Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2007

Spalte:

357-359

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Köhler, Wolfgang R., u. Hans-Dieter Mutschler [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Ist der Geist berechenbar? Philosophische Reflexionen.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. 207 S. 8°. Kart. EUR 34,90. ISBN 3-534-17210-8.

Rezensent:

Michael G. Parker

Fortschritt in der Wissenschaft wird oft mit ihrer Mathematisierbarkeit gleichgesetzt. Faktisch werden immer neue Bereiche mit Hilfe der Mathematik erfasst. Es gibt auch den Versuch, geistige Vorgänge zu mathematisieren und damit zu natu ralisieren. Ist dieser Versuch methodologisch gerechtfertigt? Gibt es faktische oder prinzipielle Grenzen der Berechenbarkeit? Gibt es Sachverhalte, die verstehbar, aber nicht berechenbar sind? Ist der Geist überhaupt berechenbar? Alles Fragen, die die Autoren dieses Buches von verschiedenen Perspektiven aus zu beleuchten versuchen.

Matthias Scheutz blickt auf Leibniz und die Ursprünge der Berechnungshypothese im 17. Jh. zurück. Damit versucht er eine Brücke zu schlagen zwischen dem »mechanisierbaren Denken« der damaligen Zeit und den funktionalistischen Theorien des Geistes in der heutigen Philosophie. Ein Gemeingut der beiden ist die Vorstellung, dass Denken auf der Manipulation von Symbolen oder Repräsentationen beruht. Oder, wie Hobbes es formuliert: »Everything done by our mind is a computation.« Dieses »computational model« des Geistes wird im 20. Jh. durch die logische Analyse von bestimmten Schüsselbegriffen wie auch von den rasanten Forschritten in der Entwicklung der Elektronik untermauert. Mit der Herstellung des Computers kann man von zwei Richtungen in der Entwicklung des Berechnungsbegriffes sprechen: einer »logisch-theoretischen« und einer »praktisch-technologischen«. Die »logisch-theoretische« Richtung betrifft Alan Turings Überlegungen zum »Maschinenmodell«, das die Funktionsweise des Gehirns imitieren soll. Die »praktisch-technologische« Richtung wurde vor allem von Psychologen in den späten 50er Jahren des letzten Jh.s eingeschlagen, um mit Hilfe der neuen Computerwissenschaften kognitive Vorgänge zu verstehen. Scheutz stellt die neueren Einwände gegen die Berechnungsthese dar, nimmt ihre Kritik auf und versucht einen neuen Berechnungsbegriff zu entwickeln, der sich mehr an den Bedingungen der realen Welt orientiert.

Klaus Fischer zeigt »drei Grundirrtümer der Maschinentheorie des Bewusstseins« auf: 1) Der Funktionalismus behauptet, dass Berechnungsprozesse »multiply realizable« sind, d. h. die Software (in diesem Fall also der Geist) ist unabhängig von der Hardware, auf der sie läuft. 2) Syntaktische Theorien des Geistes unterstellen, dass Denken Manipulation von Symbolen nach Regeln ist. 3) Der Behaviorismus erkennt nur solche mentalen Phänomene, die einem äußeren Beobachter zugänglich sind. Alle drei Grundthesen übersehen, nach Fischer, dass die Semantik oder Bedeutungsebene nicht in der Syntax enthalten ist. Letztlich verweist er auf die ethischen Konsequenzen der Maschinentheorie für die Medizin, das Rechtssystem und die Ethik und fragt, ob es nicht bessere Lösungen zur Leib-Seele Problematik gäbe.

Godehard Brüntrup unterscheidet zwischen einem methodologischen und einem metaphysischen Funktionalismus. Er hält einen methodologischen Funktionalismus, der Korrelationen zwischen Gehirnfunktionen und neuronalen Netzwerken beschreibt, für un verzichtbar. Dagegen findet er die metaphysische These, dass das Wesen aller mentalen Entitäten durch ihre kausal-funktionale Einbettung in der Welt bestimmt wird, problematisch. Brüntrup un terscheidet näher zwischen einem »schwachen« und einem »stark-reduktiven« Funktionalismus. Für einen »schwachen« Funktionalisten sind mentale Eigenschaften auf funktionale, aber nicht auf physische Eigenschaften reduzierbar. Deshalb können sie in verschiedenen physischen oder geistigen Systemen realisiert werden (multiple Realisierbarkeit). Damit können die Gesetze der Psychologie erforscht werden, ohne auf deren konkrete physische Realisierung Rücksicht zu nehmen. Im Kontrast dazu reduziert ein »stark-reduktiver Funktionalist« mentale Zustände mit Hilfe einer funktionalen Beschreibung auf das Physische. Für das funktionalistische Programm gilt: Als wissenschaftliche Methode, die versucht, Brückengesetze zwischen neuronalen Prozessen und Bewussteinszuständen zu finden, ist der Funktionalismus unerlässlich. Aber als metaphysisches Programm gerät er in Widersprüche.

Geert Keil kritisiert in seinem Aufsatz den sogenannten Homunkulus-Fehlschluss in der Kognitionswissenschaft. Nach Keil tritt dieser dann auf, wenn das Vermögen eines ganzen geistbegabten Wesens einem seiner Teile oder Subsystemen zugeschrieben wird. Ein Homunkulus wird meistens dann eingeführt, wenn man versucht a) intentionale in kausale Erklärungen zu überführen und b) wenn man davon ausgeht, dass das Denken ein Prozess der Symbolverarbeitung ist. Keil kritisiert den Homunkulismus in drei Theorien‹der visuellen Wahrnehmung, im Repräsentationismus und im »homunkularen Funktionalismus«. Alle drei übersehen, dass ein Übergang von einer intentionalen zu einer mechanischen Erklärung deshalb nicht funktioniert, weil Homunkuli Adressaten von Anweisungen sind, für die notwendig intentionale Fähigkeiten vorausgesetzt werden müssen.

Holms Tetens verweist auf die faktischen Grenzen unseres Wissens. Ob wohl er die Position vertritt, dass menschliches Verhalten und Handeln im Prinzip nichts anders sind als gehirngesteuerte Bewegungen des menschlichen Organismus und gehirngesteuerte Tätigkeit seiner Drüsen, meint er, dass das Gehirn faktisch zu komplex ist, um menschliches Verhalten davon abzuleiten.

Hans-Dieter Mutschler macht darauf aufmerksam, dass ein Computermodell des Geistes voraussetzt, dass die Materie rechnen kann. Im ersten Teil seines Aufsatzes »Die Berechenbarkeit der Materie« argumentiert er, dass die Naturwissenschaft über keinen Materiebegriff verfügt. Also kann der Naturalismus sich nicht auf die Autorität der Physik stützen. In einem zweiten Teil »Rechnet die Materie?« zeigt Mutschler, dass die Computermetapher Zwecke in der Natur postulieren müsste. Die Vorstellung von einer Materie, die selbst rechnet, bleibt aber »hochmetaphysisch und äußerst voraussetzungsreich«.

Louise Röska-Hardy fragt, inwiefern geistige Prozesse mit physischen Prozessen identifiziert werden können. Sie untersucht drei Hauptansätze, die dieses Anliegen verfolgen, den informationstheoretischen Ansatz von Dretske, die Kausaltheorie von Fodor und die teleosemantische Theorie von Mil likan, und kommt zu dem Schluss, dass die Behauptungen dieser Ansätze bis jetzt nicht eingelöst werden können, da alle drei den Besonderheiten von intentionalen Gehalten nicht gerecht werden. Andreas Kemmerling setzt bei der Alltagspsychologie an, um die Frage »Was ist menschlicher Geist?« zu beantworten. Anders als bei Brüntrup unterscheidet Kemmerling nicht streng zwischen einem methodologischen und einem metaphysischen Funktionalismus. Nur so kann er von der Kognitionspsychologie eine Antwort auf die Frage, »was« der Geist sei, erwarten. Er behauptet, dass Geist eine Eigenschaft von Personen ist, die nicht auf formalisierbare Kompetenzen reduziert werden kann. Charakter, Emotionen, Urteilsvermögen und Phantasie sind wiederum Eigenschaften des Geistes, die nicht auf eine funktionale Ebene reduziert werden können.


Wolfgang R. Köhler schließt den Band mit Überlegungen zur »(Un-) Berechenbarkeit des Menschen« ab. Er stellt die Berechnungsthese des menschlichen Geistes in Frage und führt Argumente aus der Neurobiologie wie auch der Philosophie für seine Position an. Er plädiert für die geistige Unberechenbarkeit des Menschen. Einer Person steht eine bestimmte Menge von Lebensalternativen zur Verfügung und diese Freiheitsbereiche des Menschen schließen einen vollständigen Determinismus aus.

Mit diesem Band präsentieren die Herausgeber einige erstklas sige Beiträge zu einem sehr aktuellen Problemfeld. Sicher, einige Autoren hätten klarer zwischen den verschiedenen Beschreibungsebenen (methodologisch, empirisch, metaphysisch) unterscheiden können. Und einige Aufsätze lassen der gegnerischen Position nicht immer die notwendige Gerechtigkeit widerfahren. Insgesamt aber leistet dieser Band eine exzellente Beschreibung und Kritik der Probleme und Voraussetzungen einer Berechnungstheorie des Geistes.