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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

304–306

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Wrege, Wolf Reinhard

Titel/Untertitel:

Die Rechtstheologie Paul Tillichs.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XIII, 198 S. gr.8° = Jus Ecclesiasticum, 56. Lw. DM 108,­. ISBN 3-16-146622-5.

Rezensent:

Hans-Richard Reuter

Fragen einer christlichen Legitimation des Rechts sind in der protestantischen Theologie nach dem 2. Weltkrieg überwiegend vor dem Hintergrund der Paradigmenkontroverse zwischen lutherischer Zwei-Reichelehre einerseits und der durch Karl Barth inspirierten christologischen Rechtsbegründung andererseits diskutiert worden. Dabei stellte letztlich die Frage Barths, ob es eine in der analogia fidei fundierte Beziehung zwischen der göttlichen Rechtfertigung und dem menschlichen Recht gebe, den entscheidenden Anstoß auch für solche rechtstheologischen Entwürfe dar, die sich eher genuin lutherischer Grundlagen zu vergewissern suchten. Die alsbald eingetretene Verengung dieser Bemühungen auf die Begründung des evangelischen Kirchenrechts ist Ausdruck der besonderen Schwierigkeit, einen strikt offenbarungstheologischen Denkstil mit dem säkular-autonomen Selbstverständnis des modernen Rechts zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund wird das leitende Interesse der angezeigten Studie verständlich: blieb doch Paul Tillichs Theologieprogramm stets der Aufgabe einer Vermittlung von Christentum und Kultur verpflichtet.

Die (ursprünglich unter dem meines Erachtens sachgemäßeren Titel "Der Rechtsgedanke bei Tillich") bei dem Göttinger Rechtstheoretiker Ralf Dreier als juristische Dissertation angefertigte und mit dem Paul-Tillich-Preis 1996 ausgezeichnete Arbeit nimmt, um Tillichs "Rechtstheologie" zu erheben, einen sehr weiten Anlauf: Volle zwei Drittel des Buches sind einem konzentrierten, biographisch-werkgeschichtlich orientierten Überblick über die Entwicklung des Tillichschen Denkens im ganzen gewidmet, der in die frühen Prägungen 1886-1919 (Kap. 1), den Religiösen Sozialismus 1919-1933 (Kap. 2) und die Systematische Theologie 1933-1965 (Kap. 3) eingeteilt wird und den Stand der Tillich-Forschung zuverlässig verarbeitet.

Bereits das 1. Kap. resümiert den ",modus deficiens’, in dem das Recht in Tillichs System" mit "Wirkung über die Frühphase hinaus" behandelt wird (44). Seit 1931 taucht die Rechtsproblematik im Rahmen einer Ontologie der Macht auf (Kap. 2); der hierzu konstatierte Tatbestand, daß "jegliches Detailinteresse" dem "holistischen Systemdenken Tillichs" zuwiderlaufen würde (90), gilt auch für Tillichs Systematische Theologie, in der Recht und Gerechtigkeit im Rahmen einer geisttheologisch durchwirkten Lebensphilosophie thematisiert werden (Kap. 3).

Den Kern der Arbeit bietet Kap. 4, das Tillichs Rechtsbegründung als eine Version des Dritten Weges zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht vorstellt. Sie umfasse eine Sinntheorie, eine Machttheorie und eine Anerkennungstheorie des Rechts: Als Sinntheorie ist sie auf die "Grundnorm" der "Essentifikation" bezogen, die als "Antrieb zur ständigen ’Vergerechtlichung des Rechts’" erfahren werde und als rechtsethischer Imperativ sowohl Gesetzgeber wie Gesetzesanwender bestimme. Die Machttheorie zeichnet Recht und Staat als "existentielle" Phänomene in die (Tillichs Sozialtheorie bestimmenden) ontologischen Grundstrukturen der "Selbst-Integration", des "Sich-Schaffens" und des "Selbst-Transzendierens" ein. Diese erlauben es, sowohl einen wirksamkeitsorientierten Begriff des positiven Rechts wie auch einen als Funktion sozialer Gruppenverhältnisse gefaßten Begriff "existentieller" Gerechtigkeit (traditionell: der iustitia civilis) zu konzipieren. Die Vermittlung von essentieller Sinntheorie und existentieller Machttheorie des Rechts bezeichnet der Vf. als Anerkennungstheorie, insofern das Gebot zur Anerkennung der theonom verfaßten Wirklichkeit auf die gegenseitige Achtung des Anerkennungsanspruchs von Personen ziele.

Von da aus bemüht sich Kap. 5 um Elemente einer materialen Rechtsethik am Leitfaden der Stichworte "Menschenrechte, Staat, Kirche". Auch der Menschenrechtsgedanke wird jedoch von Tillich nicht im Sinn materieller, Recht und Unrecht diskriminierender Geltungsprinzipien konkretisiert. Worauf es ihm ankommt, ist die Fortbildung eines autonomen, aber von theonomem Ethos getragenen Rechts, das der dynamischen Entwicklung der sozialen Wirklichkeit folgt, und so die Zweideutigkeiten des Freiheits- und des Gleichheitsgedankens ebenso überwindet, wie die Spannung zwischen Verfassungsstaats- und Demokratieprinzip oder zwischen kirchlichem Liebes- und Zwangsrecht.

Der Vf. kommt zu dem Ergebnis, trotz weitgehender materialer Ungreifbarkeit leiste Tillich "eine Einbettung der Begründung des Rechts und des demokratischen Sozialstaats in eine theologisch entwickelte universale Kulturwissenschaft" (182). Dabei räumt er ein, daß der von Theologenseite geäußerte "wohlmeinende ... Hinweis, bei Tillich sei keine Rechtstheologie zu finden", "nicht ganz unberechtigt" erscheine (2). Angesichts der sonstigen Sorgfalt und Präzision des Vf.s verwundert es, daß Tillichs Schrift "Liebe, Macht, Gerechtigkeit" (1954) als zentrale Abhandlung zum Thema nicht herangezogen wird. Inwieweit Tillichs ontologische Prämissen, seine Zauberformel der "Theonomie" und die vom Interpreten doch wohl eher interpolierte Theorie der "wertbezogenen Verfassung" tragfähig sind, bleibt offen.