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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

306–308

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Franz-Xaver u. Arnold Zingerle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1996. 422 S. 8°. Kart. DM 78,­. ISBN 3-506-74252-3.

Rezensent:

Karl-Fritz Daiber

Der vorliegende Band entstammt der Arbeit der Sektion Soziologie der Görres-Gesellschaft. Er ist von vornherein "interdisziplinär" angelegt. Er trägt mit seiner spezifischen Fragestellung zur Erforschung des Vatikanum II bei, die inzwischen mit weiteren größeren Projekten im Gange ist.

Folgt man Franz-Xaver Kaufmann, so geht es in den publizierten Arbeiten darum, das Konzil im Kontext des katholischen Christentums des 19. und 20. Jh.s zu analysieren. Dabei stellt sich nicht zuletzt die Frage, inwieweit das Vatikanum II einerseits Folge von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen war, andererseits zum wesentlichen Impuls dafür werden konnte, daß sich die katholische Kirche der Modernisierung öffnete. Es ist kaum verwunderlich, daß der Band hier keine einhellige Antwort geben kann.

Die Herausgeber sind darum bemüht, ein einheitliches theoretisches Rahmenkonzept vorzugeben. Dies gilt insbesondere für das Verständnis des Phänomens "Katholizismus", das K. zusammen mit Karl Gabriel als besondere Sozialform des katholischen Christentums faßt, nämlich als "diejenige kulturell-soziale Bewegung der Neuzeit, welche am entschiedensten in der Lage gewesen ist, ein massives einheitliches Bild ihrer selbst zu entwerfen und politisch zur Geltung zu bringen" (13). Der ultramontane Katholizismus entfalte sich in dieser Phase als Klerikerkirche, in der Ausbildung katholischer Milieus und einer katholischen (Sub-)Kultur, nicht zuletzt als politischer Katholizismus. Das Vatikanum I wird vor diesem Hintergrund als Expression eines antimodernistischen Katholizismus gesehen, das Vatikanum II symbolisiere dessen Endphase, seine Auflösung oder, wenn man so will, seine Selbstauflösung.

Auch Modernisierung wird im Sinne der bekannten Thesen von K. gefaßt. Dieser stellt nicht nur die beschleunigte Wandlungsdynamik als Kennzeichen heraus, sondern sieht die Moderne gerade dadurch bestimmt, daß die "Legitimität solcher Wandelbarkeit" anerkannt wird, diese Anerkennung einen Grundpfeiler des gesellschaftlichen Selbstverständnisses in der Moderne darstellt.

Die Modernisierung der katholischen Kirche kann von daher gesehen an ihrem durch das Vatikanum II formulierten neuen Selbstverständnis abgelesen werden, am Abschied von der Vorstellung einer "societas perfecta", an der Neuchiffrierung durch den Gedanken des "wandernden Gottesvolkes". Von daher kommt die Geschichtlichkeit der Kirche neu ins Blickfeld, die Nötigung zu einer doppelten Reflexionsperspektive: auf die Kirche selbst und ihren gesellschaftlichen Ort bezogen.

Es ist ein Vorzug des Bandes, Feststellungen wie die obige als Hypothese zu behandeln, d. h. in Einzelstudien der Frage detailliert nachzugehen. Dabei ergeben sich zwangsläufig auch Blickrichtungen, die das theoretische Konzept im Grunde nicht zulassen würde, dies nicht zum Schaden des Gesamtprojekts. Wichtig bleibt für die Anlage der Studien die Einordnung des Konzils in die Geschichte eben des "katholischen Christentum(s) im 19. und 20. Jahrhundert".

Die Einzelbeiträge werden drei Hauptkomplexen zugeordnet, der Analyse der Vorphase des Konzils, der Untersuchung des Prozesses des Konzils selbst und schließlich der Darstellung einzelner Aspekte der Nachkonzilszeit. Hier liegt ganz offensichtlich der Schwerpunkt, wobei zugleich eine europäische Öffnung der Darstellung erfolgt, dies mit Studien zu Irland (M. P. Hornsby-Smith), den Niederlanden (L. Layendecker), Italien (F. Demarchi) und Ungarn (M. Tomka). Ist schon dieser Teil sehr selektiv, gilt dies um so mehr für die beiden anderen, gerade auch für die Analysen zum Konzilsverlauf. Höchst spannend ist hier, was A. Zingerle schreibt, wenn er auf das "Unvorhergesehene, Ungeplante" der Konzilsbotschaften verweist (196). Die von ihm analytisch fruchtbar gemachte Charisma-Theorie weist in eine gute Richtung, eben deshalb hätte man natürlich materialiter im Band mehr erfahren wollen.

Vier Beiträge haben mein persönliches Interesse in besonderer Weise gefunden, nämlich die Studien von K. Gabriel, E. Klinger, G. Korff und M. N. Ebertz:

Gabriel zeichnet den deutschen Katholizismus der fünfziger Jahre unter dem Aspekt von Restauration, Modernisierung und beginnender Auflösung. Klingers Arbeit gilt der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", in der er einen zentralen, wenn nicht den zentralen Text des Konzils sieht, während des Konzils erarbeitet und dort heftig diskutiert, in der Folgezeit umstritten geblieben und wenig rezipiert, mit am stärksten den "Außenbezug" der Kirche theologisch konstitutiv realisierend. Korff beschäftigt sich mit Phänomen der deutschen katholischen Volksfrömmigkeit und ihrem Weiterbestehen in der Nachkonzilszeit am Beispiel der Rochus- und Sebastiansverehrung. Aus protestantischer Perspektive kommt hier das Katholische des Katholischen zur Sprache, deshalb herauszustellen, weil in der Religionssoziologie tendenziell eher von der Einebnung konfessioneller Unterschiede in der Moderne ausgegangen wird.

Schließlich nenne ich den Beitrag von Ebertz. Er beschreibt neuere Deinstitutionalisierungsprozesse im Katholizismus, und zwar unter der Perspektive: "die Erosion der ’Gnadenanstalt’", theoretisch sich dabei auf Max Weber beziehend. Ebertz belegt das sorgfältig an konkreten Beobachtungen, wobei gefragt werden kann, ob es sich wirklich um Vorgänge der Deinstitutionalisierung handelt oder mehr um Veränderungsprozesse in Richtung eines eher protestantischen Kirchenverständnisses, dies bei grundsätzlicher Beibehaltung des Gedankens der Gnadenanstalt, der im Protestantismus in der Regel vielfach auch strukturgebend ist. Im Blick auf beide Konfessionen ist dann zu fragen, ob nicht eine weitergeführte Modernisierung, vor allem die Verstärkung von Individualisierungstendenzen, beiden Kirchen erhebliche Veränderungen ihrer Praxis und ihres Selbstverständnisses abnötigt.

Insbesondere zwei Fragestellungen scheinen mir in dem vorgelegten Band zu kurz zu kommen: Einmal die neue Stellung der Laien in der Kirche, hier vor allem auch die Einführung der "Räte" auf den unterschiedlichen Ebenen. Während der Zeit des Konzils haben etwa in Deutschland schon Diskussionen über die Demokratisierung der Gesellschaft eingesetzt. Sind in diesem Zusammenhang kirchliche Entwicklungen von allgemein gesellschaftlichen abhängig, und wie lassen sich Dependenzen oder besser Interdependenzen konkret beschreiben? Meine zweite Frage zielt auf die vom Konzil angestoßene Liturgiereform. Man hätte sich gut vorstellen können, daß etwa von der durch A. Lorenzer aufgeworfenen Problematik her den Folgewirkungen des Konzils nachgegangen worden wäre. F. Demarchi konstatiert aus italienischer Sicht: "Die von der bereits 1963 beschlossenen Konstitution des Konzils empfohlene Liturgiereform hat viel Lärm verursacht. Sie scheint jedoch, obwohl sie nie starken Widerstand hervorgerufen hat, nur in geringem Maß die gewünschten Ergebnisse erzielt zu haben" (280). Eine höchst nüchterne Bilanz, die im übrigen insgesamt der Tendenz von weiten Teilen des Buches entspricht.

Noch eine abschließende Beobachtung: Wenn nicht alles trügt, sind die Autoren des Bandes, auch die "Profanwissenschaftler", in der Regel der katholischen Konfession verpflichtet. Warum nicht auch Wissenschaftler mit evangelischem Erfahrungshintergrund mitgeschrieben haben, bleibt offen. Etwa mangels Interesse? Oder ist der wissenschaftliche Diskurs an dieser Stelle nach wie vor hochgradig konfessionalisiert? Hier deuten sich Bearbeitungsnotwendigkeiten an, und zwar keineswegs nur auf katholischer Seite.