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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

367-369

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bammel, Christina-Maria:

Titel/Untertitel:

Aufgetane Augen ­ Aufgedecktes Angesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005. 496 S. 8° = Öffentliche Theologie, 19. Kart. EUR 49,95. ISBN 3-579-05214-4.

Rezensent:

Gunda Schneider-Flume

Das Phänomen der Scham wird innerhalb der Systematischen Theo logie und der theologischen Anthropologie weitgehend marginalisiert. Das ist ein Defizit, denn für die Subjektwerdung des Menschen und für die Gestalt der Person sind Scham und Schamhaftigkeit von zentraler Bedeutung. Ohne Phänomene der Scham im Blick zu haben, kann konkret weder vom Menschen noch von seinem Gottesverhältnis und seiner Identität gesprochen werden. Narrativ lässt Gen 3 das aufleuchten. Aber die verbreitete Ratlosigkeit angesichts der Erzählung dieses menschlichen Dramas ist in der Dogmatik allenthalben spürbar. Christina-Maria Bammel legt nun eine Arbeit vor, in der das Phänomen Scham breit dargestellt, theologisch gedeutet und im interdisziplinären Gespräch mit Phänomenologie, Philosophie, So zio logie, Psychologie und Theaterwissenschaft profiliert wird. Sie eröffnet damit neue Wege für die Verständigung über die theologische Rede vom Menschen, von der Versöhnung, der Sünde und von Gottes Handeln.

Die bei Wolf Krötke gearbeitete Dissertation ist nach einer Einleitung in fünf große Paragraphen gegliedert und wird mit einer knappen Schlussbemerkung abgeschlossen. Die Untersuchung versteht Scham als Emotion, als allgemein menschliches Konfliktgefühl, das konstitutiv für menschliches und so auch christliches Leben ist. Als Kennzeichen der menschlichen Selbstreflexivität ist Scham Merkmal der guten Schöpfung Gottes. Insbesondere deshalb muss sie theologisch interpretiert werden. »Die Studie stellt den inneren Zusammenhang von Personwerdung und Leiblichkeit im Horizont der Schamerfahrung und ihrer dazugehörigen Semantiken dar.« (18 f.) Obwohl die Vfn. die in den nichttheologischen Wissenschaften breite Bearbeitung der Scham umfassend aufgreift, nimmt sie einen dezidiert theologischen Standpunkt ein: »Was Scham Š für den Menschen ist, wird konkret und differenziert von der Zusage ihrer Überwindung her sichtbar. Sie schafft Raum für menschliche Initiative, sich auf die bleibende Problematik der Scham auch im christlichen Leben ohne grenzenverachtende Eigenmächtigkeit einzulassen. In den Räumen dieser Initiative ist Menschen die Zeit gegeben, sich auf das für sie im Eschaton noch Ausstehende auszurichten Š« (20).

Leitfrage der Schamerfahrung ist die Frage: »Als wer möchte ich gelten?« ­ eine Frage die nur im Zusammenhang mit (Selbst-)Darstellung und -Abgrenzung gegen die Außenwelt bedacht werden kann. Das Phänomen Scham wird in ganz unterschiedlichen Er scheinungsformen manifest. § 1 entfaltet das Phänomen der Scham differenziert als Sachverhalt dessen, dass Menschen »im Sehen und Gesehenwerden eigentümlich menschlich sind Š« (98). Wichtig ist dabei, Scham nicht ausschließlich auf die Verbindung mit Schuld festzulegen, sondern ihre allgemein anthropologische und identitätstheoretische Bedeutung zu erfassen.

In § 2 liest die Vfn. die biblischen Texte als Beitrag zu einer Phänomenologie der Scham und arbeitet so ihre anthropologische Be deutung heraus. Scham wurzelt in vollständig entwickelter Selbstbewusstheit, und sie ist nötig, um einen reflektierten Bezug zur eigenen und fremden Schuld entwickeln zu können. Die Vfn. resümiert das biblische Verständnis: »Die Konfliktemotion Scham verdichtet in leibhafter Existenz das Wesen einer gestörten Beziehung zu Gott, zur Umwelt oder dem Nächsten.«

In der systematisch-theologischen Diskussion (§ 3) geht es da rum, das ambivalente Phänomen Scham entgegen der weitgehenden Marginalisierung in der Dogmatik theologisch zu deuten. Von daher müsste auch der zum »Unwort« gewordene Begriff Sünde wieder konkretisiert werden können. »Was theologisch von der Sünde zu sagen ist, steht unverkennbar in einer genauen Analogie zur Schamemotion, in welcher der Mensch vor anderen und vor sich selbst nicht mehr offenbar sein kann Š« (213 f.). Scham muss also aus dem Gottesverhältnis interpretiert werden. In der Scham meldet sich, das ist die These der Vfn., verdeckt das Sündenbewusstsein. »Darum muss die Behauptung, Menschen hätten heute kein Sündenbewusstsein mehr, doch differenziert werden. Menschen, die Gott vergessen haben, vermögen dieses Bewusstsein nicht mehr zu artikulieren, aber im Drama der Scham wird sichtbar, dass es unthematisch und unreflektiert mit ihren Lebenskonflikten auf dem Plan ist.« (218) Meldet sich hier eine natürliche Theologie der Scham (Sünde)? Möglicherweise hat hier das Interesse, Menschen, die Gott vergessen haben, das Evangelium nahezubringen, den sonst von der Vfn. im Anschluss an Barth stets formulierten Vorbehalt gegenüber »natürlicher« Sündenerkenntnis außer Kraft gesetzt.

Leitend ist für die Vfn. Barths Deutung der Sünde als Hochmut und Trägheit. Sie stellt Barths Ausführungen, seinen Begriff der Ge schichte auslegend, als »Drama« der menschlichen Person, als Be schreibung des tragischen Dauerkonfliktes zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverstoßung dar. Die sensible Interpretation von Barths Hamartiologie ist erhellend auch zum Verständnis der Scham. Gegen Pannenberg und Ric¦ur plädiert die Vfn. für eine nicht nur negative Sicht der Scham. »Der Mensch als Geschöpf Gottes zeigt durch seine Scham selbst in der Gottesferne an, dass er zur Übereinstimmung mit sich selbst geschaffen ist.« (252) »Die Scham erinnert mich daran, wie Gott mich gemeint hat Š« (255). Das gilt allerdings nur dann, wenn die Scham im Lichte der Geschichte Gottes wahr genommen wird. Die Vfn. bringt das zur Sprache mit dem Hinweis darauf, dass die Scham und insbesondere die Todesscham nicht als Faktum an sich zu verstehen seien, sondern lediglich als Kontrastmoment zur Ehre des Menschen, die ihm als selbständigem Geschöpf von Gott her zukomme. Von daher wird auch die Scham als »Schutzraum« der menschlichen Person verständlich. Die vielen Gesichtspunkte, die die Vfn. von dem Verständnis der Scham aus für die Le bensführung und für die Heiligung geltend macht, etwa der Hinweis auf die erweiterte Scham als Zeichen der Stellvertretungsgestimmtheit (293 ff.), können hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden.

In § 4 setzt die Vfn. neu an zum Gespräch mit philosophischen Fragestellungen insbesondere der Neuen Phänomenologie. Die für das Verständnis der Scham wichtige Erfahrung der Räumlichkeit und der Atmosphäre, das Verhältnis von Emotionalität und Rationalität sowie die Bedeutung der Scham für Selbstwerdung und Integrität der Person und die Intersubjektivität werden in Auseinandersetzung mit neuer und neuester Literatur diskutiert. Etwas knapp und unvermittelt kommt zur Sprache, dass sich in der Scham auch die Angewiesenheit des Menschen auf Liebe melde.

Mit § 5 greift die Vfn. noch einmal ein spannendes Thema auf, das in der Durchführung der Arbeit schon angeklungen ist. Wenn Scham im Drama des sich selbst darstellenden Menschen verankert ist, liegt es nahe, sie auch als Fundament der Theatralität zu bedenken. Es ist verblüffend, mit wie viel Kompetenz die Vfn. die Bedeutung von Masken, die Rollentheorie, die Frage der Glaubwürdigkeit von Schauspielern und der Wahrnehmung von Atmosphäre verfolgt. Doch scheint mir in diesem Paragraphen die Arbeit wegen der Materialfülle ein wenig in die Gefahr der Überfrachtung zu geraten. Möglicherweise entsteht hier bald eine weitere Arbeit. Der Sprung von der Atmosphäre auf dem Theater zur entlastenden Atmosphäre Gottes (465) kommt allerdings etwas zu rasch.

Im Verhältnis zur gesamten Arbeit ist die Schlussbemerkung sehr knapp geraten. Die vielen wichtigen Einzelergebnisse hätten eine ausführliche Zusammenfassung verdient. Gleichwohl bringt die gründliche, einfallsreiche Arbeit großen Erkenntnisgewinn für die theologische Anthropologie und die Hamartiologie und für die Anthropologie überhaupt, darüber hinaus bietet sie eine vorbild liche interdisziplinäre Studie und von daher großen Sprachgewinn für die Verständigung über theologische Sachverhalte.<