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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

299 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wegner, Gerhard

Titel/Untertitel:

Kirchliche Wahrnehmung und Wahrnehmung der Kirche. Studien zum Verhältnis von Eigen- und Fremdwahrnehmung der evangelischen Volkskirche.

Verlag:

Hannover: Luth. Verlagshaus 1996. 333 S. 8°. ISBN 3-7859-0726-5.

Rezensent:

Walter Neidhart

Das Kirchenbild, das die Mehrheit der Glieder der Volkskirche hat, unterscheidet sich erheblich von dem, was durch Theologen und Kirchenleitungen über Kirche gelehrt wird. "Die kirchliche Wahrnehmung steht in Gefahr, die Anschlußfähigkeit an grundlegende Prozesse der Lebenswelt zu verlieren ... Was ’die Menschen’ an Kirche als etwas Positives wahrnehmen, entspricht im großen und ganzen nicht dem, was in der Kirche selber als wertvoll gehalten wird."

Zur Bearbeitung dieses Problems berichtet Wegner über verschiedene anthropologische Wahrnehmungstheorien und fragt nach der Gestalt der symbolischen Wahrnehmung. Er erörtert das Begriffspaar System und Lebenswelt nach Luhmann und Habermas, wobei nach seiner Meinung, je nach dem sozialen Interesse des Betrachters, beide Sichtweisen ihr Recht haben. Dem System ordnet er die Eigen-, der Lebenswelt die Fremdwahrnehmung der Kirche zu. Fremdwahrnehmung wird als körpernahe praktische Vernunft begriffen. Darum geht W. auch auf Prozesse der Körperlichkeit und der sozialen Praxis nach den Theorien von M. Merleau-Ponty, A. Giddens, P. Bourdieu u. a. ein. Er überprüft einige Religionstheorien: die funktionale Sichtweise, die Religion als System beschreibt oder die sie als Kraft zur Annahme des Nicht-Annehmbaren oder zur Konstitution von Bedeutung begreift, ­ ferner die theologische Religionskritik, die eine starke Distanzierung der Theologie von der Lebenswelt voraussetzt.

Er geht auch auf substanzielle Religionstheorien ein: Religion als sinnliches Symbolsystem der nicht sprachunterworfenen Sehnsüchte und Wünsche, Religion als Begegnung mit dem Heiligen. Religion ist jedenfalls Begriff "für eine Sphäre des Handelns und Erlebens, die in der Regel nicht sprachlich verfaßt ist, gleichwohl aber als Bezugspunkt der Lebenswelt ständig präsent gehalten wird."

Die Kommunikationsmedien des Systems vermitteln zwischen ihm und der Lebenswelt. Sie benötigen körperliche Formen. Darum zeigt sich christlicher Glaube für die Wahrnehmung von außen nicht an den Glaubenslehren, sondern an Haltungen und Auswirkungen in der Lebenswelt. Der evangelische Glaube, der vom ’sola fide’ Luthers ausgeht, führt zur Vereinzelung. Der je Einzelne ist unmittelbar vor Gott. Protestantischer Habitus ist darum eine Form von Beständigkeit, eine dezidierte Glaubens- und Überzeugungsreligion. Er kann den Stil des puritanischen Gewissens haben oder sich in einer Fusion von Religion und Familie zeigen. Er wird von außen erkennbar, wenn "ein einzelner oder eine Gruppe in der Situation Haltung zeigt und sowohl Handlungszwänge transzendiert als auch bestätigt." Exemplarisch dafür ist für W., wie die Presse über den Tod von Heinrich Albertz berichtet hat: Sie attestierte ihm, ein glaubwürdiger, mutiger, aufrichtiger Christ gewesen zu sein.

W. erläutert das Auseinanderklaffen von Eigen- und Fremdwahrnehmung schließlich an acht ekklesiologischen Konzepten (J. Moltmann, D. Bonhoeffer, M. Honecker u. a.). Sein Fazit: Diese Theologen umschreiben ihre theologischen Wunschvorstellungen von Kirche. Die Fremdwahrnehmung ist ihnen mehr oder weniger gleichgültig.

An der kirchlichen Basis wird die Wahrnehmungsdifferenz jedoch bearbeitet durch die Pfarrer, die entweder in professioneller Kompetenz den Bedarf an sozialer Religion erkennen und befriedigen oder die "charismatisch" (im Sinn von M. Weber) durch persönliche Ausstrahlung Anhänger gewinnen und in ihrem Verhalten "authentisch" wirken. Als Bewältigung der Differenz wirken ferner das festliche Ritual der Gottesdienste und die Wirklichkeit der kirchlichen Diakonie. Diakonie ist schließlich das, was die Fremdwahrnehmung an Kirche besonders schätzt. W. plädiert nicht etwa dafür, die Binnenwahrnehmung der Kirche aufzugeben, wohl aber angemessener als bisher auf die Fremdwahrnehmung zu reagieren. Die Volkskirche muß als "operativ offenes System" begriffen werden (was anders gemeint ist als "offene Kirche").

Die einzelnen Kapitel des Buches bauen sich, wie W. einleitend bemerkt, nicht strikt aufeinander auf, sondern umkreisen je für sich die verschiedene Akzentuierung der Problematik. Mir ist nicht bei jedem Kapitel klar geworden, welchen Erkenntnisgewinn er für das Thema erbringt.

W. hat eine Fülle von humanwissenschaftlichen Publikationen gelesen und eingearbeitet. Viele Autoren, die er zitiert, kenne ich nicht. Ich nehme darum an, daß ich ihn nicht in allen seinen Ausführungen ganz verstanden habe. Sein Umgang mit dem Begriff Wahrnehmung hat mir ferner nicht eingeleuchtet. Das ist zwar ein vieldeutiger Begriff. Man kann ihn für so unterschiedliche Sachverhalte wie Selbstverständnis der Kirche und Meinungen "der Leute" über Kirche verwenden. Aber es dient meines Erachtens nicht der Klärung des Problems, denselben Begriff ebenso für die theologisch konstruierte Lehre von der Kirche wie für Urteile und Vorurteile über Kirche bei den Leuten zu verwenden, wenn gerade die Differenz zwischen beiden die zu bearbeitende Frage ist.