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Ausgabe: | April/1999 |
Spalte: | 425 f |
Kategorie: | Christliche Kunst und Literatur |
Autor/Hrsg.: | Mund, Frank |
Titel/Untertitel: | Lebenskrisen als Raum der Freiheit. Johann Sebastian Bach in seinen Briefen. |
Verlag: | Kassel-Basel-London-New York-Prag: Bärenreiter 1997. 182 S. m. Abb. 8 = Musiksoziologie, 2. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7618-1351-1. |
Rezensent: | Ulrich Konrad |
Johann Sebastian Bach als genuinen Briefschreiber zu bezeichnen, die wenigen Schreiben aus seiner Hand gar als documents humains zu charakterisieren, wird nicht leicht einem Leser einfallen. Keine überragenden Zeugnisse einer starken Künstlerpersönlichkeit im Verkehr mit seinen Mitmenschen hat Bach hinterlassen, keine Werkstattberichte, die Einblicke in das Entstehen zentraler Kompositionen geben, auch keine Reflexionen über die Intentionen seiner Kun st.
An bedeutende Briefwechsel der Kulturgeschichte erinnern weder die Inhalte noch die Sprache der Bachschen Episteln. Gewiß, da ist der vielzitierte Brief (28.10.1730) an den Schulfreund Georg Erdmann mit dem Ausdruck des Mißvergnügens an der Leipziger Dienstposition. Auch der "Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music" (23.8. 1730), dem Rat der Stadt Leipzig unterbreitet, liefert dem Musikhistoriker anregenden Forschungsstoff. Aber den Menschen Bach bringen diese Zeugnisse dem Nachgeborenen nicht viel näher. Und wenn doch, dann drängen sich vor die wenigen anrührenden Momente konträre Empfindungen. Verständlich etwa der Ärger über die hohen Gebühren für ein halbleeres "Fäßlein Mostes", aber die buchhalterische Mäkelei darüber gegenüber dem Vetter Johann Elias Bach wird diesem die Lust am Schenken vergällt haben (2.11.1748). Dann die Briefe, die von Rechthaberei und übertriebenem Selbstbehauptungswillen in banalen Alltagsgeschäften zu strotzen scheinen: In besonders günstigem Licht stellt sich deren Autor eben nicht dar.
Derlei Einschätzungen, über die sich ein großes Bach-Publikum eher stillschweigend als ausgesprochen einig ist, dringen nach Ansicht des Musiksoziologen Frank Mund nicht tief genug in das emotionale Potential der Briefe ein. Dieses offenbart sich freilich nur, wenn mit speziellen Sonden zunächst nicht in deren Inhalte, sondern in die sprachliche Form eingedrungen wird. Als Probe aufs Exempel zieht M. nicht die allbekannten Schreiben, sondern die Dokumente aus dem sogenannten Präfektenstreit von 1736/37 heran.
Bei dieser Auseinandersetzung ging es, so knapp wie möglich ausgedrückt, um Bachs Befugnisse bei der Bestellung von Hilfskräften im Chorleiterdienst. Als Gegner Bachs trat der hochgebildete Schulrektor Johann August Ernesti auf den Plan. In der Rolle regulierender Behörden fungierten der Rat der Stadt Leipzig und das Königliche Konsistorium Leipzig; behelligt wurde außerdem Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen. Sieben Briefe Bachs in dieser Sache sind erhalten. Die Haltung der Gegenseite erschließt sich vornehmlich aus den Promemoriae Ernestis.
M.s "Kernfrage" an das aus Bachs Briefen erkennbar werdende Geschehen des Präfektenstreits lautet dahingehend, ob es für den Komponisten ein "kritisches Lebensereignis" bedeutet habe; mit diesem Terminus ist sowohl eine "umfassende beschreibende Kategorie zur Gliederung von Lebensläufen" als auch ein "wertvolles Konzept zur lebenslaufbezogenen Erklärung menschlichen Wandels und seines Bedingungsgefüges" (27) gemeint. Zur Beantwortung seiner Frage schlägt der Vf. "einen interdisziplinär erweiterten Forschungsansatz vor, im Kern sind das Verfahren der Textanalyse, die in ihrer Gesamtheit den Rückschluß vom Text auf den Textautor zulassen" (23). Demzufolge werden die Texte zunächst einer gründlichen linguistischen und sozialwissenschaftlichen Textanalyse unterzogen, deskriptiv die Schreibart und die Argumentation, inferentiell die "affektive Verfassung", die "kognitive Prägnanz in der Sprache" und das "Impression-Management".
Im anschließenden Kapitel, eingeleitet durch den Abdruck der Dokumente nach den Originalen, führt die genaue Betrachtung von Bachs Sprachgebrauch, Argumentationsweise und seiner "emotionalen Anspannung" zu dem Befund, es habe sich beim Präfektenstreit um ein "konfliktäres Geschehen" gehandelt, das die "ursprüngliche Sachbezogenheit verlor, sich personalisierte und als Konflikt für Bach auch direkt erlebbar war". Im Sprachverhalten Bachs zeige sich ein Angleich an die Sprachsituation des 17. Jh.s; derartiges Verhalten sei "weithin mit dem Selbstkonzept eines Menschen verbunden" (114 f.). Um dies im Falle Bachs besser verstehen zu können, werden die konkreten Lebensformen als "selbstkonzeptrelevante Sozialerfahrung" in den Vordergrund gerückt; zur Sprache kommen die unspezifische Lebensweise, Familienbedingungen sowie die Schul- und Berufsausbildung.
Das Schlußkapitel verdichtet die Einzelergebnisse des Untersuchungsgangs zur Aussage: "Johann Sebastian Bach vermochte im dargestellten Krisengeschehen am Ende der 1730er Jahre in Zeiten persönlicher Anfechtung und musikkultureller Umbrüche zu wählen und zu entscheiden als Amtsträger und Person, und er erlangte für sich in seinem Amt mehr Autonomie, als er zuvor sein eigen nennen konnte. Darin lag Bachs Lebenskunst." (155)
Das mit hohem methodischen Bewußtsein konzipierte Buch überrascht insofern, als es einige der Lebenszeugnisse Bachs nicht nur auf ungewöhnliche Weise interpretiert, sondern diese überhaupt auf eine wissenschaftlich durchaus einleuchtende Weise ernstnimmt. Wenn der Leser den Band dennoch mit einem zwiespältigen Gefühl aus der Hand legt, dann liegt das am insgesamt festzustellenden Mißverhältnis zwischen Untersuchungsaufwand und Erkenntnisgewinn. Nicht selten drängt sich der Eindruck eines Selbstlaufs der Meß- und Deutungsverfahren auf, ein Selbstlauf, dessen Gegenstand zum abstrakten Labormaterial verkümmert. Das zeigt sich auch in der Sprache dieser Studie: Der hier grassierende Jargon schlägt zuweilen erheblich über die Stränge (womit die Berechtigung einer wissenschaftlichen Fachsprache nicht bestritten sei). So verkehrt sich die alte Fremdheit der Texte unversehens in eine neue, und Bach, der Mensch, bleibt uns weiterhin fern.