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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

169–171

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lexutt, Athina

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung im Gespräch. Das Rechtfertigungsverständnis in den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41.

Verlag:

Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 299 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 64. Geb. DM 84,­. ISBN 3-525-55172-X.

Rezensent:

Wilhelm H. Neuser

Zum ersten Mal werden die wichtigsten Dokumente zur Rechtfertigung, die sowohl von evangelischer wie katholischer Seite verfaßt worden sind, zusammengestellt und erläutert. Dies ist in der Literatur bisher in dieser Vollständigkeit nicht geschehen. Aus der Vorgeschichte werden die Confessio Augustana (CA) 1530, die Confutatio 1530, die Apologie der CA 1530/31, die deutsche CA 1533, die Loci Melanchthons 1533 und 1535 (nicht: 1536, S. 50), die Schmalkaldischen Artikel 1537 und der Leipziger Einigungsentwurf 1539 behandelt. Zur Geschichte selbst gehören das Wittenberger Gutachten vom Januar 1540, die Stellungnahmen J. Fabris, Fr. Nauseas, die CA 1540, das Protokoll der evangelischen Vorgespräche im November 1540, die vier Gutachten der Altgläubigen zur CA vom Dezember 1540 und sodann das Wormser Buch und seine Weiterentwicklung bis zum Regensburger Buch 1541. Jedes Stück wird ­ unter Einbeziehung des Artikels von der Erbsünde ­ gründlich analysiert und gewertet. Diese Wertung erfolgt am Maßstab des "sola fide", des Ausspruchs Luthers "simul iustus, simul peccator" (55, 68, 166) und des "sola gratia". Das Ergebnis ist, daß die Texte von Worms und Regensburg dem reformatorischen Bekenntnis nicht genügen können, die Vermischung evangelischer und katholischer Lehre übrigens auch nicht der katholischen Seite (abgesehen von Contarini). Dieses Programm ist klar durchgeführt und kommt zu klaren Ergebnissen.

Indessen wird der reformatorische Maßstab auf Kosten der historischen Richtigkeit gewonnen. Das "reformatorische" Rechtfertigungsverständnis findet die "einzig angemessene Interpretation" im sola fide (137 u. ö.). Der Maßstab des Reformatorischen ist immer Luther und die CA 1530. Dabei ist die reformatorische Vielfalt übersehen, die seit H. Heppes Schriften fester Bestandteil der Reformationsforschung ist. Die Hessen, Bucer, Calvin u. a. sind ebenso "reformatorisch" wie die Wittenberger. Auch bleibt unerwähnt, daß die CA 1540 in Worms von jedem einzelnen Theologen angenommen wurde und sie durch die Überreichung an den Vertreter des Kaisers offizielles protestantisches Bekenntnis war. Die in Worms und Regensburg verhandelnden evangelischen Theologen waren zuerst an die CA 1540 gebunden (s. auch W. H. Neuser, 450 Jahre Confessio Augustana Variata. Das "verbesserte" Augsburger Bekenntnis von 1540 als Dokument kirchlicher Einigung und protestantischer Identität, in: BPfKG 59, 1992, 53-62). Melanchthons Variata wiederum ist ein typisches Beispiel seiner Theologie. Man kann darauf hinweisen, daß Melanchthons Rechtfertigungsverständnis der 1530er Jahre intensiver untersucht werden sollte (73, 127). Fest steht aber, daß Melanchthon in den Loci communes 1535 (in den Fußnoten 69-72 muß es immer CR XXI statt XXVI heißen) lehrt, "Homo iustificatur fide et operibus, hoc est pronunciatur iustus seu habet iustitiam utramque, quam debet habere fidei et operum" (72; ähnlich die Variata 123). Das Wort Werkgerechtigkeit verwendet er damals ebenso wie Bucer und Calvin. Für die Glaubensgewißheit zählt bei ihnen nur die Glaubensgerechtigkeit, aber die genannten Reformatoren wollen die Bibelstellen über die "guten Werke" nicht mehr den Katholiken überlassen und lehren nun eine doppelte Rechtfertigung. Diese Tatsache wird von der Vfn. nicht unterschlagen, aber heruntergespielt: "gegen (Melanchthons) Absicht" war Raum für ein Mißverstehen gegeben (71, 120), die Differenzierung beider Gerechtigkeiten sei "unscharf" (72), Art. IV der Variata sei "nur teilweise geglückt" bzw. "Melanchthon nicht zur Zufriedenheit gelungen" (122) und besitze "Doppelbödigkeit" (124). R. Stupperichs Entdeckung, daß Erasmus eine doppelte Gerechtigkeit lehrt und diese Lehre zahlreiche Theologen beider Konfessionen beeinflußte, wird unterschlagen (46-49). Gewiß verstanden beide Seiten unter dieser Lehre nicht dasselbe, aber die Annäherung ist nicht zu übersehen.

Festgestellt wird, daß die Exklusivformel sola fide zurücktritt zugunsten des ebenfalls exklusiven Begriffs gratis oder gratia. Durchgehend wird die These vertreten, das sola fide sei eindeutig, das gratis oder sola gratia nicht (90, 104, 112). Leider wird dem Begriff gratia nicht nachgegangen. Sonst wäre deutlich geworden, daß gratia bei den Katholiken eine sakramentale Kraft (gratia infusa) ist, mit deren "Hilfe" der Sünder gerecht wird und die zu guten Werke befähigt. Evangelischerseits ist gratia zuerst "favor Dei", die nur durch die Verkündigung zum Menschen kommt und rechtfertigt; so Melanchthon in den Loci communes, der diese Erkenntnis von Luther hat. Homo "pronunciatur iustus" (s. o.). Die promissio oder "Gnadenzusage" (51, 120) wird verschiedentlich erwähnt, aber die reformatorische Worttheologie nicht beachtet.

Insgesamt ist festzustellen, daß die Untersuchung des Themas gradlinig und intensiv durchgeführt wird, die Sachlage aber diffiziler ist, als angenommen wird. Die Vfn. vergißt auch zu bemerken, daß der Rechtfertigungsartikel des Regensburger Buches von den anwesenden Theologen angenommen wurde, auch von den evangelischen. Es genügt nicht, die Ablehnung Luthers und anderer anzuführen. Aber von den im November 1540 in Worms disputierenden evangelischen Theologen heißt es bereits in schöner Unbekümmertheit: "bei den Vorgesprächen mißlang genau dies (sc. die guten Werke zu postulieren, ohne sie in den Rechtfertigungsprozeß als causa zu integrieren) weitgehend, was ... daran lag, daß ... in erster Linie solche Theologen disputierten, die selbst an entscheidender Stelle zur Unschärfe neigten und dazu, die Radikalität des ’sola’ aufzugeben" (148). Der Vfn. ist indessen zuzustimmen, daß das ökumenische Gespräch heute nicht "euphorisch" geführt werden solle (22). Es wäre interessant gewesen, wenn sie aus der im Literaturverzeichnis angeführten Schrift "Lehrverurteilungen ­ kirchentrennend?" (1986) den Rechtfertigungsartikel analysiert hätte.

Einige künstliche Wortbildungen im ersten Teil des Buches stören ("jeder Druck auf Rechtfertigung" 29, "scheint eine nochmalige Aufarbeitung müßig" 51, "das reformatorische Zusammen" 59, "zuzuwirken" (cooperare?) 77, "nicht bloße, sondern notwendige Früchte" 121, "Uneinheit der Katholiken" 151 u. a.).