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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

132–134

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sanders, Paul

Titel/Untertitel:

The Provenance of Deuteronomy 32.

Verlag:

Leiden-Köln-New York: Brill 1996. IX, 468 S. gr.8° = Oudtestamentische Studiën, 37. Lw hfl. 258.­. ISBN 90-04-10648-0.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Diese neue Untersuchung des bekannten "Moseliedes" ist eine an der Theologischen Universität Kampen unter der Betreuung von J. C. de Moor gefertigte Dissertation. Der Verfasser stellt sich die Aufgabe, der stark umstrittenen Herkunft dieses in den Rahmen des Deuteronomiums eingefügten poetischen Stückes nachzugehen. Bekanntlich setzt die überwiegende Auffassung der Forscher eine relative junge Abfassungszeit für das Lied voraus; Frühdatierungen sind von jeher selten gewesen. Eine solche sucht jedoch der Verfasser nachzuweisen ­ darin dem Vorbild seines Lehrers folgend (vgl. de Moor, The Rise of Yahwism: The Roots of Israelite Monotheism, Löwen 1990, 155-160).

Daraus ist eine umfangreiche Arbeit geworden, die alle Aspekte breit entfaltet. Der erste Hauptteil (1-98) untersucht die Forschungsgeschichte, aufgeteilt in historischen Ansatz (1.2), Sprache (1.3), konzeptuellen Hintergrund (1.4 - hier spielen die theologischen Themen eine Rolle), literarische Gattung (1.5). Auffällig ist, daß bei 1.2 und 1.3 mit dem Jahre 1930 eine Grenze gezogen wird, während in 1.5 die Wegscheide bei 1950 liegt. Wegen dieser thematischen Gliederung und der Literaturfülle ist es nicht leicht, einen Überblick über die Forschungsgeschichte zu bekommen (der Autor selbst betont, es sei nicht leicht, den Wald vor Bäumen zu sehen, 96). Auch hat man den Eindruck, daß ältere Forscher und ihre Argumente vielfach das gleiche Gewicht erhalten wie neuere. In der Frage der Gattung z. B. wird den Autoren, die das Rechtsstreit-Muster (Rib-pattern; im Zusammenhang mit der Entdeckung der hethischen Vasallenverträge um 1950) mit dem Lied in Verbindung brachten (Huffmon, Wright, Harvey, Beyerlin usw.) verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit gewidmet. Dieser Aspekt hat jedoch heute etwas an Aktualität verloren. Der Vf. sieht die Gattung des Liedes in Nähe zum Rechtsstreit-Muster, aber doch auch Differenzen. Gegen die vielfach vorgebrachte These von der Uneinheitlichkeit der Gattung des Liedes erheben sich nach dem Vf. Vorbehalte. Letztlich entscheidet er sich gegen eine Festlegung: "In the present circumstances it does not seem very useful to resume the debate about the song’s genre" (295 f.). Die Zusammenfassung dieses Abschnittes (1.6) betont, daß in der Datierungsfrage keine Einigung erreicht und auch nicht zu erwarten sei, da die historischen Anspielungen zu wage seien. Die bisher vorgebrachten linguistischen Argumente ließen sich ebenfalls für Früh-und Spätdatierung verwenden. Der Vf. will deshalb Orthographie, Morphologie und Syntax noch einmal untersuchen. Im Hinblick auf die Konzeption zeigt sich schon hier eine Neigung zur Frühdatierung: Prophetie sei schon älter als die "klassische" Periode, wird argumentiert, ebenso Vergeltungslehre und Weisheitsliteratur im alten Orient, "Monotheismus" bereits in vorexilischer Zeit vorhanden. Der alte Orient liefere dafür die Hauptargumente (97).

Hauptteil 2 (99-294) enthält eine ausführliche poetische Strukturuntersuchung, die von den verschiedenen Textformen (althebräische Texte, masoretische Punktation, Texttrennungen der Septuaginta, Punktation in der Peschitta) ausgeht und sowohl Mikrostruktur (Verse und Cola) wie Makrostruktur (hier findet der Vf. Strophen, "Gesänge" [canticles] und sub-cantos) bis hin zur Struktur des Ganzen hin verfolgt. Eine Übersicht (2.4; 289-294) weist fünf Strophen A-E mit unterschiedlich langen Gesängen, Versen und Colen auf. Dabei meint der Vf. nachgewiesen zu haben, daß der gesamte Text eine in hohem Maß regelmäßige Makrostruktur besitze. Aber auch die Unregelmäßigkeiten sprächen nicht gegen die Integrität (etwa im Falle der oft für sekundär erklärten Verse 30-31). Methodisch hält der Vf. in anderen Fällen allerdings auch Uneinheitlichkeit für ein mögliches Ergebnis (287).

Für die sprachliche Untersuchung (1.3) sucht der Vf. erwartungsgemäß eine Vergleichsbasis an "frühen" alttestamentlichen Texten. Mit D. A. Robertson, Linguistic Evidence in Dating Early Hebrew Poetry, Missoula 1972, sieht er in dem Vorkommen von kopulafreien Formen der Prefixkonjugation als Narrative ein Merkmal früher Texte. Dabei tauchen die bekannten Kandidaten Ex 15; Ri 5; Hab 3; 2 Sam 22 auf (297). Aber auch Dahoods Psalmenkommentar wird für die Datierung verschiedener Psalmen herangezogen. Vf. zählt dazu außerdem den poetischen Teil des Hiobbuches! Im Ergebnis ist die hohe Zahl solcher Formen in Dt 32 für den Vf. ein Zeichen für dessen Alter. Gerade die Möglichkeit bewußter Archaismen in der Poesie macht allerdings derartige Argumente sehr unsicher. Auch muß bemerkt werden, daß selbst bei den früher fast einhellig als früh angesehenen Texten wie etwa Ri 5 diese Datierung heute keineswegs mehr ungeteilten Beifall findet. So ist dies eine recht schwankende Basis.

Weiter wird der Kontext in Dt 31,1-32,47 untersucht (3.3), mit dem Ergebnis, daß das Lied älter ist als seine Umgebung (die Rahmung ist frühexilisch). Ein weiterer, sehr ausführlicher Abschnitt (3.4) behandelt Parallelen ("intertextual links") mit "anderer Literatur". Hierzu macht der Vf. einige Vorbemerkungen (353). Von einer vorausgehenden Datierung des Liedes will er absehen. Parallelen beruhten meist auf einer breiteren mündlichen und schriftlichen Tradition und deuteten nicht auf eine direkte Abhängigkeit. Die gleiche Theologie, gleiche Ideen und gleiche Sprache könnten auch in verschiedenen Perioden existiert haben. Der Vf. erkennt also von vornherein die Unsicherheit dieses Vorgehens ­ das übrigens kaum als neuartig bezeichnet werden kann. Anschließend werden dann die Verse des Liedes einzeln durchgegangen ’ wobei zahlreiche alttestamentliche Entsprechungen angesprochen werden. Auch außerbiblische Texte werden bei Gelegenheit herangezogen. Das Ergebnis (3.4.3) ist, daß keine klaren Schlußfolgerungen möglich sind: "In many cases the terminology, theology and conceptual background of verses appear to be undatable. There were parallels in both early and late texts or the relationship with other passages was too equivocal to draw conclusions as far as dating is concerned" (424). Das ehrliche Eingeständnis eines doch wenig befriedigenden Ergebnisses einer langwierigen Untersuchung!

Aber die Argumentation geht dann in einer ganz bestimmten Richtung weiter: 1. Wenn häufig Parallelen in jüngeren Texten der Hebräischen Bibel gefunden würden, könnten die Begriffe oder Ideen selbst durchaus sehr alt sein. 2. Da V. 1.12-25 und wahrscheinlich V. 5 in Kap. 31 vorausgesetzt seien und nichts gegen ihre vorexilische Herkunft spreche, könne diese jetzt vorausgesetzt werden. 3. In V .8-9 und 36 sei vorexilische Herkunft sehr wahrscheinlich, in 6.10. 26-27.31 vorzuziehen. Da auch in den restlichen Versen nichts gegen eine vorexilische Datierung spreche, sei diese für das Lied als ganzes möglich (im Text kursiv). Ein terminus a quo lasse sich nicht genau festlegen, er könne recht früh sein, wenn auch die prä-monarchische Periode weniger wahrscheinlich sei.

Sympathisch ist die Offenheit, mit der die Unsicherheit des Ergebnissses und der Wege, die dazu geführt haben, zugegeben wird. Andererseits ist die vorgegebene Tendenz unübersehbar. Das läßt sich auch an Einzelschritten aufzeigen. Zum Beispiel an Dt 32,10 (374-382): Die Frühdatierung der Idealisierung der Wüstenperiode vor Hosea erscheint unmöglich, wenn man die Murren-Tradition wenigstens in der "jahwistischen" Überlieferung für alt ansieht. Ausweg: beide können sehr alt sein und nebeneinander existiert haben. Hieran ist sicher etwas Wahres, und vor der Einlinigkeit der Hintereinanderordnung der Quellen hat bereits Johannes Pedersen (Die Auffassung vom Alten Testament, ZAW 49, 1931, 161-181) gewarnt.

Der Vf. geht noch auf das "Monotheismusproblem" ein (3.5). Nach seiner Auffassung widersprechen sich die Erwähnung anderer Götter in V .8 f.24.31 und die Aussage von V. 12 und 39 nicht: Wenn dort gesagt werde, daß kein Gott "neben" (am) JHWH sei, beziehe sich das auf JHWHs Aktivität zugunsten Israels, die einzig von ihm ausgehe. Nach der üblichen Terminologie müßte man von Monolatrie und nicht von Monotheismus sprechen. Auch betont er die Einheitlichkeit des Liedes (3.6).

Ein vollständiges Literaturverzeichnis fehlt leider. Ein Abkürzungsverzeichnis (445-448) nennt nur die häufig zitierten Titel. Außerdem gibt es ein Schriftstellenverzeichnis (in Auswahl), ein Verzeichnis der zitierten Autoren und eine Liste von Stichworten (449-468).

Die Arbeit ist für eine weitere exegetische Beschäftigung mit Dt 32 wegen ihrer gründlichen Textuntersuchungen nützlich. Doch bleibt zu fragen, ob das Postulat nicht allzusehr das Ergebnis präjudiziert. Bewiesen wird eigentlich nicht, daß das Lied alt ist, sondern daß seine Frühdatierung nicht ausgeschlossen ist. Zu fragen ist, was damit gewonnen wird. Mit Recht wird heute betont, daß das Alte Testament in seiner Spätgestalt theologisch wirksam geworden ist. Das relativiert das Interesse an möglichen frühen Stoffen.