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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

153–155

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Palmer, Gesine

Titel/Untertitel:

Ein Freispruch für Paulus. John Tolands Theorie des Judenchristentums. Mit einer Neuausgabe von Tolands ’Nazarenus’ von Claus-Michael Palmer.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 1996. 184 S. 8° = Arbeiten zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, 7. Geb. DM 37,80. ISBN 3-923095-89-9.

Rezensent:

Martin Friedrich

Das vorliegende Buch, eine philosophische Dissertation, schreitet einen weiteren Horizont ab, als der Titel vermuten läßt. Zwar steht im Vordergrund eine Analyse von John Tolands Werk "Nazarenus" von 1709/18 und insbesondere seiner Rekonstruktion der urchristlichen Verkündigung, die auf dem kurz zuvor entdeckten Barnabas-Evangelium basierte. Die Vfn. begnügt sich aber nicht mit der rein historischen Arbeit, sondern nimmt Tolands Kritik am christlichen Antinomismus positiv auf und profiliert sie mit sachkundigen Exkursen zur Rolle des Gesetzes im antiken Rom. Schließlich verbindet sie damit Hermann Cohens Kritik an der Unterscheidung von Legalität und Moralität und empfiehlt der christlichen Dogmatik eine Rückgewinnung des politischen Gesetzesbegriffs der Antike. Gerade mit diesen Passagen dürfte sie wichtige Diskussionen auslösen.

Schon die Rekonstruktion von Tolands eigentlicher Aussageabsicht ist ein anspruchsvolles Unterfangen, weil er seine Hauptthesen in frühaufklärerischer Manier oft nur verschlüsselt darbieten konnte. P. diskutiert die methodischen Probleme und versucht sie zu lösen durch einen Vergleich mit einem in der Toland-Forschung schon gelegentlich herangezogenen Manuskript, das eine französische Übersetzung der Urfassung des Nazarenus enthält. Eine scharfsinnige Analyse des Gebrauchs der Begriffe "justify" und "justification" ergibt, daß die kirchliche Rechtfertigungslehre mit ihrer Gesetzeskritik verworfen wird, während "to justify" gerade aussagt, daß jemand in Übereinstimmung mit dem für ihn gültigen Gesetz handelt. Die Favorisierung des gesetzestreuen Judenchristentums gegenüber dem antinomistischen Heidenchristentum ergibt sich für Toland nicht aus prinzipiellem Philosemitismus, sondern aus seiner Hochschätzung des Gesetzes als des Existenzgrundes der "mosaischen Republik". Die erklärt P. wiederum aus den politischen Intentionen Tolands, der seiner Gesellschaft ebenfalls eine Balance von Gleichheit und Verschiedenheit auf der Grundlage eines allgemeinverbindlichen Gesetzes empfahl.

Damit nahm er das Gesetzesverständnis aus der Zeit der römischen Republik wieder auf, während der frühchristliche Antinomismus sich ideologiekritisch gegen den Imperialismus der Kaiserzeit wandte, dabei aber ungewollt das Judentum als überholte Gesetzesreligion ausgrenzte. Toland plädiert nun für eine Repolitisierung des Gesetzesbegriffes, die allein eine stabile Verfassung sichern kann. Das Judentum erkennt er dabei ebenso wie die christlichen Kirchen als partikulare Körperschaften, die ihr eigenes Gesetz pflegen, zugleich aber dem Staat als Garanten des Naturrechts unterworfen sein sollen. Erst mit dem vorletzten Kapitel wendet sich P. der in ihrem Obertitel genannten Thematik zu. Sie hält es für unwahrscheinlich, daß Toland wirklich ernsthaft meinte, Paulus für sein Programm eines gesetzestreuen Judenchristentums in Anspruch nehmen zu können, konfrontiert aber dennoch seine Paulusdeutung mit einigen gegenwärtigen Ansätzen (Wechsler, von der Osten-Sacken, Räisänen, Kippenberg). Im abschließenden Kapitel resümiert sie dann, daß Tolands positive Wertung des Judenchristentums nicht nur den Bemühungen um eine Theologie nach Auschwitz entgegenkommt, sondern auch den Bemühungen um eine zivile Gesellschaft, in der nicht eine unreflektierte christliche Gesetzeskritik ungewollt totalitären Regimen Vorschub leistet.

Eine umfassende Bewertung kann hier nicht gegeben werden; die neutestamentlichen und systematischen Aspekte sollten von Sachkundigeren diskutiert werden. Zumindest muß man der Vfn. große Belesenheit, dialektische Gewandtheit und denkerische Originalität zugestehen. Die historische Arbeit bleibt dagegen etwas auf der Strecke. Tolands "Nazarenus" wird nicht annähernd ausschöpfend behandelt, die Einordnung in seine Zeit bleibt sehr rudimentär. Dagegen neigt P. dazu, gegenwärtige Fragestellungen schon bei Toland angelegt zu sehen, ohne immer überzeugen zu können. In einer Anmerkung versteckt ist die plausiblere Einsicht, daß seine Wertschätzung des mosaischen Gesetzes sich primär der Bewunderung für Cicero verdankt (146). Auch die Frage, wie weit Toland mit seinen deistischen Begriffen überhaupt als Erneuerer des Christentums empfohlen werden kann, wird nicht weiter reflektiert. Fragwürdig ist auch die Art, wie Luther (mit Toland) als Exponent eines unpolitischen Antinomismus gesehen wird. Bei dem mit anderen Werken herangezogenen von der Osten-Sacken (Katechismus und Siddur, 1984) hätte P. lernen können, daß sich die Rolle des Gesetzes auch bei ihm differenzierter darstellt. Daß auch ihre Kenntnis von der Aufklärungstheologie lückenhaft ist, wird übrigens schon daran deutlich, daß sie Johann Salomo Semler kurzerhand mit dem zusätzlichen Vornamen "David" belegt (156.208), weil sie sich offenbar auf das D. (= Doktor) auf einem Buchtitel keinen anderen Reim machen konnte. Die Forschung zu Toland und zur Theologie des Deismus muß gewiß noch weitergehen, wozu auch die Edition des "Nazarenus" im zweiten Teil des Buches helfen wird.

Zur Edition ist zu sagen, daß sie den ältesten erhaltenen Druck des Werkes buchstabengetreu wiedergibt und im textkritischen Apparat Varianten der französischen Übersetzung der Urfassung nachweist. Auch die Erweiterungen des Drucks sind erkennbar, so daß der Vergleich beider Fassungen nun leicht vorgenommen werden kann. Auf einen kommentierenden Apparat wurde leider verzichtet. Ihn soll ein Anhang ersetzen, der zu den genannten zeitgenössischen Autoren nähere Angaben macht. Die sind jedoch bisweilen nichtssagend oder gar irreführend. Beispielsweise wird der zweimal erwähnte Baronius (97.103) mit einem völlig unbekannten irischen Franziskaner identifiziert, obwohl Palmer mit seinem letzten Satz selbst feststellt, daß der eigentlich nicht gemeint sein kann (178). Gemeint ist doch offenkundig Caesar Baronius, der Verfasser der berühmten "Annales ecclesiastici" (1588-1607).