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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

310–313

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Zahlauer, Arno

Titel/Untertitel:

Karl Rahner und sein "produktives Vorbild" Ignatius von Loyola.

Verlag:

Innsbruck-Wien: Tyrolia 1996. 381 S. 8° = Innsbrucker theologische Studien, 47. Kart. öS 498.­. ISBN 3-7022-2054-2.

Rezensent:

Siegfried Hübner

Für das Verständnis des theologischen Lebenswerks von Karl Rahner kann dessen ausdrückliches Bekenntnis ein Schlüssel sein, "jene ganz spezifische Erfahrung ..., zu der Ignatius von Loyola durch die Exerzitien, die geistlichen Übungen anleiten ... möchte", seien als "eine Grundlage" für sein gesamtes Theologisieren "von entscheidender Bedeutung" (Schriften XII, 8). Der Vf. der hier vorzustellenden Studie, einer in ihrer Erarbeitung von K. H. Neufeld SJ begleiteten Dissertation an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, hat sich vorgenommen, diese ignatianische "Verwurzelung" des R.schen Denkens aufzuarbeiten, genauer: seine "Entstehungsgeschichte ... vom ignatianischen Impuls her werkgenetisch nachzuzeichnen, um so einen Deutehorizont entwickeln zu können" (17). Am Beginn seines Theologiestudiums ist er dem 80jährigen R. noch kurz vor dessen Tod begegnet und hat sich nicht nur auf "die Art und Weise, wie er den Glauben bedachte", sondern auch auf die "Großen Exerzitien" des Ignatius von Loyola eingelassen. Er kann deshalb seine Arbeit als "den Versuch" vorlegen, den Erfahrungen, die er mit der ignatianischen Spiritualität und dem Denken R.s gemacht hat, "von der Sache her nachzugehen" (5).

Die Erwartungen, die der Vf. mit diesem Programm weckt, werden durch seine Darlegungen in hohem Maße erfüllt, sowohl für jene, die das Buch als Kenner der Theologie R.s zur Hand nehmen, wie auch diejenigen, die darin erst einen Zugang zu ihr suchen. Der Vf. beschränkt seine Untersuchungen zwar primär auf die Arbeiten R.s zwischen deren Anfängen und dem Beginn der 60er Jahre, zieht aber aus diesem Zeitraum mit einer erstaunlichen Umsicht und Akribie alle erreichbaren einschlägigen Äußerungen R.s ­ auch unveröffentlichte oder unter den Veröffentlichungen "vergrabene" ­ heran. Einem Hinweis J. Piepers folgend, spürt er die Wirksamkeit des ignatianischen Impulses auch in "Unausgesprochenem" auf, wenn dieses sich "in einer gewissen Sprunghaftigkeit der Gedankenführung, in einer Art Inkonsequenz der Argumentation" zeigt (17). Die für die Interpretation der Texte und die sich stellenden Fragen aufzufindende Literatur wird registriert und in einigen Fällen ausgiebig erörtert. Über die einzelnen methodischen Schritte seines Untersuchungsgangs gibt der Vf. präzise und minutiös Auskunft.

In seinem 1. Kapitel (21-85) greift der Vf. das Stichwort "produktives Vorbild" auf, das R. auf Ignatius ­ aber noch ausdrücklicher auf Jesus und dessen Tod, in bestimmter Hinsicht auch auf jeden Christen ­ bezieht, und zeigt daran, worum es R. in der Aneignung der spirituellen Erfahrung einer solchen Person der Glaubensgeschichte geht: nicht um Nachahmung, sondern darum, die schöpferische Dynamik weiterzutragen, die sie in Gang gesetzt hat, "je neu mit einem eigenen und unableitbaren Profil" (29). Dann nimmt er die "spirituelle Gestalt des Ignatius" in den Blick, die er als "formal", d. h. "dynamisch", als Spiritualität eines Pilgers, der ständig aufbricht, und als "multipolar" bestimmt. Damit ist gemeint: Der "ignatianischen Gottesunmittelbarkeit" auf der einen Seite stehen eine Reihe anderer Pole gegenüber ­ z. B. "konkrete Kirchlichkeit", "notwendige Tat der Nachfolge", "Gott in allen Dingen finden", vor allem aber: "der geschichtliche Jesus"! ­, die alle darin übereinkommen, daß "sie immer die Notwendigkeit und die unaufhebbare Bedeutung einer kontingenten Wirklichkeit zum Ausdruck bringen" wollen (70). Die sich hiermit abzeichnende Spannung zwischen diesen beiden Polen bestimmt den weiteren Untersuchungsgang und auch die Thesen des Vf.s im Hinblick auf R.s Ignatius-Rezeption.

Das 2. Kapitel (86-247) enthält unter dem Titel "Reflexionswege R.s im Umkreis ignatianischer Spiritualität" den systematischen Hauptteil der Arbeit. Der Vf. kann hier von dem ersten veröffentlichten Text R.s, dem nur 2 Seiten umfassenden Aufsatz "Warum uns das Beten nottut" aus dem Jahre 1924, ausgehen und zeigen, wie sich darin schon jene Erfahrung spiegelt, zu der Ignatius in den Exerzitien verhelfen will: daß nämlich unmittelbar Gott "selbst sich seiner frommen Seele mitteilt" (Exerzitienbuch, 15. Vorbemerkung). Diesen "roten Faden" verfolgt er dann über eine Reihe von Stufen ­ u. a. die frühen grundlegenden Werke "Geist in Welt" und "Hörer des Wortes" und die Vorlesungstraktate zur Gnadenlehre, aus denen ersichtlich ist, wie sich R.s Verständnis der Gnade als "Selbstmitteilung Gottes" und als "erfahrbare" Wirklichkeit entwickelt ­ bis zum Kulminationspunkt der Rezeption der ignatianischen Spiritualität durch R. in dessen Artikel "Die Logik der existentiellen Erkenntnis bei Ignatius von Loyola" von 1956. Hier will R., einen in den Exerzitien vorgesehenen Vorgang der "Wahl" interpretierend, zeigen, wie der Mensch in seiner einmaligen und einzigartigen Individualität ­ also je "ich" für "mich"! ­ im Lichte eines "Trostes", der in der reinen Offenheit auf Gott hin, in der existentiellen Hingabe an Gott, erfahren wird, zur Erkenntnis des "Willens Gottes" im Hinblick auf einen zur Entscheidung anstehenden kontingenten "Wahlgegenstand" gelangen kann.

In diesem Durchgang stellt der Vf. aber nicht nur überzeugend die Kontinuität des von der 15. Vorbemerkung der Exerzitien und der ihr entsprechenden Erfahrung ausgehenden Impulses heraus, sondern erkennt darin auch, daß R. sein "produktives Vorbild" nur "monopolar" rezipiert. Eine bestimmte geschichtliche Situation der Ignatius-Rezeption im Jesuitenorden zur Zeit, als R. in ihn eintrat, und die Faszination, die der eine Pol ignatianischer Spiritualität, die Möglichkeit unmittelbarer Gotteserfahrung, auf R. ausgeübt habe ­ so die These des Vf.s­, führte dazu und mache verständlich, daß R. seinen Ordensvater als "Mann transzendentaler Frömmigkeit" (248) verstanden habe und eine "Schräglage" in seiner Rezeption entstanden sei, in welcher der andere Pol, die kontingente geschichtliche Wirklichkeit, konkret: der geschichtliche Jesus, "nicht jene prägend-produktive und auch theologisch stimulierende Kraft besitzt" wie der erste Pol (316). Diese "Schräglage" in Richtung auf Transzendenz und Subjektivität ­ ein oft kritisiertes Grundproblem der R.schen Theologie überhaupt (247) ­ sieht der Vf. vor allem in dem "Logik"-Artikel gegeben, in dem der "jesuanische Pol" völlig ausfalle. Er stellt der R.schen Interpretation des Ignatius-Textes die seines Gewährsmannes J. Sudbrack gegenüber, dem es gelungen sei, "das gegenseitige polare Bedingungsverhältnis von Wahl und Leben-Jesu-Betrachtungen gut zu analysieren" (245). R. selbst habe aber diese Einseitigkeit erkannt "und sprachlich wie sachlich höchst originell darauf zu reagieren versucht" (247).

Dem geht der Vf. in seinem 3. Kapitel (248-317) unter dem Titel "Die Herz-Jesu-Verehrung als innerer Ausgleich ignatianischer Spiritualität" nach. Ausgangspunkt dafür ist eine Überlegung R.s aus den 50er Jahren, in welcher dieser die Herz-Jesu-Verehrung im Jesuitenorden als notwendiges "Antitoxin" gegen die Gefahren der ignatianischen Frömmigkeit begreift, das von dieser selbst erzeugt worden sei (249 f.). So untersucht der Vf. erneut frühe Werke R.s, die schon diesem Thema gewidmet sind, z. B. die bisher unveröffentlichte theologische Dissertation über den Ursprung der Kirche aus der Seite Christi nach Joh 19,34, und verfolgt dann diesen "roten Faden" in den christologischen Äußerungen R.s.

Dabei hebt er die Bedeutung der 1959 veröffentlichten "Theologie des Symbols" für den Ausgleich der beiden Pole ignatianischer Spiritualität hervor, die R. nach eigenem Eingeständnis in seiner systematischen Christologie übergangen habe (276). Von hier aus sieht der Vf. die Möglichkeit, "Rahner gleichsam mit Rahner" weiterzudenken und interpretiert nun auch selbst das "Wahlgeschehen" in den Exerzitien, um die polaren Elemente ­ Vollzug der Transzendenz und historische Konkretion ­ vertieft "in einem dynamischen Zu- und auch Ineinander zu denken" (309-315, 314).

Das Fazit dieses zweiten Forschungsschritts (315-317): Der primär rezipierten Gestalt ignatianischer Spiritualität ist von Anfang an ein ihr polar gegenüberstehendes Moment zugewachsen, in dem die "Antitoxin"-Forderung R.s zu ihrem Recht zu kommen scheint. Aber dieses bleibt gegenüber dem Pol der "Gottesunmittelbarkeit" sekundär. Darin sieht sich der Vf. in seinem 4. Kapitel (318-327) über die "praktische Vernunft des Glaubens" bestätigt, in dem er zur Abrundung aller seiner Überlegungen untersucht, wie R. im Jahre 1972 über die Möglichkeit einer verantworteten Glaubenszustimmung unter den Herausforderungen der Gegenwart nachdenkt. Er wendet das in seiner "Logik der existentiellen Erkenntnis" entwickelte, vom Vf. als einseitig beurteilte "Modell" auf die gesamte "kategoriale Inhaltlichkeit des Glaubens" an: Im Lichte der Erfahrung von Transzendenz, der in der Öffnung des Menschen auf Gott hin erfahrenen urevidenten Gegebenheit Gottes ­ vom Glaubenden als "Mystiker", wie R. schon 1966 sagt (327) ­, kann die Annahme dieser "kategorialen" Offenbarung als "Wille Gottes" erkannt werden.

Mit seinem Werk erschließt der Vf. dem Leser einen entscheidenden Grundstrom im Denken R.s, wobei dessen eigene Gedankengänge und Aussagen ­ wie der Vf. wiederholt feststellt ­ für sich selbst sprechen. Er konfrontiert ihn aber zugleich auch den kritischen Fragen, auf die sie bei Christen und Theologen "von heute" stoßen. Das hindert aber nicht daran, in R. und seinem Denken ein "produktives Vorbild" für den eigenen Vollzug des christlichen Glaubens unter den Bedingungen der Gegenwart zu erkennen, wie es offensichtlich auch bei dem Vf. der Fall ist.

An die Antworten auf das "Grundproblem" der R.schen Theologie, die der Vf. von einer schon stereotyp gewordenen Rahner-Kritik übernimmt, sind freilich eine Reihe von Fragen zu stellen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

Der Rez. ist überzeugt, daß R. selbst unbekümmert um diese Kritik an seiner Akzentuierung des "mystischen" Pols in der ignatianischen und in einer heute notwendig werdenden Spiritualität festhalten würde, was ja nicht bedeutet ­ wie der Vf. in seinen Untersuchungen selbst nachweist ­, dessen unauflöslichen Bezug zur "kontingenten Wirklichkeit", also auch zu dem "geschichtlichen Jesus", zu übersehen oder gar zu negieren. "Geist" wird vom Menschen immer nur "in Welt" erfahren!

Es ist zu bedauern, daß der Vf. einen wichtigen Aspekt übersehen hat, unter dem R. in Ignatius ein "produktives Vorbild" für den Glaubenden erblickt: ein solches ­ etwas "Archaisch-Archetypisches" ­ für "eine Zeit, die erst am Kommen ist", was vielleicht "erst die späteren Zeiten der Kirche erkennen" werden (Logik, 76; Ignatius v. Loyola. Zur Aktualität des Heiligen, 340). Diese "geschichtliche" Perspektive, in der R. den christlichen Glauben und die ignatianische Spiritualität versteht, fällt in den Überlegungen des Vf.s aus.

Deshalb beunruhigt ihn auch nicht im geringsten der Gedanke, das "Defizit", das er feststellt und ihn so beeindruckt, beziehe seine Plausibilität vielleicht aus einem Glaubensverständnis "von gestern". Die Frage, welcher "Fortschritt" im Verständnis des Glaubens "unter dem Beistand des Heiligen Geistes" (DV 8) ­ zwischen dem 16. Jh. und heute, und von hier aus in eine voraussehbare Zukunft hinein ­ erfolgt ist oder für den Glaubenden "not-wendig" wird, wird weder gesehen noch zu beantworten versucht. R. bedenkt aber den Glauben so, daß diese Frage sich von seinen Überlegungen her geradezu aufdrängt.

Wenn er überzeugt ist, der Glaubende von morgen werde entweder ein "Mystiker" sein, oder es werde ihn nicht mehr geben (327), ­ wenn er auf einen "wachsenden" Glaubensvollzug der Kirche aufmerksam macht, der "nur in der immer größeren Deutlichkeit Gottes als des Geheimnisses bestehen" kann (Sämtliche Werke 19,62), ­ wenn er zu bedenken gibt, daß der "eigentliche Glaube" nicht "ursprünglich durch die verbale Mitteilung ... über ihn" entstehe, sondern dort, wo der Mensch in unbedingter Treue zu seinem Gewissen seine Existenz annehme, und aus diesem Grunde "die begriffliche Objektivation dieses Glaubens in der christlichen Botschaft ... diesem ursprünglichen Vollzug des Glaubens gegenüber ... in gewissem Sinn sekundär" sei (Schriften XII,99), ­ wenn er unermüdlich daran erinnert, daß von "allen geschichtlich und gesellschaftlich denkbaren Standorten seiner Existenz aus ... der Mensch ... in heilshafter Unmittelbarkeit zu Gott stehen" kann (Schriften XII,256), ­ wenn er eine Zeit kommen sieht, in der das Christentum, um wirklich Weltreligion zu werden, "in Theorie und Praxis geschichtlich blasser" werden müsse (Schriften XVI, 154) und sich womöglich die traditionelle Vorordnung der Christologie vor einer Pneumatologie umkehren werde, um so "ein wirkliches und radikales Verständnis der Christologie zu gewinnen" (Schriften XV,102 f.), dann stellt er dem Christen und Theologen von heute ­ und allen christlichen Kirchen! ­ Fragen, die brennender sind als die, ob ihm in der Situation eines epochalen Umbruchs eine ausgewogene "systematische" Bestimmung des Verhältnisses der beiden Pole, um die es dem Vf. in seiner Untersuchung geht, gelungen sei oder nicht.

In seinem Schlußwort (328-334) relativiert auch der Vf. deutlich die von ihm festgestellte "Einseitigkeit". Er versteht das Denken R.s als "Zeugnis" einer Erfahrung im Glauben, von dem er zu sagen wagt: Wer "sich auf das Denken dieses Zeugen wirklich einläßt, beginnt vielleicht schon, die Glaubenswirklichkeit zu erfahren" (334).