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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

297–299

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Seiferlein, Alfred

Titel/Untertitel:

Projektorientierter Gemeindeaufbau.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996. 219 S. 8°. ISBN 3-579-02928-2.

Rezensent:

Michael Herbst

Die Debatte um den Gemeindeaufbau in der Volkskirche ist nicht zu Ende! Das beweist das vorliegende Buch des bayrischen Pfarrers Alfred Seiferlein. Der besondere Akzent des Autors wird im Vorwort deutlich: "Der projektorientierte Gemeindeaufbau verbindet den modernen Lebensrhythmus mit einer theologisch begründeten Gestaltform des christlichen Glaubens" (9).

Dahinter verbirgt sich die Entdeckung, daß viele Kirchenmitglieder sich nicht auf unbefristete Gruppen und einen stetigen Gottesdienstbesuch einlassen, wohl aber an der Mitarbeit in zeitlich befristeten Projekten interessiert sind. Das Hoyaer Modell "Lernen zum Lehren" ist ein bekanntes Beispiel: Eltern, die sich bislang nicht in der Gemeinde engagierten, werden gewonnen und geschult, um Kinder im Vorkonfirmandenunterricht mit biblischen Geschichten vertraut zu machen.

Die VELKD veröffentlichte 1983 angesichts zunehmender Kirchenaustrittszahlen die Studie "Zur Entwicklung von Kirchenmitgliedschaft". Darin schlägt sie eine "Doppelstrategie" vor: Zum einen sollte durch "öffnende" Arbeitsformen die Hemmschwelle für fernstehende Kirchenmitglieder gesenkt werden, sich wieder auf Begegnungen mit der Kirche einzulassen. Zum anderen sollten "verdichtende" Arbeitsformen die Christen im Blick auf ihren Glauben, ihre Gemeinschaft untereinander und ihre Gaben für den Dienst an anderen stärken (vgl. Lutherisches Kirchenamt der VELKD [Hrsg.]: Zur Entwicklung von Kirchenmitgliedschaft. Texte aus der VELKD 21, Hannover 1983). Im Zusammenhang mit der "Doppelstrategie" entstand das Gemeindekolleg der VELKD in Celle als eine Agentur für die Entwicklung und Vermittlung von Gemeindeaufbau-Projekten. S. zeichnet die Geschichte nach, die von der "Doppelstrategie" zum projektorientierten Gemeindeaufbau führte (11-29). Mehrere Projekte, teils aus der Ökumene übernommen und übersetzt, teils für die deutsche volkskirchliche Situation neu entwickelt, werden vorgestellt (30-64): z. B. "Neu anfangen", ein ökumenisches Projekt, das über Telefonkontakte alle Getauften in einer Region anspricht, ihnen ein Buch mit christlichen Glaubenszeugnissen anbietet und sie zu befristeten Wohnzimmergesprächen über den Glauben einlädt.

In neun Punkten (65-138) beschreibt S. das Proprium eines Projektes: 1. Gemeindeglieder mit unterschiedlicher Frömmigkeit und Bindung zur Kirche stehen im Mittelpunkt; sie sind die Träger des Projektes. 2. Der Entscheidungsprozeß umfaßt eine Gemeindeanalyse, die Formulierung einer gemeinsamen Zielperspektive und deren Umsetzung in konzeptionelle Leitfragen. 3. Der Kirchenvorstand beschließt das Projekt und stellt die notwendigen Mittel zur Verfügung. 4. Ein Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen nimmt an einem Einführungskurs für das ausgewählte Projekt teil. 5. Für alle Teilnehmenden gilt nun eine Verbindlichkeit auf Zeit: die Befristung macht die Teilnahme für viele erschwinglich, die Verbindlichkeit sichert die Dichte der Kommunikation. 6. Fundamental ist die geistliche Dimension: Biblisches Wissen und spirituelle Erfahrung sind wesentlich; sie sind stets auf die Alltagsexistenz der Teilnehmer zu beziehen. 7. Ein wesentliches Ziel ist die Förderung der Sprachfähigkeit im Glauben. 8. Projekte zielen nicht auf homogene Zielgruppen, sondern auf heterogene Teilnehmerkreise; gerade das intergenerative Lernen wird hochgeschätzt. 9. Ein hoher Qualitätsstandard wird angestrebt, d. h. es geht um ganzheitliches Lernen. Werktreue gegenüber dem Projekt ist darum notwendig.

Was immer wieder zwischen den Zeilen zu lesen war, wird in theologischen Grundsatzkapiteln (156-180) noch einmal auf den Punkt gebracht: Hinter dem projektorientierten Gemeindeaufbau steht ein entschiedenes Ja zur Volkskirche. Nicht Kirche als Kontrastgesellschaft wird angestrebt, sondern eine offene Kirche für alle Getauften. Diese Kirche soll sich aber nicht in zahllosen Aktivitäten verlieren, sondern das Gottesthema und die Glaubensfrage ins Zentrum rücken. Sie soll den Getauften helfen, daß ihr Glaube erwachsen werden kann. Dazu muß der Glaube erfahrungsbezogen vermittelt werden: Seine Evidenz für die Lebensgestaltung des einzelnen muß sichtbar werden. Der projektorientierte Gemeindeaufbau sagt außerdem Ja zum gewandelten Teilnahmeverhalten: Projekte sind zwar verbindlich, aber eben nur auf Zeit. Dabei sind besonders die eher fernstehenden Getauften im Blick. Der projektorientierte Gemeindeaufbau ist der entschiedene Versuch der Rehabilitation der Distanzierten: Auch sie sind als Christen ernstzunehmen, ihr Christsein darf nicht als defizitär diffamiert werden. Aber der punktuelle Kontakt mit ihnen ist zu suchen, um ihren Glauben zu stärken, aber auch um ihren Beitrag zum Leben der Gemeinde zu nutzen. Es geht um eine "theologisch legitime Gestalt des Christseins in relativer Distanz zur Gemeinde" (176). Darum ist es auch so wichtig, die Distanzierten nicht doch klammheimlich "heimholen" zu wollen. Ist das Projekt abgeschlossen, kehren die Teilnehmer zurück in die ihnen angemessene Weise der Nähe oder Distanz zum gemeindlichen Leben.

S. hat mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag zur Gemeindeaufbau-Debatte geliefert. Es ist ihm gelungen, die weit verbreiteten Projekte (von "Einladung zur Taufe" bis "Sterbende begleiten") theologisch auf einen Nenner zu bringen und ein volkskirchliches Gemeindeaufbaukonzept darzustellen. Das zunächst theologisch nichtssagende Stichwort "projekt-orientiert" wird als wesentliche Bestimmung eines Gemeindeaufbaus erkannt, der sich die Sache der Fernstehenden auf die Fahnen geschrieben hat. Dabei wird das unverbundene Nebeneinander von "Öffnen und Verdichten", das viele an der "Doppelstrategie" kritisierten, überwunden.

Auch wenn man nicht alle theologischen Prämissen und Konsequenzen teilt, sind die neun Koordinatenpunkte für projektorientiertes Arbeiten hilfreich: Sie beschreiben, wie in einer Gemeinde ein kybernetischer Prozeß in Gang kommen kann. Vieles von dem hier Beschriebenen gilt auch für andere Konzeptionen, etwa den "missionarischen Gemeindeaufbau", der auch mit Projekten arbeitet wie dem Glaubenskurs "Christ werden ­ Christ bleiben": die Befristung, die Orientierung an den Fernstehenden, die Betonung des allgemeinen Priestertums, die neue Rolle der Theologen in der Zurüstung der Ehrenamtlichen, das Bemühen um eine prozeßhafte Veränderung der Gemeinde­ das dürfte heute kybernetischer Standard sein! Besonders anzuerkennen ist der Mut, das Glaubensthema in den Mittelpunkt zu rücken.

Einige Fragen bedürfen einer tieferen Diskussion, die das vorliegende Buch anstößt, aber nicht zu Ende führt: Der ausdrückliche Ansatz bei heterogenen Teilnehmergruppen (125-129) steht im Gegensatz zu den Aussagen etwa von Bill Hybels, der in der Homogenität der Zielgruppe eine Bedingung für eine kulturell auf die Fernstehenden eingehende Gemeindearbeit sieht.

Kritik wird laut werden müssen, nicht zuerst daran, daß manches in diesem Buch straffer und kürzer hätte beschrieben werden können, auch nicht daran, daß sich erstaunlich viele Druckfehler finden. Kritik betrifft aber z. B. die Lesbarkeit des Buches für Leser, die nicht vertraut sind mit den besprochenen Gemeindeaufbau-Projekten. Der Leser, der "Neu anfangen" etwa nicht kennt, muß sich die entsprechenden Informationen erst mühsam zusammensetzen. So eignet sich der vorliegende Band am ehesten für "Kenner der Szene". Darüber hinaus wird man fragen müssen, warum der Autor in einem 1996 erschienenen Buch so einseitig an westdeutschen Verhältnissen orientiert ist: Die ostdeutsche, nach-volkskirchliche Situation ist in diesem Buch nicht im Blick.

Kritik muß auch die latente Diskriminierung anderer Gemeindeaufbau-Konzeptionen auf sich ziehen. Hier wird eine argumentative Auseinandersetzung, die auch den Kontrahenten zu Wort kommen läßt, durch starke Worte ersetzt, wenn etwa dem "bekehrungsorientierten" Ansatz (ein unglücklicher, weil verkürzender Name für Vertreter des "missionarischen Gemeindeaufbaus") u. a. unterstellt wird, er sei vorwiegend volkskirchenkritisch und grenze fernstehende Christen aus, sei also nicht wirklich offen (169 f.). Die Neigung zur Abgrenzung läßt sogar den Begriff "Gemeindeaufbau" fragwürdig erscheinen (28 f.): Wenn aber dieser Begriff so sehr evangelikal belastet ist, muß man schon fragen, warum der Autor nicht seinem eigenen Gedanken folgt und von "projektorientierter Gemeindeentwicklung" spricht.

Die durchweg unterschwellig polemische Darstellung anderer Konzepte könnte den Kernpunkt der Auseinandersetzung verdecken: die Frage nach dem Christsein der Fernstehenden. Der Autor tritt vehement dafür ein, daß alle Getauften als Christen anzusehen sind, und daß es eine legitime Weise des Christseins ist, in relativer Distanz zur Kirche zu leben (43, 104, 166 u. ö.). Eine theologische Begründung dafür liefert er nicht. Er hofft, daß die Fernstehenden das Evangelium in ihre Lebensbereiche hinaustragen, auch wenn sie nahezu ohne Kontakt zur christlichen Gemeinde leben. Hier setzt der kybernetische Streit ein: Diese Sicht entspricht einem volkskirchlichen Illusionismus, der durch das Gespräch mit Fernstehenden und deren tatsächlichen Einstellungen zu Glauben und Kirche nicht gedeckt wird; sie entspricht zudem einem ekklesiologischen Reduktionismus: Zum Glauben gehören in biblischer und reformatorischer Perspektive das "Bleiben" und die ­ wenn auch verschieden gestaltete ­ Kontinuität. Nicht am Ja zur Volkskirche und auch nicht an der Orientierung an den Fernstehenden entbrennt der Streit, wohl aber in der Einschätzung der Fernstehenden und in der Zielsetzung: Wenn Kontakt entsteht, darf er auch gepflegt werden, und es ist ein legitimer Wunsch, Menschen in der Gemeinde zu beheimaten. Daß sich dazu auch die Gemeinde verändern muß und kann, versteht sich eigentlich von selbst. Der Streit um den Gemeindeaufbau in der Volkskirche ist also noch nicht zu Ende. Dem Verfasser ist für einen profilierten Gesprächsbeitrag zu danken.