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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

275–277

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Steiger, Johann Anselm

Titel/Untertitel:

Johann Ludwig Ewald (1748-1822). Rettung eines theologischen Zeitgenossen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 598 S., 1 Taf. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 62. Geb. DM 168,­. ISBN 3-525-55171-1.

Rezensent:

Martin Greschat

Allzuwenig wissen wir über die religiösen, theologischen und kirchlichen Gegebenheiten in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jh. Die gängigen Unterteilungen der Theologiegeschichte sind bekanntlich allzu grobmaschig. Sie behindern vor allem die Einsicht in den Prozeß des geistigen Wandels, in die damit verbundenen fließenden Übergänge, die für jene Epoche so charakteristisch sind. Orthodoxe und aufgeklärte Gedanken mischten sich da mit biblischen, pietistischen, reformatorischen. Nur schwer läßt sich deshalb auch im einzelnen fixieren, wer damals eher in der Mitte und wer stärker am Rande der geistigen und religiösen Vorgänge stand. Die Universitätstheologie bietet hier jedenfalls noch weniger als sonst einen sicheren Maßstab.

Die vorliegende Arbeit versucht, in der Konzentration auf das Leben und Werk des aus Hessen stammenden Theologen Johann Ludwig Ewald mehr Licht in dieses Dunkel zu bringen. Ausgehend von der Feststellung, daß es eine auch nur halbwegs relevante wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Persönlichkeit bislang nicht gegeben hat, wird in einem ersten Abschnitt Ewalds Biographie abgehandelt (27-164). Es folgen zwei große Kapitel, welche die Grundlinien seiner Theologie und deren Konkretion anhand einzelner Sachfragen darlegen (165-314; 315-445). Das vierte Kapitel bietet die beeindruckende Bibliographie der gedruckten Schriften Ewalds mit mehr als 380 Titeln sowie die Auflistung der umfangreichen ihn betreffenden Archivalien (447-516). Die Edition von acht Quellentexten (519-538) und ein Anhang, der die Zusammenfassung der Arbeit in 72 Thesen bietet, einige informative Abbildungen, das Verzeichnis der benutzten Quellen und der Sekundärliteratur sowie ein Namensregister (539-598) beschließen den Band.

Ewald verbrachte ein bewegtes Leben, das ihn vom Pfarramt bei Hanau 1781 auf die Stelle des lippischen Generalsuperintendenten in Detmold führte. Von dort ging er 1796 als Pfarrer nach Bremen, übernahm 1805 eine Professur für Pastoraltheologie und Moral in Heidelberg und kam schließlich 1807 nach Karlsruhe, wo er als oberster reformierter Geistlicher mit dem Titel eines Ministerial- und Oberkirchenrates zur Kirchenleitung des Großherzogtums Baden gehörte. Schon in seiner Anfangszeit war Ewald literarisch überaus produktiv, vor allem auf katechetischem und insgesamt pädagogischem Gebiet. Er gründete Zeitschriften, pflegte intensive briefliche und persönliche Kontakte mit berühmten und weniger angesehenen Zeitgenossen ­ Theologen ebenso wie Philosophen und Pädagogen ­, war in mancherlei theologische, pädagogische, auch politische Fehden verwickelt und steckte lebenslang voller Pläne und Reformprojekte auf den verschiedensten Gebieten. Man begreift, daß diese Persönlichkeit einen Autor zu fesseln vermag.

Einer theologischen Schule läßt sich Ewald nicht zuordnen. Dazu war er zu originell. Zunehmend gewann jedoch, wie hier klar und überzeugend herausgearbeitet wird, die Bibel für ihn zentrale Bedeutung. Welche Hermeneutik verband er damit? Nach der Überzeugung des Vf.s war es der reformatorische und insbesondere der luthersche Umgang mit der Bibel, zu dem Ewald vorstieß. Dementsprechend bot er ­ so lautet die These dieser Untersuchung ­ die "reformatorische Verkündigung im Kontext der Aufklärung" (25), d. h. als deren wirklicher Zeitgenosse.

Dieser Grundsatz wird nun breit, kenntnisreich und unter verschiedenen Gesichtspunkten entfaltet. Fraglos trifft der Autor dabei Wesentliches und vermag auch immer wieder überzeugende theologische Zusammenhänge in der Position Ewalds aufzuweisen. Trotzdem bleibt ein Unbehagen, das sich vor allem aus dem historisch doch wohl zu groben Raster reformatorische Theologie versus Aufklärung speist. Ewald empfing, hören wir, wesentliche religiöse und theologische Anstöße von Pietisten (46 ff.). Die Feststellung, trotzdem sei er kein Pietist gewesen, weil er die Sonderlehren von Lavater und Philipp Matthäus Hahn nicht übernommen habe, greift doch wohl zu kurz. Ähnliches ließe sich vom Einfluß orthodoxer Theologen auf Ewald sagen. Kann man so plan von der Orthodoxie reden, wie es hier weitgehend geschieht? Hatten deren Vertreter nicht oft genug sowohl pietistische als auch aufgeklärte Elemente in ihr Denken integriert?

Auch die Aufklärung bildet, wie wir wissen und worauf der Vf. mehrfach hinweist, keine Einheit: die Neologie ­ merkwürdigerweise heißt sie hier stets "aufgeklärte Neologie"! ­ ist doch nicht identisch mit dem Rationalismus; und noch einmal anders stellt sich die Empfindsamkeit der späten Aufklärung dar. Solche historischen Differenzen und Nuancen, die jedoch gerade die Eigentümlichkeit der Epoche ausmachen, kommen in der Darstellung aufgrund der genannten Position des Vf.s eindeutig zu kurz.

Es ist hier nicht der Ort, um die vom Vf. dargelegten Gemeinsamkeiten und geistigen Vorgriffe Ewalds im Blick auf das Denken Kants, Schleiermachers und Hegels oder das Judentum und die Wunderfrage im einzelnen zu würdigen. Wesentlicher erscheinen mir einige Bemerkungen hinsichtlich des hier entfalteten Verständnisses der reformatorischen Theologie. Daß die Wiedergewinnung der biblischen Erzählweise ein fruchtbarer Ansatz Ewalds war, sowohl gegenüber der orthodoxen Lehrhaftigkeit als auch der aufgeklärten Reduktion der Theologie auf moralische Sätze, wird eindringlich und überzeugend herausgearbeitet. Aber ist diese Konzentration auf die biblische narratio identisch mit dem reformatorischen Schriftprinzip? Lassen sich daraus schon die Inhalte der orthodoxen Dogmatik ableiten? Unverkennbar vertrat Ewald diese mit großem Nachdruck. Was das Reformatorische dagegen inhaltlich umschließt, tritt hier kaum präzise hervor ­ obwohl der Autor immer wieder Ewalds Stellungnahmen mit denjenigen Luthers nicht nur vergleicht, sondern auch identifiziert. Und wie soll man die Aussage verstehen, "daß Ewald in der Sache mit den reformatorischen Wurzeln christlicher Lehre übereinstimmt, weil er mit den Reformatoren vor allem die biblischen Wurzeln gemeinsam hat" (261)?

Das Schillernde, Suchende, oft Assoziative und in den einzelnen Aussagen immer wieder nur schwer miteinander zu Verbindende im Denken und Argumentieren Ewalds fehlt in dieser Darstellung keineswegs. Aber häufiger begegnet jene einlinig anmutende Integration der Aussagen Ewalds in das genannte Konzept, erscheinen die Interpretationen und Erläuterungen des Vf.s überdehnt, wenn nicht sogar konstruiert. Zumindest eigenwillig muten auch die Mitteilungen des Autors zum Verständnis der Kirchengeschichte an. Er begreift diese, im Anschluß an Ebeling, jedoch ohne nähere Begründung, als die Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, was hier heißt: Es gehöre "zum Geschäft eines Christenmenschen, dem fernen, vergessenen Nächsten ein Christus zu werden und ihn zu vergegenwärtigen" ­ was zugleich einen Beitrag biete "zur proleptischen Gestaltwerdung der Auferstehung vor der Zeit" (21 f.)! Alles in allem also: Eine interessante, anregende Untersuchung, die ebensosehr belehrt und bereichert, wie sie Fragen und Widerspruch auslöst. Hinzuzufügen bleibt schließlich, daß diese Studie von der Theologischen Fakultät in Leipzig 1994 als Habilitationsschrift für das Fach Kirchengeschichte angenommen worden ist.