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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

144–146

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Metso, Sarianna

Titel/Untertitel:

The Textual Development of the Qumran Community Rule.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1997. XI, 173 S., 13 Taf., 2 Faltbeilagen. gr.8° = Studies on the Texts of the Desert of Judah, 21. Lw. hfl 135,-. ISBN 90-04-10683-9.

Rezensent:

Jörg Frey

Die "Gemeinderegel" særækh hayyahad (S) gilt als einer der wichtigsten und für das Denken der Bewohner von Qumran bzw. der essenischen Gemeinschaft aufschlußreichsten Texte der Qumran-Bibliothek. Lange hat man den Charakter des Textes der einzigen bisher zugänglichen Handschrift 1QS anachronistisch nach dem Modell monastischer Ordensregeln als "Sektenkanon" verstanden und z. B. aus der literarkritischen Analyse des hier in dieser Handschrift bezeugten Textes Rückschlüsse auf Entstehung und Geschichte der Gemeinschaft von Qumran gezogen. Solange die textlichen Parallelen zu 1QS aus den in Höhle 4 gefundenen Manuskripten noch unerschlossen waren, beruhten all diese Urteile auf einer äußerst unsicheren Basis: Sie blieben beschränkt auf die Evidenz jener einen Handschrift, die sich ­ zufällig ­ unter den zuerst entdeckten befand und besonders gut erhalten war. Erst seit wenigen Jahren besteht die Möglichkeit, das gesamte S-Material aus den Höhlen 4 und 5 heranzuziehen und auf dieser Basis ein besser begründetes Bild der textlichen Probleme, der literarischen Entstehung und der historischen Bedeutung der in der Handschrift 1QS vereinten Textstücke zu entwickeln. Dieser Aufgabe stellt sich M. in ihrer 1996 in Helsinki angenommenen, aber zeitweise von Hartmut Stegemann in Göttingen betreuten Dissertation.

Die Arbeit ist angesichts der skizzierten Forschungslage als eine der bedeutendsten Einzelmonographien der neueren Qumran-Forschung zu werten.

Nach einer knappen Einleitung (1-11) bietet M. zunächst (13-68) eine minutiöse Beschreibung und ­ soweit aufgrund der erhaltenen Fragmente möglich ­ eine materiale Rekonstruktion sämtlicher Manuskripte, die Teile des S-Textes bzw. Parallelen zu 1QS enthalten (1QS mit 1QSa und 1QSb; 4QSa-j; 5Q11 und 5Q13 [Zitat aus 1QS]). Für alle Handschriften außer 1QS wird eine Transkription (ohne Übersetzung) und eine Diskussion der Varianten zu 1QS geboten. Für alle 4Q-Handschriften werden auf Tafeln Fotos beigegeben. Soweit sich für einzelne Schriftrollen noch die ursprüngliche Länge und die Position der erhaltenen Fragmente rekonstruieren läßt (für 4QSc.d.e.f), wird dies durch Rekonstruktionszeichnungen auf den beigefügten Faltbögen anschaulich gemacht. Im zweiten Teil (69-106) zeichnet M. auf der Basis der textlichen Differenzen zwischen 1QS und 4QSa-j die Linien der Textüberlieferung des S-Stoffes nach, bevor sie dann im dritten Teil (107-149) eine neue, gegenüber den älteren Hypothesen quellenmäßig besser begründete Sicht der literarischen Entwicklung des Regeltextes entwickelt. Ein kurzer Schluß (151-157) faßt die Resultate zusammen.

Diese belegen in eindrucksvoller Weise den Wert der von Hartmut Stegemann entwickelten und gelehrten Methode der materialen Rekonstruktion von Qumran-Rollen, mit der aus der materialen Beschaffenheit und Form der erhaltenen Fragmente, d. h. aus Nahtstellen, erkennbaren Regelmäßigkeiten der Beschädigungsspuren etc., die ursprüngliche Länge der jeweiligen Schriftrolle und die Lage der einzelnen Fragmente erschlossen wird. Auf diese Weise läßt sich ein Urteil darüber gewinnen, wieviel Text eine Rolle enthalten haben kann und welche Textstücke in einer Handschrift vorhanden waren oder ggf. fehlten.

Die etwa gleichzeitig mit 1QS (100-75 v. Chr.) angefertigte Handschrift 4QSc enthielt sehr wahrscheinlich nicht den Schlußpsalm von 1QS IX 26b-XI 22), mit dem jene schließt. Die etwas jüngere (letzte Drittel des 1. Jh.s v. Chr.) Handschrift 4QSd begann erst mit dem Stoff von 1QS V 1 und vertritt parallel zu 1QS V-VII eine wesentlich kürzere Textform. Auch 4QSe (50-25 v. Chr.) begann wohl erst mit dem Text von 1QS V 1 und enthielt an der Stelle des Schlußpsalms den kalendarischen Text 4QOtot. Von allen 4QS-Handschriften kann nur 4QSb sämtliche Teiltexte von 1QS enthalten haben. Eine Textparallele zu der berühmten Zweigeisterlehre 1QS III 13-IV 26 ist nur in 4QSc (fr. 2 und 13) tatsächlich belegt. In 4QSa fr. 3 und 4QSh fr. 2 will M. aufgrund einiger typischer Vokabeln einen der Zweigeisterlehre verwandten Text erkennen, eine wirkliche Textparallele liegt jedoch in beiden Fällen nicht vor. Sicher fehlte die Zweigeisterlehre in 4QSd und 4QSe.

Der detaillierte Vergleich der textlichen Differenzen zwischen 1QS und den 4QS-Parallelen ergibt, daß sowohl 4QSe als auch 4QSb.d je eine ältere Textform erhalten haben als 1QS. Demgegenüber kann die Textform von 1QS (in den Kolumnen V-IX) als ein Versuch gelten, beide Texttraditionen des Regelstoffes zusammenzuführen, den Stoff verstärkt auf die Existenz der Gemeinschaft zu beziehen und zusätzliche biblische Bezüge einzuführen, die in den älteren Textformen nicht enthalten waren. Aber auch dieses redaktionelle Unterfangen führte nicht zu einem einheitlichen, künftig "verbindlichen" Text der "Regel": Da 4QSb.d.e paläographisch jünger sind als 1QS, ergibt sich der beachtenswerte Sachverhalt, daß spätere Abschriften der S-Texte ältere Textformen und abweichende Bestimmungen (z. B. im Strafkatalog) erhalten haben.

Auf der Basis der vollständigen Auswertung der erhaltenen Handschriften kann M. nun auch die literarische Entwicklung des S-Stoffes rekonstruieren: Deutlich ist, daß sowohl der Schlußpsalm als auch der Stoff von 1QS I-IV nicht zum ursprünglichen Bestand der Regel gehörten. Auch im eigentlichen Regelteil scheinen die Abschnitte von 1QS V-VII und VIII-IX nicht von Anfang an verbunden gewesen zu sein. Mit guten Gründen vermutet M. nun, daß die kürzere Grundform von 1QS V-VII den Nukleus der Komposition bildete, die in 1QS V-IX bereits in einer redaktionell erweiterten Fassung vorliegt. Mit dieser Komposition verbanden sich dann in je unterschiedlichen Zweigen der Überlieferung weitere Texte: der kalendarische Otot-Text (in 4QSe), der Psalm (1QS IX 26b-XI 22), die Liturgie (1QS I 16-III 12) und die Zweigeisterlehre (1QS III 13-IV 26). M. unterscheidet somit 5 Versionen des S-Textes (s. das Stemma S. 147): Die älteste, kürzere Fassung von 1QS V-IX (ohne VIII 15b-IX 11), wie in 4QSb.d erhalten (= Version O), die durch 4QSe repräsentierte redaktionelle Erweiterung mit dem angehängten Otot-Text (= Version A), die andere, in 4QSd erhaltene Erweiterung der Urform, die eine Vorstufe von 1QS VIII 15b-IX 11, den Schlußpsalm, sowie später in 4QSb auch den Stoff von 1QS I-IV (= Version B) enthält, dann die in 1QS belegte redaktionelle Kombination beider Versionen (= Version C) und schließlich die durch die Korrekturen und Ergänzungen des zweiten Schreibers in 1QS VII-VIII repräsentierte Version D.

Die Handschrift 1QS repräsentiert also bereits eine relativ fortgeschrittene, die beiden älteren Textformen harmonisierende Edition des S-Stoffes, die ihrerseits noch eine weitere Überarbeitung erfuhr und neben und nach der sich ältere Textformen weiterhin in Gebrauch erhalten haben. 1QS dokumentiert somit eine Form der Textüberlieferung, die in der essenischen Gemeinschaft nicht als allgemein verbindlich rezipiert oder akzeptiert wurde. Das Modell der "Ordensregel" oder des "Sektenkanon", das in der älteren Forschung so häufig zum Verständnis von 1QS diente, ist angesichts dieser Erkenntnisse aufzugeben.

Die Ergebnisse M.s sind weithin überzeugend und im Unterschied zu allen älteren Hypothesen zu 1QS quellenmäßig sehr viel besser begründet.

Nur in bezug auf die für die Beurteilung des Qumran-Dualismus besonders wichtige Zweigeisterlehre scheint mir M.s Urteil zu zögerlich zu sein. Ihre Vermutung, daß 4QSb diesen Text enthalten haben soll, basiert nur auf einer vagen Spekulation über die wahrscheinliche Breite eines eingefügten Lederstücks (25) und bleibt ganz unsicher. Auch wenn M. in 4QSa fr. 3 und 4QSh fr. 2 einen der Zweigeisterlehre parallelen Text (oder eine Vorstufe) vermutet, basiert diese Annahme nur auf wenigen Termini eines sonst unbekannten, nur äußerst fragmentarisch erhaltenen Textstücks und ist daher kaum aufrecht zu erhalten. Man wird daher auch die Zweigeisterlehre eher als einen ursprünglich selbständigen Text ansehen müssen, der nicht aus der essenischen Bewegung oder gar der Qumran-Gemeinschaft selbst, sondern aus weisheitlich geprägten Kreisen der Zeit vor der Gründung des essenischen yah.ad stammt und von der essenischen Bewegung rezipiert und in 1QS (und 4QSb) als "Unterweisung für den ma´skil" an die vorausgehende ’Bundes’-Liturgie angefügt wurde (so etwa A. Lange, Weisheit und Prädestination, StTDJ 18, Leiden 1995, 129 f.). Dieser Prozeß geschah erst auf einer relativ späten Stufe der Entwicklung des Regeltextes.

Mit ihrer knappen und aufgrund der etwas technischen Darstellung nicht gerade leicht lesbaren, aber umsichtig und sorgfältig gearbeiteten Untersuchung hat M. eine neue Phase der Diskussion um die ’Gemeinderegel’ von Qumran eröffnet. Ein Großteil der älteren Theorien ihrer literarischen Entstehung muß auf der Basis des nun erschlossenen Handschriftenbestandes als überholt gelten, wenngleich die 4QS-Handschriften auch einzelne literarkritische Beobachtungen älterer Interpreten bestätigen konnten. Es zeigt sich hier ­ bei einer relativ guten Quellenlage ­, mit welch komplexen Vorgängen bei der Entstehung solcher Texte zu rechnen ist und wie begrenzt die methodischen Möglichkeiten sind, diese Vorgänge dort, wo keine textlichen Parallelen vorliegen, noch zu rekonstruieren. Der Vfn. gebührt für ihre gründliche und grundlegende Detailarbeit aufrichtiger Dank.