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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

352-355

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Deutsche Søren Kierkegaard Edition.

Verlag:

Hrsg. v. H. Anz, N. J. Cappelørn, H. Deuser u. H. Schulz in Zusammenarbeit m. d. Søren Kierkegaard Forskningcenter in Kopenhagen. Bd. 1: Journale und Aufzeichnungen. Journale AA ­ BB ­ CC ­ DD. Hrsg. v. H. Deuser u. R. Purkarthofer m. Übersetzungen v. H. Deuser, K.-M. Deuser, U. Lincoln, R. Purkarthofer u. H. Schulz. Berlin-New York: de Gruyter 2005. XXIV, 614 S. m. Abb. u. Ktn. gr.8°. Lw. EUR 198,00. ISBN 3-11-016977-0.

Rezensent:

Walter Dietz

Die Herausgabe der Werke Søren Kierkegaards ist eine »abendländische, ja eine universale, eine allgemeinmenschliche«, also nicht nur eine »deutsch-skandinavische Angelegenheit« (Theodor Haecker 1949). Aber doch auch Letzteres, wenn man dem geistigen und sprachlichen Bezugsfeld seines Wirkens nahe kommen will. Eine historisch-kritische Ausgabe ist ein über eine Gesamtausgabe (an satzweise durch E. Hirsch 1951 ff. verwirklicht) hinausgehendes Projekt. Die getrennten Sektionen der (von ihm selbst bzw. anderen) veröffentlichten Werke, Tagebücher, Exzerpte, Vorlesungskommentare, Entwürfe, Briefe usw. zu bündeln und editorisch zu vereinen, war bislang ein uneingelöstes Desiderat. Der Verlag Walter de Gruyter hat dieses »editorische Großprojekt« (viii) einer zuverläs sigen, wissenschaftlich brauchbaren und gut kommentierten Ge samtausgabe nun auf deutscher Seite in Angriff genommen. Im Herbst 2005 ist der erste Band der »DSKE« (Deutsche Søren Kier kegaard Edition, hrsg. v. H. Anz, N. J. Cappelørn, H. Deuser u. H.Schulz in Zusammenarbeit mit dem Søren Kierkegaard Forschungszentrum, Kopenhagen) veröffentlicht worden. Die deutsche Edition basiert auf der dänischen (SKS, 1997 ff.), ohne einfach deren »Nachäffung« sein zu wollen. Das ist auch gut so. Sie ist handlicher und ökonomischer geworden als ihr dänisches Vorbild, was vor allem auf die sehr sinnvolle Kompilation von Text und Kommentar in je einem Band zurückzuführen ist. Layout-technisch und textökonomisch stellt sie einen Fortschritt gegenüber der dänischen Edition dar. Im Blick auf den vorliegenden ersten Band wurde SKS-K17 in SKS 17 integriert und (mit gewissen, minimalen Anpassungen des Kommentars) ins Deutsche übertragen. Derartige Übersetzungen erfolgen stets auf Grund bestimmter Prämissen, z. B. der Originalgetreue, sprachlicher Schönheit, Zeitgemäßheit usw. Die Schwierigkeiten einer Übersetzung ins Deutsche halten sich hier durchaus in engen Grenzen (was z. B. nicht für die parallel be sorgte chinesische Edition gilt) ­ Dänisch ist relativ leicht zu ver stehen, nur ungeheuer schwer auszusprechen. Für die bekannte Hirsch/Gerdes-Ausgabe (Diederichs/GTB; von der Anordnung her missglückt, mit unvollständiger Tagebuch-Edition) gilt, dass sie Kierkegaard unter Vermeidung von Fremdwörtern zum Teil gnadenlos eingedeutscht hat, mit dem Ergebnis einer sprachlich durchaus nicht hässlichen, aber wissenschaftlich unbrauchbaren Werkausgabe, für die es nun endlich heißen kann: Abteilung halt ­ eine umfassende, präzise und wissenschaftlich brauchbare Edition ist im Kommen (bis sie vollständig das Licht der Leserwelt erblickt hat, wird freilich noch einige Zeit vergehen)! Zwar wird es nun mit der DSKE nicht unbedingt einfacher, billiger und handlicher, Kierkegaard zu studieren, aber wissenschaftliche Ansprüche kommen jetzt zum Zug ­ endlich, denn Kierkegaard ist immerhin schon stattliche 150 Jahre tot.

Damit sollen die Verdienste früherer Ausgaben (zunächst schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.s) nicht relativiert werden. Auch wo ihre Herausgeber schließlich in Wahnsinn, Sektierertum oder Verblendung endeten, bleibt ihr unauslöschliches Verdienst, die wichtigsten Schriften schon einmal vorab dem deutschen Publikum zugänglich gemacht zu haben. Vor allem die Hirsch/Gerdes-Ausgabe hat hier ein bleibendes Verdienst (schön, dass dort die dänischen Seitenzahlen der Samlede Vaerker ­ SV1 ­ am Rand notiert sind). Den Anspruch einer historisch-kritischen Ausgabe hatte das natürlich nicht. Selbst der für philosophische Klassiker renommierte Meiner-Verlag hat sich die Chance einer soliden Kierkegaard-Edition überraschenderweise entgehen lassen; die dort erschienene Ausgabe ist eine schmale Auswahl, zwar gut übersetzt, aber nur assoziativ kommentiert. Auch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (vgl. z. B. ihre Plato- und Kant-Ausgaben) hat sich für Kierkegaard nicht interessiert. Wie schon die Schleiermacher-Ausgabe (KGA, 1980 ff.) gezeigt hat, ist nun der Verlag de Gruyter alles andere als eine Notlösung für eine derartige historisch-kritische Edition. Angesichts des enormen Aufwandes muss der Preis nicht als zu hoch erscheinen. Wer sich derzeit unter den Interessenten noch halbwegs jugendlich wähnen darf, mag aus pekuniären Erwägungen heraus wohlgemut auf eine spätere Taschenbuchausgabe oder separate Studienausgabe (vgl. zu Schleiermacher) hoffen, die den Geldbeutel weniger in Mitleidenschaft zieht (nicht jeder verfügt ja über den finanziellen Spielraum wie ein Michael Pedersen Kierkegaard ­ Sørens ökonomisch höchst cleverer Vater). Allen anderen sei die Anschaffung ohne Einschränkungen empfohlen. Es besteht ­ zumindest für den Rezensenten ­ nicht die geringste »Gefahr«, dass diese Ausgabe noch zu Lebzeiten durch eine bessere überholt wird.

Der Frankfurter Systematische Theologe Hermann Deuser und seine Mitarbeiter verantworten die hier mit dem ersten Band vorliegende deutsche Kierkegaard-Ausgabe. Sie beginnt mit den Journalen und Manuskripten Kierkegaards (Pap.), deren Ausgabe auf elf Bände veranschlagt ist. Der erste liegt hier vor. Er orientiert sich an Band 17 der 55-bändigen dänischen Ausgabe (SK Skrifter = SKS: davon 28 Bde. mit Text SKS, 27 mit Kommentar SKS-K), die von N. J. Cappelørn u. a. herausgegeben wird (hier: SKS 17, Kopenhagen 2000). Dass mit den Papirer begonnen wird, leuchtet ein, da hier die frühesten Texte zu finden sind und offensichtlich das größte Defizit aller vorhandenen deutschen Ausgaben liegt. Die Papirer sind dabei nicht nur für sich genommen interessant, sondern auch als Vorstufen und Quellen zu später geplanten, teils auch realisierten Werken. SKS 17 bzw. DSKE 1 enthält Notizen aus den Jahren 1835­39 (schwerpunktmäßig 1835­37), also der Studentenzeit Kierkegaards. Inhaltlich und thematisch lassen sich diese Notizen nicht auf den Begriff bringen. Sie zeigen ein noch ungeordnetes Konglomerat von Interessen, vorwiegend im historischen, theologischen und ästhetischen Bereich. Ansatzweise manifestieren sie bereits Kierkegaards Genialität und seine Eigenständigkeit im Urteil. Die Theologie erscheint ihm als etwas Undurchdringliches; ihre von Kierkegaard avisierte klare, fast krasse Trennung von der Philosophie geht daher keineswegs zu Lasten Letzterer. Literarische Figuren (Faust, Don Juan, Ewiger Jude) und Grundfragen der Ästhetik stehen im Vordergrund des Interesses. Theologie ­ und zwar weniger Exegese als Kirchengeschichte und Dogmatik ­ wird von Kierkegaard nicht enthusias tisch, aber mit Interesse studiert. Ein zügiger Studienabschluss wird nicht angepeilt, hier hilft später erst der Tod des Vaters (1838) auf die Sprünge. Gegenüber der altkirchlichen Dogmatik findet sich Hochachtung, vgl. z. B. seine Notiz vom 8.7.37: »Die altkirchliche Dogmatik ist wie ein Zauberschloss« (Trylleslot), »in dem die schönsten Prinzen und Prinzessinnen in einem tiefen Schlaf ruhen ­ sie muss nur geweckt, belebt werden, um in ihrer ganzen Herrlichkeit dazustehen« (189). Leicht angestaubte Dogmen wachküssen ­ eine wunderbare Nebenbeschäftigung für den genialen (Noch-)Romantiker.

Die Notizen ­ nur zum Teil tagebuchartig ­ reflektieren nicht äußere Fakten oder objektive Wahrheit(en), sondern Kierkegaards sich Vertiefen bzw. Verzetteln in der eigenen Genialität; sie spiegeln »die geistige Entwicklung des jungen genialen Romantikers« (Gerdes 1962), wenngleich auch Hegel und der dänische Hegelianismus keineswegs ohne prägenden Einfluss bleiben. Meistens handelt es sich um Einfälle, Kommentare, Grundsatzreflexionen, gelegentlich auch (schöne) Gebete. Anders als F. Kafka, der seinen Nachlass dem Feuer überlassen wollte, vermachte ihn Kierkegaard seiner ewigen Liebe, d. h. seiner Ex-Verlobten Regine, die nur sie persönlich Betreffendes aussonderte und für den Rest die Annahme verweigerte. Die Papirer (Tagebücher, Manuskripte, Exzerpte, Entwürfe usw.) landeten sodann 1865 über Umwegen bei dem beflissenen Juristen H. P. Barfod, der die Originalhandschriften souverän und gnadenlos ­ mangels damals eben noch nicht vorhandener Kopierer ­ un mit telbar als Druckvorlage eingesetzt, eifrig verschnipselt und handschriftlich »verbessert« hat ­ eine unfreiwillige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für künftige Editoren und Textarchäologen.

Das Interesse der Papirer liegt nicht in einer Anrede an den Leser. Vielmehr sind sie Dokumente des Ringens um die eigene Identität, die eigene Position und Rolle in der Geisteswelt. Sie dokumentieren Stimmungen, Einfälle, Einwände und dergleichen ohne jeden An spruch, ein Ganzes darzustellen. Partikularität und Selbstbezüglichkeit sind legitime Momente derartiger Notizen. Sie sind, was sie eben sind: Notizen auf dem Weg zur Selbstaufklärung und Selbstabklärung ­ im Horizont einer unbestimmten Zukunft, die als be deutend nur geahnt, nicht begriffen werden kann. So enthält der Band das berühmte Gilleleie-Tagebuch (»Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen Š; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will«; 24), ferner Kierkegaards einfühlsame Reflexionen auf den Sinn einer narrativen Pädagogik (Von der Kunst, Kindern Geschichten zu erzählen; 132­143), verbunden mit der Mahnung, Kinder nur sokratisch und nicht lehrmeisterlich zu korrigieren, wenn sie etwas falsch verstanden haben (137). »Man muß auch selbst von Kindern lernen, von ihrer wunderbaren Genialität Š« (135). Damit sind nur zwei Textbeispiele dieses reichhaltigen Bandes herausgegriffen. Weiteres ist in dem vorgegebenen Rahmen nicht möglich.

Die Übersetzung ist sehr dicht am Original. Dieser bereits im Vorwort signalisierte Vorsatz wird voll eingelöst. Die Eigenheit und Sperrigkeit des Originals bleibt spürbar, jedoch nicht auf Kosten der Lesbarkeit. Die Übersetzung ist auf Exaktheit und Präzision, weniger auf Klang und Schönheit hin konzipiert. Das erhöht ihren wissenschaftlichen Wert. Orthographische Eigenheiten und Abweichungen im Original wurden nicht wegretuschiert (so bleibt z. B. der »chinesische Keiser«, gelegentlich »Haman«, »Sleiermacher« und »Rosenkrantz« stehen).

Der Kommentar ist nüchtern, sachlich und informativ gehalten. Er vermeidet einseitige Wertungen oder rein subjektive Urteile. Er ist sowohl in literaturwissenschaftlicher, ästhetischer und philosophischer als auch in theologischer Hinsicht sehr kompetent abgefasst. ­ Zu kritisieren gibt es an dieser Ausgabe nicht viel: Sie ist grundsolide konzipiert und gediegen auch in der äußeren Gestaltung der Bände. Kalenderdaten der Jahre 1835­39, einige Faksimiles und drei Karten (600­605) sind beigefügt. ­ Der einzige Wunsch, der für eine weitere Edition noch offen bleibt, wäre eine zweisprachige, dänisch-deutsche Parallelausgabe (mit synoptischem Seitenzahlregister der wichtigsten Ausgaben); so etwas sollte man ca. ab 2020 einmal in Angriff nehmen. Natürlich ist das beste Argument, dass dies nicht unbedingt nötig ist, eine präzise, verständige und unverfälschte Übersetzung ­ wie sie die DSKE nun in der Tat liefert.