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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

285 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Munz, Regine

Titel/Untertitel:

Religion als Beispiel. Sprache und Methode bei Ludwig Wittgenstein in theologischer Perspektive.

Verlag:

Düsseldorf: Parerga 1997. 224 S. gr.8°. Kart. DM 58,­. ISBN 3-930450-19-4.

Rezensent:

Wolfgang Pfüller

Noch ein Buch über Wittgenstein? Wo doch dieser außerordentlich kreative und unkonventionelle Denker bereits eine wahre Flut von Büchern hervorgerufen hat, während er selbst nur sehr wenige schrieb. Die Vfn. belegt im dritten Teil ihrer Arbeit (115-164) die breite Rezeption, die Wittgensteins Denkanstöße philosophischer- wie theologischerseits erfahren haben.

Nun, eine direkte Antwort auf die anfangs gestellte Frage gibt die geringfügig überarbeitete Baseler Dissertation von 1996 nicht. Auch die Darstellung der theologischen Rezeption W.s hat nicht den Zweck, den spezifischen Beitrag der Vfn. zu profilieren. Vielmehr geht es neben einem kurzgefaßten Überblick vor allem um die Schwierigkeiten des theologischen Umgangs mit W. (einschließlich einer verkürzenden Rezeption) und um die Verteidigung W.s gegen Einwände.

Immerhin, die Vfn. befaßt sich vornehmlich mit dem "Mittleren Wittgenstein", mit der Zeit des Übergangs vom "Tractatus" zu den "Philosophischen Untersuchungen". Hierbei nimmt sie speziell W.s Äußerungen zu Religion, Ethik u. ä. in Augenschein, und zwar anhand dreier weniger bekannter Texte. "Ich werde mich besonders mit W.s ’Vortrag über Ethik’ aus dem Jahr 1929, den ’Bemerkungen über Frazers Golden Bough’, an denen W. seit anfangs der dreißiger Jahre über einen längeren Zeitraum hinweg arbeitete, und den ’Vorlesungen über den Religiösen Glauben’ aus dem Jahr 1938 beschäftigen" (19). Dies geschieht im ersten Teil der Arbeit (25-79) und führt in erster Linie zu der Einsicht, daß W. "Religion als Beispiel" für die eigenen sprachphilosophischen Überlegungen verwendet. Daraufhin aber stellt sich die Aufgabe zu klären, was das heißt. Die Vfn. wendet sich im zweiten Teil ihrer Arbeit (81-114) dieser Aufgabe zu.

Dabei grenzt sie nicht nur "Beispiel" von "Paradigma" und "Exempel" ab. Mehr noch verdeutlicht sie, daß die unzähligen, von W. verwendeten Beispiele für ihn nicht erstrangig illustrativen Charakter haben, sondern zuinnerst mit seinem Denken verbunden sind. Sie sind Kennzeichen seines beschreibenden Denkens, das die Wirklichkeit nicht kausal erklären oder normativ regulieren will. "Beispiele und Beschreibungen machen nicht bloß eine welt- und beobachterzugewandte Seite von Wirklichkeit sichtbar, die indirekt etwas Verschleiertes, Verborgenes, Inneres, Wichtigeres birgt, das selbst wiederum ... erst mit Hilfe von richtigen Erklärungen zur Sprache gebracht werden kann, sondern sie bringen als Beschreibungen die Wirklichkeit selbst zur Darstellung" (100 f.). Demgemäß verwendet W. Beispiele nicht wie üblich "als Werkzeuge zur Explikation allgemeiner Sätze oder Ideen", sondern richtet "sein Augenmerk gerade auf das Widerständige am Beispiel. Während allgemeine Sätze und Urteile zu einem Umgang mit Wirklichkeit tendieren, der gemeinhin mit Erklären bezeichnet wird, neigen Wittgensteins Beispiele zur Haltung, die alles läßt, wie es ist, und sich dem puren Beschreiben widmet" (98). Im letzten Teil (165-204) versucht M., aus W.s Beispielverständnis und extensivem Beispielgebrauch theologischen Nutzen zu ziehen. Infolge dessen erhebt sich die fundamentaltheologische Frage nach der Argumentations- und Darstellungsweise der Theologie (167): Beobachtungen zu Schleiermacher und Sauter (184 ff., 190 ff.) belegen beispielhaft (sic!) das Folgende: Wenn die Theologie Beispiele nicht nur in der gewohnten Weise als "Explikationen von etwas schon Bekanntem" verwenden will, muß sie zwei Bedingungen erfüllen. 1. Sie muß den Anspruch aufgeben, "eine vollständige Beschreibung der zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten, abgegrenzten Gebiet existierenden religiösen und kirchlichen Wirklichkeit wiederzugeben". 2. Sie muß die Überzeugung aufgeben, "daß in dem zu Beschreibenden, uneinholbar Differenten etwas Gemeinsames liegen und gefunden werden könne" (194).

Erweist sich gerade mit letzterem Gedanken M.s Buch als ein weiteres Beispiel einer auch in der Theologie längst heimischen "postmodernen" Beliebigkeit mit ihrer Vorrangstellung des Differenten, Divergenten, Inkommensurablen usw.? Und dies, zumal W. mittlerweile auch als Wegbereiter der "Postmoderne" ausgemacht ist und M. in seiner kritiklosen theologischen Gefolgschaft steht? Eine ohne weiteres bejahende Antwort auf diese Frage wäre sicher zu pauschal. Beispiele sind für M. auch beispielgebend. Und wenn der Theologie "die Rolle einer Einrichtungs- und Betreuungsinstanz für eine Sammlung beispielgebener theologischer Sprachhandlungen" angesonnen wird (200), so ist das nicht nur originell, sondern bezeichnet auch die regulierende Funktion der Theologie. Freilich, wie die beispielgebenden theologischen Sprachhandlungen regulativ begründet werden sollen, wird ungeachtet der Reflexion auf G. A. Lindbecks "Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens" (195ff.) nicht ersichtlich. Die Stärke des Buches von M. liegt denn auch eher in seiner nach meinem Eindruck hervorragenden interpretatorischen Kompetenz. M. ist nicht nur mit den Texten W.s, sondern auch mit denen zu W. bestens vertraut. Daß sie ihm auch in der Form der "übersichtlichen Darstellung" (vgl. 116ff.) folgt, macht das Buch zwar nicht leichter lesbar und zuweilen nicht gerade tiefschürfend, aber dafür zumindest streckenweise durchaus anregend. Denn der für den "mittleren" und "späten" W. charakteristische aphoristische Denkstil liefert zwar keine scharfen Unterscheidungen und klaren Begriffsbestimmungen (vgl. 21. 25 u. a.), aber vielfältige Assoziationen und ungewöhnliche gedankliche Wendungen.