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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

161–163

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Pollmann, Karla

Titel/Untertitel:

Doctrina Christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1996. XI, 285 S. gr.8° = Paradosis, 41. Lw. DM 64,­. ISBN 3-7278-1092-0.

Rezensent:

Heinrich Marti

Dies ist ein intelligentes und ein notwendiges Buch, und die Vfn. hat zudem die Begabung zu klarer Darstellung; jedes Kapitel erhält eine Zusammenfassung, ebenso das Gesamtwerk (245-249, noch ergänzt durch ein "Resumé" in drei Sprachen). Die Bibliographie geht den einschlägigen Editionen, Kommentaren, Lexika und der Sekundärliteratur mit Akribie nach (251-263); es besteht dabei der Wille, alle Sprachregionen zu berücksichtigen. Von Bedeutung ist auch das Stellenregister (Bibel: 265-267; Antike Autoren: 267-285 !).

Das Werk ist kein Wort-für-Wort-Kommentar der augustinischen Doctrina Christiana (DC) ­ wer von einzelnen Textstellen her kommt, muß den Weg über das Register beschreiten. Es geht darum, überhaupt "den Anfängen der christlichen Hermeneutik" (Titel) gerecht zu werden, das heißt: auch die Grundlagen zu schaffen, Augustins Leistung für die allgemeine hermeneutische Diskussion angemessen zu würdigen. Zu diesen "Anfängen" gehören einzelne Stellungnahmen von Häretikern (besonders Manichäer und Donatisten), die sieben "Regeln" des (oft unterschätzten) Halb-Donatisten Tyconius und die vier Bücher des in zwei Etappen erarbeiteten Hauptwerks von Augustin sowie mehrere Partien aus seinen übrigen Schriften, zum Beispiel De magistro (Briefe und Predigten werden von der Vfn. weniger benützt, bei dieser theoretischen Problematik kaum zu Unrecht).

Die Hermeneutik ist eigentlich kein antikes Fachgebiet, etwa neben Rhetorik und Grammatik oder als Bestandteil der Philosophie. Doch zeigt sich offenbar, insbesondere bei Christen, gegen Ende des 4. Jh.s das Bedürfnis, die Prinzipien des Verstehensvorgangs von Texten zu reflektieren, und das ’Regelbuch’ (Liber Regularum ) des Nordafrikaners Tyconius, etwa 383 entstanden, scheint das erste hermeneutische Grundlagenwerk des Abendlandes zu sein ­ bald (396/97 bzw. 426/27) gefolgt von Augustins DC. Nordafrika war offenbar der geistige Raum, in welchem diese Problematik besonders virulent wurde, sei es wegen heftiger theologischer Streitigkeiten um die testimonia der Heiligen Schrift, sei es wegen einer besonderen Ferne zur griechischen Sprachwelt (Neuplatonismus oder Origenes wirkten sich dort, vor Augustin, wenig aus). Die Manichäer "kritisierten die Katholiken wegen ihres vernunftlosen Glaubens" und entwickelten "einige ’historisch-kritische’ Maßstäbe, die auch in der heutigen Exegesepraxis noch anerkannt sind" (19) ­ und neben der so relativierten Autorität der Bibel wurde von ihnen ein neuer Mythos aufgebaut. Die Donatisten betonten die "Sakramentalität der Bibel" und bevorzugten Literalsinn und Typologie. Auch die Diskussionen mit Pelagius warfen ihre Schatten voraus (Kap. II 3). Den Häresien ist generell eine sehr "weltimmanente Haltung eigen" (31). Was den rätselhaften Tyconius betrifft, so klärt die Vfn. zuerst den Begriff regula (mit dem Hintergrund von Jurisprudenz und Grammatik) und die Literaturgattung eines liber regularum, sodann bespricht sie den wichtigen Prolog und die 7 Regeln, die sich ja zum Teil gegenseitig überschneiden; offenbar ist es eine Hauptleistung dieses hermeneutischen Versuchs, die "Synekdoche" als wohl wichtigste Auslegungsfigur erkannt und dargestellt zu haben. Die synekdochische Denkweise ist jedem Verstehen inhärent, und der Einzelgänger Tyconius hat dies zum ersten Mal aufgewiesen (wie die Vfn.schon früher in einem italienischen Aufsatz darlegte: "La genesi dell’ermeneutica nell’ Africa", Studia Ephemeridis Augustinianum, Rom 1994, 232-251).

Die Annäherung an das hermeneutische Hauptwerk der Epoche (DC) erfolgt in Kap. IV: Es geht dabei primär um eine Situierung im zeitgenössischen Kontext, d. h. um die Erfassung des Kreises der potentiellen Adressaten und der potentiellen Gegner eines solchen Lehrbuchs (z. B. der sog. ’Charismatiker’, die Gottes Wort frei von jeglichem theologischen oder philologischen Wissens-,Kram’ zu vernehmen glauben: vgl. DC-Prolog; am ehesten sind Asketenkreise ins Visier genommen ­ Cassian käme als ihr Exponent in Frage). Bekanntlich vertritt Augustin den nüchternen Standpunkt, daß sprachliche Kommunikation (mit all ihren Problemen) zur condicio humana gehört.

Auch die positive Umschreibung der angesprochenen Leserschaft bereitet der Forschung Mühe: welche "Privat-Gebildeten", welche Priester oder Landbischöfe hat Augustin eigentlich im Blick? Hat es damals ein still lesendes Publikum gegeben? Auch die Antworten von der Vfn. (vgl. 71) sind mehr Versuch als Ergebnis ­ was ihr nicht angelastet werden sollte. In der Tat muß es aber auch für lediglich schriftlich formulierte Predigten, etwa bei Übersetzungen aus griechischen Werken, ein interessiertes Publikum gegeben haben. Möglicherweise wird es der Forschung einmal noch gelingen, diese ’Lese-Welt’ (auch in der Umgebung eines Hieronymus oder Rufin) genauer zu erfassen.

Ein weiteres Anliegen dieses grundlegenden Kapitels ist die "funktionsgeschichtliche Einordnung von DC", also die Bestimmung der Gattung, der Aufweis der "dihäretischen Durchgeformtheit" (90), die Funktion eines Lehrbuchs, Vergleiche mit ähnlichen Unternehmungen von heidnischer (Macrobius, Nonius) oder christlicher (Origenes, De principiis) Seite. Auch der Titel mit dem Kernbegriff doctrina wird analysiert. Als Umschreibung bringt die Vfn. den Vorschlag (106): "Über die christlich gebotene Methode der Wissensaneignung und -vermittlung".

Als nächstes bespricht die Vfn. Augustins Prolog, seine Lerntheorie, das Buchstabengleichnis (prol. 18) und das grammatische Verständnis von ’Schrift’ in der Antike. Damit ist der Weg frei für eine genauere Betrachtung der vier Bücher DC 1-4. Zentral ist das caritas­Konzept, das "praktisch-ethische und kognitiv-hermeneutische Aspekte impliziert" (126). Die Vfn. untersucht die augustinischen Facetten des Begriffs caritas, analysiert die (damit verknüpfte) Antithese uti/frui, blickt dabei auch auf den andersartigen "aristotelischen und stoischen Selbstgenuß der eigenen moralischen Perfektion" (129) und findet immer wieder glückliche Formulierungen für fundamentale Probleme der spätantiken Geistesgeschichte.

Ein Beispiel (130): "Die plotinische Theorie geht, ganz in antiker Tradition stehend, von einem menschenzentrierten Ansatz aus, während bei Augustin die Ethik theozentrisch ist".

In solchem Kontext ist ja auch der in der Forschung längst intensiv diskutierte ’Zeichen’-Begriff Augustins von Bedeutung ­ und die signa sind das "hermeneutische Instrumentarium" von DC 2 und 3. Es läßt sich zeigen, daß alle vier Bücher eng miteinander verwoben sind, also DC 2/3 nicht isoliert zu betrachten sind. Zur Debatte stehen: res, signum (semeion), verbum, die ’Bibel’, der Einfluß der Rhetorik. Auf die klaren Darlegungen der gesamten Problematik sei hier lediglich kurz verwiesen!

In DC 3, 30-37 hat Augustin das Regel-Buch des Tyconius rezipiert (nachdem er sich dies dreißig Jahre überlegt hat). Nochmals werden nun (196-215) die 7 Regeln durchgelesen ­ mit den Augen Augustins. Es ist erstaunlich, wie liberal der Bischof von Hippo die Anregungen des Vorläufers aus einem ’anderen Lager’ aufnimmt: Tyconius paßt in den Zusammenhang von DC 3, und Augustin will seine Leserschaft ­ zum Teil korrigierend ­ in das für alle bedeutsame Regel-Werk einführen.

Wer DC 4 liest, wendet sich dem modus proferendi zu und gerät damit in die Nähe der Rhetorik. Augustins eloquentia- Ideal ist in manchen Punkten mit Cicero und Quintilian zu vergleichen; sein Ziel ist aber eine persuasio, die obligat in ein echt christliches agere mündet. Die Vfn. verwendet ­ bewußt: s. S. 222 A.28 ­ die sehr allgemeine Etikette "christlicher Redner", was "jegliche schriftliche oder mündliche Verkündigung von Schrifterklärung" einschließen soll.

Auch hier (wie beim Problem ’Leserschaft’) besteht die Schwierigkeit, konkret und lebensnah zu beschreiben, wer eigentlich ’christlicher Redner’ ist: der Exeget, Katechet, Prediger, Lehrer. Etiketten gibt es viele ­ aber ihr realer Gehalt ist nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen (doch geht es uns beim ’orator Romanus’ der Spätantike nicht besser!). Damit hängt wohl zusammen, daß die "Mischbarkeit der Stile" (an sich ein altes Problem) in DC 4 eingehend reflektiert wird.­ Die Vfn. hat die Gabe, auch für teilweise offene Fragen eine elegante Formulierung zu finden: "Die ... christliche Abkehr von der in der Spätantike hauptsächlich unter formalen Gesichtspunkten praktizierten Rhetorik führt zu einer Wiederaufwertung des inhaltlichen Anliegens der eloquentia, die jetzt aber nicht mehr politische, sondern kerygmatische Wirkungsräume hat" (244). Sicher richtig, aber recht abstrakt.

Die Gesamt-Zusammenfassung (245-249) würdigt nochmals den universalen Anspruch Augustins und eröffnet kurz einen Durchblick auf die Lehre vom "vierfachen Schriftsinn" des Mittelalters. Das Fragezeichen, ob DC "A Classic of Western Culture" sei (so in dem von D. W. H. Arnold und P. Bright herausgegebenen Sammelband, Notre Dame/London 1995) dürfte, nach Pollmanns Buch, endgültig erledigt sein. Der Weg ist nun frei, Augustins Doctrina Christiana neu zu lesen ­ und besser zu verstehen.