfalls einsichtsvoll ist seine Diskussion des Einflusses des Hoheliedes auf Thematik und Text der ersten vier genannten Werke, die alle innerhalb weniger Monate voneinander im Zeitraum 1726-27 entstanden und alle Formen des "allegorisierten Jesu-Seele Dialogs" enthalten. Für den Bach-Interessierten, der die Quellenlage der Kantatentexte studiert, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß zwei der fünf Libretti (ein weitaus größerer Prozentualanteil als bei den Kirchenkantaten insgesamt) ursprünglich in Georg Lehms "Gottgefälligem Kirchen-Opffer" von 1711 erschienen, dabei der Text für Kantate 32 unter der Rubrik "Nachmittags-Andacht. Auf den ersten Sonntag nach der Offenbarung Christi. Jesus/Seele".

Wenn M. abschließend sich nur wenig über Bachs Beitrag zur Geschichte der Dialogkomposition äußert, befaßt er sich damit an anderer Stelle, in einem Aufsatz mit dem Titel "Die Tradition des Jesus-Seele-Dialoges und ihr Einfluß auf das Werk Bachs" (Beiträge zur Bach-Forschung, Heft 9/10, 1991, 241) ausführlicher: "Neu sind jedoch die schon vorher nicht im Sinne von Gattungen fixierten musikalischen Lösungen des Jesus-Seele Dialoges. Sie bündeln sich einerseits in der eigenständigen Dialogkantate, deren schmale Tradition im Falle des Jesus-Seele-Dialogs hauptsächlich durch Hammerschmidt und Buxtehude befördert worden ist, und andererseits in Einzelsätzen von in der Regel besonderem musikalischen Gewicht, die in nicht-dialogische Kantaten integriert sind".

Eine Einschätzung des hier vorliegenden Werkes, fast 10 Jahre nach seiner Entstehung, ergibt, daß sein Hauptbeitrag in der musikalischen Analyse Bachs im Schlußteil des Bandes und der Besprechung von Hammerschmidts Musik besteht, worin sich auch eine nützliche Grundlage für weitere Forschung bietet. Jene Leser, welche die Rolle des Dialogs in einem breiteren historischen und theologischen Kontext zu verstehen wünschen, müssen einer weiteren, weniger musikalisch ausgerichteten Darstellung entgegenharren, welche zweifellos Michael Märkers Untersuchung sehr verpflichtet sein wird.