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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

345-347

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schlette, Magnus:

Titel/Untertitel:

Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen. Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 384 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 106. Geb. EUR 69,00. ISBN 3-525-56333-7.

Rezensent:

Andrea Anker

In der Einleitung zu seiner 2002 als Dissertation vom Fachbereich »Philosophie und Geisteswissenschaften« der Universität in Frankfurt am Main eingereichten Schrift betont Magnus Schlette, dass er seine Arbeit als »philosophische Untersuchung« verstanden wissen wolle. Philosophisch und nicht etwa historisch sei die Untersuchung deshalb, weil es zentral um begriffliche Probleme gehe (9). Begriffliche Probleme beruhen, so die These von S., »auf Krisen der Handlungsorientierung« (9). Wiederum beruhen das Handlungsproblem und seine Lösung, die S. in seiner Arbeit beschäftigen, »auf einer Destabilisierung lebenspraktischer Orientierungen im Spannungsfeld der nachreformatorischen Konfessionsbildung« (10). Die pietistische Frömmigkeitspraxis sei eine Reaktion auf dieses Problem. Sie habe »Identitätsbildung« ermöglicht, genauer »die soziale Institutionalisierung narrativer Identitätsbildung und die charakterologische Ausprägung des homo narrans, also eines Typus narrativer Selbstverhältnisse« (10).

Der erste Teil der Arbeit (13­129) präsentiert eine Auswahl von Quellen, die den Pietismus »vorbereitet« und »geprägt« haben (15). Zunächst werden anhand von ausgewählten Texten nachreformatorischer Erbauungsliteratur (Valentin Weigel, Stephan Praetorius, Philipp Nicolai) die Eigenheiten dieses Frömmigkeitstypus im Kontext der damals zu bewältigenden sozial-, kirchen- und theologiegeschichtlichen Probleme dargestellt. Eine zentrale Beobachtung ist die, dass das von den Erbauungsschriftstellern avisierte Ziel einer »Intensivierung der Frömmigkeit« und einer »Verinnerlichung« im Sinne einer Emotionalisierung des Glaubenslebens durch die »Expression« und »Artikulation« z. B. der Freude auf das ewige Leben erreicht wird (11.25.31). Dieser Charakterisierung des nachreformatorischen Frömmigkeitstyps folgt eine Untersuchung von Johann Arndts »Vier Bücher(n) vom wahren Christentum« als »maßgeblich prägende[m] Werk« pietistischer Frömmigkeit und Sprache. S. hebt die Haltung reflexiver Selbstvergewisserung des Glaubenslebens (55 ff.), die Erwartung »sensitiv-empfindsamer« Heilserfahrung im Hier und Jetzt (58 ff.91) und den Anspruch subjektiver Vervollkommnung durch die Heiligung des Alltagslebens (Ethisierung) als spezifische Merkmale der Arndtschen Frömmigkeit hervor. Es folgt ein Abschnitt über die pietistische Naturfrömmigkeit im Kirchenlied, in dem herausgearbeitet wird, dass sowohl Arndt als auch Gerhardt und Tersteegen »das ästhetische Erleben für das affektiv selbstgenügsame religiöse Empfinden [funktionalisieren]« (90). Schließlich werden die »Pia Desideria« Philipp Jakob Speners analysiert und mit der in den collegia pietatis zum Ausdruck kommenden Frömmigkeitspraxis in Verbindung gebracht. S. hält u. a. fest, dass Spener gerade durch die Institutionalisierung von Impulsen Arndts einer »Subjektivierung« und »Dereglementierung« innerhalb der Institution (der Kirche) Vorschub geleistet habe (98). Der Separatismus habe sich dann ­ wie das Beispiel von Johann Jakob Schütz zeige ­ »im Sinne der innerlichkeitsakzentuierten Dezentralisierung und Individualisierung der kirchlichen Frömmigkeitspraxis«, obwohl von Spener angeregt, ausgerechnet gegen die von ihm formulierte Zielsetzung entwickeln können (127­129).

Erst die Schlussfolgerungen im zweiten Teil rücken die Ergebnisse des ersten Teils in den Zusammenhang einer systematischen Fragestellung. Diese lautet: Welches sind die Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung in der pietistischen Erbauungsliteratur? Im Anschluss an die Rezeption von Ulrich Oevermanns Modell des »so zialen Deutungsmusters« besteht für S. eine wichtige Erkenntnis darin, dass sich der Begriff »Pietismus« nunmehr beziehen kann auf »alles, was bestimmte religiöse Überzeugungen mit dem Vollzug der Sensitivierung, Reflexierung und Ethisierung des Glaubenslebens sowie der Selbstcharismatisierung des Gläubigen verbindet bzw. aus diesen Vollzügen neue Deutungsinhalte ... erzeugt. Pietistisch sind religiöse Deutungsvollzüge demnach auch dann noch, wenn sie sich von den zugelassenen Denkinhalten lösen und allein durch die besagten Strukturmerkmale der Sinnbildung kenntlich werden, ja in einem weiteren Sinne selbst nicht-religiöse Deutungsvollzüge, die diesen Merkmalen entsprechen« (161 f.).

Diese »idealtypischen Strukturmerkmale« religiöser Sinnbildung sollen im dritten Teil als »realtypische« identifiziert werden (181). Dafür eignen sich, so die These von S., Autobiographien besonders gut, seien sie doch dasjenige »soziale Medium«, in welchem die mentalitätsgeschichtliche Wende von einem »repräsentationalen« zu einem »expressiven« Modell personaler Identität am besten dokumentiert sei (11). Zur Erschließung der autobiographischen Texte bedient sich S. der Methode der Sequenzanalyse, die auf die Entdeckung einer bestimmten »Strukturlogik der Texterzeugung«, einer »in sich schlüssige[n]« »Verlaufsgesetzlichkeit« (185) aus ist. Mit dieser Methode wird zuerst August Hermann Franckes »Lebenslauff« untersucht, wobei sich das primäre Interesse auf die »Ausdrucksgestalt« religiöser Sinnbildung richtet. Daran anschließend folgen vier weitere sequenzanalytische Darstellungen pietis tischer autobiographischer Texte. In ihnen allen treten gemäß der Analyse von S. die typischen Strukturmerkmale pietistischer Religiosität, die »Sensitivierung«, die »Reflexivierung« und »Ethisierung« des Glaubenslebens sowie die »Selbstcharismatisierung« des Gläubigen (295) deutlich zutage. Man fragt sich: Haben die Reformatoren nichts oder weniger empfunden? Fehlte es einem Augustinus als Verfasser nicht nur seiner Confessiones an der »Reflexivierung« seines Glaubenslebens? Es ist bedauerlich, dass S. nicht durch einen Vergleich ­ beispielsweise mit der Orthodoxie ­ zu zeigen versucht hat, inwiefern sich der Pietismus durch diese Strukturmerkmale von anderen religiösen Bewegungen unterscheidet bzw. worin ge nau die spezifisch pietistische Ausprägung dieser Struk turmerk male liegt.

Im vierten Teil exponiert S. die These, dass die pietistischen Autobiographen entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis durch den Akt der Narration, im Speziellen durch Darstellung ihrer Be kehrungserlebnisse, sich selbst als neue Menschen (er)finden, also sich selbst als die rekonstruieren, die sie sein und werden wollen (306 f.309). Die pietistische Autobiographie überführe »die bloße Möglichkeit eines Lebens, das ich meiner fehlbaren Erinnerung nach geführt haben könnte, dadurch in Wirklichkeit, dass der Autobiograph sich für eben diese Version entscheidet, dass er sie als Version seines Lebens verfasst« (306). Und mit dieser Selbst(er)findung binde sich der gläubige Pietist selbst: Weil er genötigt sei, mit seiner Lebenspraxis seinem Lebensbericht zu entsprechen (310). S. spricht von einem »performativen Zwang«, dem sich der Autobiograph un terstelle (366).

Wenn S. behauptet, dass sich die religiöse Berufung der Pietisten »überhaupt erst in der Konstruktion der Lebensgeschichte als solche erweist«, ja sogar zugespitzt formuliert: »Das autobiographische Bekenntnis erzeugt die Berufung, zu der sich der Gläubige in seinem Lebenslauf bekennt«, so will er damit nicht die Differenz zwischen der »Evidenzerfahrung« des Pietisten und deren autobiographischer Verarbeitung durch »Semantisierung« und »Narrativierung« ganz einziehen. Denn die »Evidenzerfahrung« als ein »erstpersonaler Bewusstseinszustand« sei das Objekt der Semantisierung und Narrativierung. De facto bleibt aber unklar, weil von S. weder psychologisch-empirisch aufgewiesen noch bewusstseinstheoretisch näher bestimmt, was man sich unter einer erst noch zu semantisierenden »Evidenzerfahrung« genau vorstellen soll.

Gegen Ende des vierten Teils schließlich wird der Versuch unternommen, die analysierte religiöse Sinnbildung des Pietismus geis tesgeschichtlich einzuordnen. Der Pietismus habe, so S., die Bedingungen seiner alltagspraktischen Säkularisierung in sich getragen. U. a. am Beispiel Lavaters illustriert er, wie sich »ein Deutungsmuster«, das einmal dazu dienen sollte, Menschen zur praxis pietatis zu motivieren, zu einem Verfahren reiner, selbstgenügsamer Selbstbeobachtung verselbständigt.

Die Arbeit ist interessant und lesenswert auf Grund ihrer detailreichen Analysen der Quellen. Weniger überzeugend ist hingegen der methodische Zugriff. Man kann sich des Eindrucks nicht er wehren, dass S. seine Forschungshypothese bisweilen auch strikt gegen die Quellen (und ihren Bedeutungsgehalt) bestätigen will: nämlich dass der Pietismus die eigene Selbstsäkularisierung in sich trug. Die systematisch betriebene formalisierende Abstraktion von Glaubensinhalten bei der Auswertung der Quellen zu Gunsten einer Betonung ihrer »Ausdrucksgestalt« und die notorische Unterstellung von Selbstbestimmung (Selbstcharismatisierung z. B.) ge rade da, wo die Pietisten selbst an Fremdbestimmung dachten, sind weitere ebenso problematische wie provokative Aspekte dieser anregenden und die Pietismusforschung herausfordernden Monographie.