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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

337-339

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wolfes, Matthias:

Titel/Untertitel:

Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. Schleiermacher-Studien. Bd. 1: Teil I und Teil II.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. Teil I: XX, 541 S., Teil II: VIII, 640 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 85/I u. 85/II. Lw. EUR 178,00. ISBN 3-11-017579-7.

Rezensent:

Gangolf Hübinger

Diese über tausendseitige Studie ist ein Beitrag zum Thema »vom Nutzen und von den Erträgen großer Gesamtausgaben für die gebildete Öffentlichkeit«. Aus seiner editorischen Praxis und Erfahrung mit der Schleiermacher-Gesamtausgabe hat Matthias Wolfes die vielen Verästelungen der Textrecherche, der Philologie, der Kommentierung und der historischen Kontextualisierung auf einen monographischen Aspekt hin gebündelt. Bisher hatte Schleiermacher neben seinem Kirchenväterplatz in der modernen Glaubensgeschichte einen festen Ort in der philosophischen Hermeneutik. Jetzt werden auch die politische Kulturgeschichte und der aufblühende Zweig der historischen Kommunikationsforschung nicht mehr an ihm vorbeikommen, so erschöpfend hat W. die Quellen aufbereitet.

Reflexartig assoziieren wir zu »Öffentlichkeit« den Strukturwandel bürgerlicher Politikstile. Wie W. zeigt, mit Recht. »Öffentlichkeit« bezeichnet seit Mitte des 18. Jh.s den sozialen Raum, in dem in zensurfreiem gesellschaftlichem Verkehr um alle Belange des Gemeinwesens offen gestritten wird. Daran orientieren sich insbesondere in der Epoche Schleiermachers die Bildungseliten in der Erwartung, mit der wissenschaftlich angeleiteten öffentlichen Meinung stelle sich politische Vernunft ein und befördere die freiheitliche Selbstorganisation der Gesellschaft und die beste Verfassung des Staates. In ihrer vergesellschaftenden Kraft hat deshalb Öffentlichkeit als »zentrale Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten« (Jürgen Habermas). Das Interesse W.s gilt unter dieser Prämisse vorrangig der Politisierung Schleiermachers, der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, den Hallenser und Berliner Predigten, der Bildungsreform und dem publizistischen Nationalismus. Alles wächst organisch zusammen, das ist die hohe Schule des Idealismus. »An der Herstellung und Ausbildung dieser Öffentlichkeit mitzuwirken, sah er als die Hauptaufgabe seiner praktischen politischen Wirksamkeit an« (7), auf diese Option hin konzentriert W. seine Schrifteninterpretation und Kontextanalyse.

In den Mittelpunkt der Problemgeschichte setzt W. Schleiermachers »Sorge um die Zukunft der protestantischen Kultur«. Napo leons Herrschaft schien ein Wiedererstarken des Katholizismus im nachrevolutionären Frankreich zu befördern, deshalb nahmen Schleiermachers intellektuelle Interventionen »die Di mension eines europäischen Kulturkampfes« an (167). Schleiermacher führte diesen Kulturkampf vornehmlich mit den Waffen der Bildungspolitik. Das war konsequent, nachdem die Universität Halle schließen musste, Königsberg weit vom Schuss lag und Frankfurt an der Oder keine Reformimpulse mehr sendete. »Frankfurt war nur gut zu einer Missionsanstalt für die Polen Š, und warum sollte der Staat die Kräfte, welche dazu gehören, an einem übel gelegenen Ort und an der Umbildung einer durchaus untergeordneten und in vieler Hinsicht schlechten Anstalt Š verschwenden, da er mit fast gleicher Anstrengung Neues erbauen kann?« Dieser apodik tische Befund steht im »Anhang über eine neu zu errichtende Universität« zu seiner Denkschrift »Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn«, veröffentlicht im Februar 1808. Schlei ermacher bringt noch von Halle aus das preußische Universitätswesen in heftige Bewegung, und W. trägt die Gründe zu sammen. Schleiermacher tritt in den engsten Kreis der Reform-Nationalisten, die Berlin als politisches wie wissenschaftliches Zentrum für ihr Ideal des Kulturstaates protestantischer Provenienz benötigen.

Die insgesamt zehn Kapitel des Buches führen detailliert und materialreich die politischen Fronten vor Augen, an denen Schleiermacher öffentlich für sein Konzept liberaler Bürgerlichkeit eintritt. In der praktischen Politik sind das die Arbeiten für das Departement für Kultus und öffentlichen Unterricht, die riskante Herausgabe des »Preußischen Korrespondenten« und die im Entscheidungsjahr 1813 noch riskanteren politischen Predigten. In der theoretischen Politik sind das die Akademievorträge und Universitätsvorlesungen zur Staatstheorie insbesondere im dramatischen Jahrzehnt zwischen 1808 und 1818. W. entwirrt, was Schleiermacher die »Quadruplizität« des vernunftgeleiteten Wissens nennt und was auch für eine gegenwärtige Kulturtheorie noch bedenkenswert erscheint. Die organisierende Vernunft regelt auf der Ebene der Gemeinschaft die Verhältnisse von Arbeit und Herrschaft und institutionalisiert sich im »Staat«. Auf der Ebene des Individuums sichert sie Privat sphäre und Privateigentum und institutionalisiert sich in vielfachen Formen der »Geselligkeit«. Die symbolisierende Vernunft strukturiert auf der Ebene der Gemeinschaft das Wissen und die Wissenschaften und institutionalisiert sich in Akademien und Universitäten. Auf individueller Ebene drückt sie sich aus in Gefühl, Kunst und Religion mit der Institution der Kirche.

Schleiermacher zählt mit seiner »Staatslehre« und der »Politik«-Vorlesung zur letzten Generation, die in solcher Konsequenz das Politische in eine philosophische Ethik einbindet. Die Generationen nach ihm werden den Vorlesungstypus »Allgemeine Staatslehre und Politik« zuerst auf den Grund und das Maß der Geschichte zurückführen wie Friedrich Dahlmann, dann zwischen Rechts- und Soziallehre des Staates zerteilen wie Georg Jellinek und im Anschluss zur »Staatssoziologie« umwidmen wie Max Weber.

Es beeindruckt, wie W. durch alle Werkphasen hindurch Schlei ermachers Verknüpfung von politischer Theorie und Praxis verfolgt und ihn im Ergebnis als »Programmatiker einer liberalen Staatsbürgergesellschaft« auf den Begriff bringt. Nur an einer Stelle, mit der These von der »Demokratisierung und strukturellen Öffnung des Staatswesens«, dürfte er zu sehr die heutige Identifizierung von liberalem und demokratischem Ordnungsdenken unterstellt ha ben. Denn was heißt um 1800 »Demokratisierung«? Was Schleiermacher denkt und praktiziert, ist eine von oben nach unten reichende Eliten-Politik, allerdings mit kräftigen Strichen gegen die staatsautoritären Modelle seines Kontrahenten Fichte. Auch das wird bei Wolfes sehr deutlich. Nicht zuletzt zur gegenwärtigen Debatte um die Aufwertung der »Berliner Klassik« gegenüber dem Nationalmythos »Weimar« liegt mit dieser akribischen Schleiermacherstudie ein bedeutender Beitrag vor.