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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

165 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Henze, Barbara

Titel/Untertitel:

Aus Liebe zur Kirche Reform. Die Bemühungen Georg Witzels (1501-1573) um die Kircheneinheit.

Verlag:

Münster: Aschendorff 1995. VIII, 430 S. gr.8° = Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 133. DM 138,­. ISBN 3-402-03795-5.

Rezensent:

Hansgeorg Molitor

Der Titel dieser am Lehrstuhl des Freiburger Kirchenhistorikers Smolinsky entstandenen theologischen Dissertation bezeichnet den Gegenstand genau: Es geht der Vfn. weder um eine umfassende Biographie noch um eine Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk des zeitgenössisch wie in der Literatur oft verkannten eminenten katholischen Theologen des konfessionellen Zeitalters Georg Witzel, der einen Weg zwischen den von ihm selber so genannten "sektischen" und "papistischen" Positionen suchte. Sie verfolgt vielmehr Witzels Anstrengungen, der sich in Konfessionen spaltenden Kirche den Weg zurück zur Einheit zu bereiten. Dieser Weg kann für ihn nur ein Weg der Reformen sein. Witzels Antrieb ist in der Tat die Liebe zu der Kirche, die am Ende seines Lebens eine Konfessionskirche von dreien war, anders als zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit oder 1531 bei seinem Weggang aus dem damals noch kursächsischen Niemegk (bei Belzig) über das hessische Vacha ins mansfeldische Eisleben, wo er sich dezidiert auf die Seite der wenigen katholisch gebliebenen Familien stellte. Das Verlassen der Pfarrstelle in Niemegk war einerseits Beginn einer Phase beruflicher Unsicherheit, andererseits wertet die Vfn. das Wegzugsjahr zu Recht als den biographisch grundlegenden Einschnitt: In dieser Phase der Konfessionsbildung war für Witzel 1531 das Jahr der Entscheidung für die zu verbessernde Kirche des Papstes, der Bischöfe und des Kaisers.

Der Pflicht, über den Stand der Forschung zu berichten und den Leser mit der Biographie Georg Witzels vertraut zu machen, entledigt sich die Vfn. nicht in der üblichen Weise. Sie verbindet beide Aufgaben und bietet neben der kritischen Information bereits in diesem ersten Kapitel wichtige Anregungen für weitere Forschungen. Beim Bericht über die Arbeiten zu Witzel wird jeweils deren Quellenfundierung genau geprüft und nach den Bezügen zu den Haupttendenzen der Historiographiegeschichte gefragt. So zielt eine der in Frageform vorgetragenen Möglichkeiten, die positive Bewertung Witzels durch seinen ersten gründlichen Biographen, den fränkischen Pfarrer Georg Friedrich Strobel (Ý1794) zu erklären, auf einen Zusammenhang mit der Aufklärung. Auch hier zieht die Vfn. eine weitere Forschungen stimulierende Frage einer allzu schnellen These vor. Daß Witzels zeitlebens nachzuweisende Verehrung für Erasmus Joseph Lortz darin bestärkte, auch Witzel skeptisch bis ablehnend zu begegnen, erstaunt nicht. Dankenswerterweise kondensiert die Vfn. die von ihr eruierten reichen Belege für Witzels "Kontakte" (Briefpartner, Empfänger von Widmungen, sonstige Erwähnungen) nicht zu einigen wenigen Sätzen in einer trockenen biographischen Skizze, sondern präsentiert eine wohlgeordnete Datensammlung, die sich einmal in Gestalt eines präzise dokumentierten Verzeichnisses der Briefpartner und Widmungen, zum anderen in einer Reihe graphisch ansprechend aufgearbeiteten Statistiken präsentiert. Die Vfn. will mit diesen Daten ausdrücklich künftigen Biographen vor- und zuarbeiten.

Eine wohl noch wichtigere Dienstleistung ist die bibliothekarisch exakte Aufnahme (in alphabetischer Ordnung nach der mechanischen Wortfolge) nebst Einzelexemplarnachweis der gedruckten Werke Witzels im Anhang (308-411) im Rahmen des Quellen- und Literaturverzeichnisses. Letzteres bietet leider nur eine Auswahl besonders wichtiger Werke und erfüllt deshalb eine üblicherweise von Dissertationen erwartete Funktion, nämlich eine vollständige Zusammenstellung der Literatur auf neuestem Stand und zu bequemem Zugriff zu bieten, nicht. So ist man für einen kompletten Titelüberblick auf die umfangreichen und oft reiche Quellentexte bietenden Anmerkungen angewiesen. Das Werkverzeichnis wird jedoch zum unentbehrlichen Hilfsmittel für die Witzelforschung werden. Es geht weit über das Richter-Verzeichnis von 1913 hinaus, kommt dem VD 16, dessen einschlägige Vorarbeiten die Vfn. benutzen konnte, zuvor und dürfte handlicher und besser greifbar sein als dieses.

Im Hinblick auf das zentrale Anliegen Witzels, nämlich die Wiederherstellung der Einheit der Kirche, stellt die Vfn. sechs thematisch einschlägige Gutachten des Theologen und seine im Zusammenhang des Augsburger Interim-Reichstages 1547/48 entstandenen Schriften ins Zentrum ihrer Quellenanalyse. Chronologisch wird ein Bogen vom "Methodus concordiae" (1537) bis zum "Typus latinus" (1566), dem letzten Werk Witzels, gespannt. Neben dem Reichstag von 1547/48 ist ein anderes historisches Ereignis, das Nürnberger Religionsgespräch von 1539, Anlaß für Witzel, die Einheit der Kirche zu reflektieren. Nach dem Reichstag von 1555 denkt Witzel aber überhaupt nicht über die grundsätzlich veränderte Situation des Kaisers nach. Es wäre also falsch, Witzel als einen politisch denkenden Theologen zu bezeichnen.

Das zweite Kapitel ist den "Grundkonstanten der Theologie Witzels" gewidmet. Das dritte Kapitel kreist um die "Leipziger Formel" von 1539. Witzels Anteil an der Argumentation wird gegenüber Melanchtons Beitrag (Referat nach Pierre Fraenkel) hervorgehoben. Die Bedeutung der "Alten Kirche" spielt eine besondere Rolle. Im fünften Kapitel über das Interim von 1548, das Witzel verteidigte, erweist sich der Theologe als ein Fürsprecher kaiserlicher Aufsichtspflichten. Im sechsten Kapitel geht es um die letzten großen Gutachten Witzels, die man als Reformschriften im engeren Sinn bezeichnen könnte, die "Diaphora" von 1556 und die "Via regia" von 1566. Die knappe "Schlußbemerkung" faßt die Ergebnisse klar in durchnumerierte Thesen zusammen. Dieses Stilmittels, das die Aussage pointiert, den Lesegenuß aber nicht immer erhöht, bedient sich die Vfn. häufig.

Die wichtigsten Beobachtungen sind: Witzels Denken ist durchgehend christozentrisch. Die Alternative Schrift oder Werke existiert für ihn nicht. Die in der Schrift gegründete Liebe zu Christus muß in der Kirche und bei den Gläubigen wirksam und sichtbar werden. Die alte Kirche ist nicht die per se bessere. Auch steht die Autorität der Kirchenväter nicht über allen anderen. Sowohl den Verweisen auf die Ecclesia prior als auch der Berufung auf die Zeugenschaft der Väter haftet, so scheint es, oft etwas Funktionales, Taktisches an. Jedenfalls spielen diese beiden Momente immer dann eine Rolle in Witzels Argumentation, wenn Einwände zu erwarten und Gegenpositionen vorab zu widerlegen waren.

Im Spätwerk wird immer stärker die Reform als für die Kirche wesentlich und der Einheit ganz besonders dienlich postuliert. Das stete halsstarrige Beharren auf der Richtigkeit der eigenen Position sei nicht die einzig denkbare Verhaltensweise. Georg Witzel fand in der durchkonfessionalisierten Kirche immer schwerer Resonanz. Mit ihm wurden seine theologischen Entwürfe ausgegrenzt.

Der Vfn. dieses wichtigen und substantiell weiterführenden anregenden Buches ist es nicht nur gelungen, die Schablonen, nach denen die Forschung Witzel bewertet hat, beiseite zu räumen. Sie hat außerdem einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dem Menschen Witzel endlich gerecht zu werden und sein Werk als Chance zu begreifen, welche die Kirchen und Obrigkeiten des konfessionellen Zeitalters freilich nicht mehr zu nutzen vermochten.