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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

331-333

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Die Korrespondenz des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch (1639­1710).

Verlag:

In drei Bänden hrsg. u. bearb. v. K.-D. Herbst unter Mitarbeit v. E. Knobloch u. M. Simon sowie m. e. Grafik v. E. C. Engelmann versehen. Jena: IKS Garamond 2006. Bd. I: Briefe 1665­1689. XCIII, 468 S. m. Abb. Bd. II: Briefe 1689­1709. 550 S. m. Abb. Bd. III: Übersetzungen, Kommentare, Verzeichnisse. 868 S. gr.8°. Geb. EUR 250,00. ISBN 3-934601-95-2.

Rezensent:

Detlef Döring

Vor dem Aufkommen der Zeitschriften bot in der Frühen Neuzeit der Briefwechsel die einzige Möglichkeit, innerhalb der Respublica Litteraria einen einigermaßen kontinuierlichen Informationsaustausch zu pflegen. Das bezeugen umfangreiche in großen und in kleinen Sammlungen (Bibliotheken, Archive, Museen u. a.) befindliche Konvolute mit Briefen der Gelehrten jener Zeit. Sie sind bis heute unzulänglich erfasst und noch ungenügender durch Editionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Das betrifft in einem besonderen Maße den mitteldeutschen Raum, der unbezweifelbar eines der europäischen Zentren der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit, insbesondere aber der Aufklärung bildete. Zu vielen der geistes- und wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Persönlichkeiten dieses Raumes liegen keine nennenswerte Publikationen ihrer zumeist umfangreichen Korrespondenzen vor, z. B. Christian Thomasius, Christian Wolff, Adam Rechenberg, Christian Weise, Ehrenfried Walther von Tschirnhaus usw. Es ist auch nicht abzusehen, dass in überblickbarer Zeit sich hier etwas ändern wird. In dieser Situation ist es umso erfreulicher, über das Erscheinen der Edition des Briefwechsels des Astronomen Gottfried Kirch berichten zu können. Kirch, ein gebürtiger Gubener aus einfachen Verhältnissen, war um 1700 der vielleicht führende Astronom Deutschlands, sehr bekannt auch als Kalendermacher, womit er sich über viele Jahre hin ernährt hatte. Noch lange nach seinem Tode wurden Kalender verkauft, die seinen Namen trugen. Der Höhepunkt seiner Laufbahn war jedoch die Ernennung zum Astronomen der 1700 gegründeten Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften in Berlin. Als solcher ist er dort gestorben. Die längste Zeit seines beruflichen Wirkens hat er aber in Leipzig verbracht, und die größte Zahl der von ihm verfassten Briefe ist aus dieser Stadt datiert. Der Herausgeber kann 895 Briefe von und an Kirch nachweisen, wobei allerdings nur 607 im Text überliefert sind. Das Material ist auf 14 Archive und Bibliotheken verteilt, in der Hauptsache in Basel, Leipzig und Paris.

Die Rezension der vorliegenden Edition innerhalb einer theologischen Fachzeitschrift ist nun weniger in den wissenschaftlichen Leistungen Kirchs begründet, sondern in der Tatsache, dass er während seiner Leipziger Zeit einer der aktivsten Vertreter des Pietismus war. Bekanntlich kommt den Ereignissen in Leipzig um 1690 eine gravierende Bedeutung in der Herausbildung dieses Phänomens der Kirchengeschichte zu.

Hans Leube, dessen Dissertation zur Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig immer noch maßgeblich ist (Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus. In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Hrsg. von Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975, 153­267. Die Dissertation Leubes wurde 1921 fertiggestellt, konnte aber erst nach mehr als 50 Jahren im Druck erscheinen), kennt Kirch zwar, aber nur unter der Verballhornung Kirsch, wobei zudem aus Gottfried Kirch und seinem Sohn Gottlieb eine Person gemacht wird. Mit der Biographie von »Kirsch« scheint Leube sich nicht beschäftigt zu haben. Andererseits haben die Astronomiehistoriker nie Interesse an Kirchs Anteil an den Frömmigkeitsbewegungen seiner Zeit entwickelt. Erst Hans-Stephan Brather (Leibniz und seine Akademie. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Berliner Sozietät der Wissenschaften 1697­1716. Hrsg. von Hans-Stephan Brather. Berlin 1993, zu Kirch vgl. 306­311) und der Rezensent (Detlef Döring: Der Briefwechsel zwischen Gottfried Kirch und Adam A. Kochanski 1680­1694. Berlin 1997, zu Kirch als Pietisten vgl. 20­26) haben in den 90er Jahren erkannt, dass der Astronom Kirch mit dem Pietisten »Kirsch« identisch ist. Dieses Beispiel belegt nur einmal mehr, wie es mit der viel be schworenen interdisziplinären Zusammenarbeit in der Praxis bestellt ist.

Kirch muss alsbald die Nähe August Hermann Franckes gesucht haben. Er ist Teilnehmer an den Collegia Biblica, zählt Francke zu seinen Tischgästen und vertreibt im großen Stil dessen Schriften sowie andere pietistische Texte bis nach Holland und in die Schweiz. Vor allem aus den Briefen Kirchs an seinen Sohn Gottlieb erfahren wir viele bisher unbekannte Nachrichten über die oft dramatischen Vorgänge in Leipzig. So predigt z. B. im August 1691 vor der Nikolaikirche ein Bauer heftig und unter viel Zulauf des Volkes gegen die lutherische Geistlichkeit. Die Vertreter der Obrigkeit schieben sich gegenseitig die Aufgabe zu, den Mann zu entfernen, und lasten dann, wie Kirch verärgert bemerkt, diesen Vorgang den Pietisten an, die den Bauern »närrisch« gemacht hätten. In seinen Briefen zeigt sich Kirch als Vertreter radikal-separatistischer Anschauungen, die in ihm in Leipzig einen Hauptvertreter gefunden haben dürften. Sein früherer Beichtvater, der Pfarrer Georg Lehmann, predige »grausame Lügen«, und Kirch resümiert: »Das gantze Werck gehet dahin, Christum zu unterdrücken, und die Dicken Wänste zu erheben. Herr, Herr, Du wirst Deine Ehre keinem andern geben! Man muß sich über die grausame Blindheit der armen blinden Leiter verwundern. Ey, ey wie laßen sie ihren Schalck blicken! Nun, der Herr bekehre sie, und laß uns aus seiner Gnade nimmer mehr fallen.« Dass Kirch massive Endzeiterwartungen hegte, belegen verschiedene Briefe, so z. B. ein Trostschreiben an einige gefangene pietistische Studenten: »Nun getrost liebe brüder, getrost! Der Herr ist nahe. Er wird Babel zerstören. Ihr Fall ist vor Augen.« Die Auffassungen Kirchs können in Leipzig nicht unbekannt bleiben, und so kommt es von verschiedenen Seiten her zu immer intensiveren Angriffen gegen den Astronomen, über die er ausführlich und plastisch in seinen Briefen berichtet. Letztendlich kann er sich den Nachsetzungen nur durch die Flucht in seine Heimatstadt Guben entziehen. Kirchs wichtigster Gesprächspartner in allen den Pietismus betreffenden Ereignissen ist sein ältester Sohn Gottlieb, der sich schon als Leipziger Student den Pietisten angeschlossen hatte, dann im Auftrag des Vaters Polen, Holland und England bereiste und schließlich seine Studien in Halle fortsetzte und dort bei Francke wohnte. Da sich auch eine Reihe von Briefen Gottliebs erhalten hat, bekommen wir auch von seiner Seite wichtige Mitteilungen und Stimmungsbilder. Unbekannt war meines Wissens bisher ein Kontakt zwischen den Leipziger Pietisten und ersten Vertretern dieser Bewegung in der Schweiz. Kirch korrespondiert mit dem Zürcher Kaufmann Heinrich Locher, der ebenfalls Naherwartungen hegt und von Leipzig aus mit pietistischen Schriften versorgt wird, sie weitergibt, insbesondere nach Bern. Weitere Darlegungen zu den Passagen aus der Korrespondenz Kirchs, die den Pietismus berühren, gestatten die Grenzen nicht, die einer Rezension gesetzt sind. Es soll hier nur die Aufmerksamkeit der entsprechenden Fachkreise geweckt werden.

Bemerkenswert ist die anscheinend klare Trennung zwischen Kirch als Astronom und Kirch als radikalem Pietist. In seinen Briefen kann er abrupt von streng fachlichen Problemen (z. B. Bau von astronomischen Instrumenten) zu heftigen religiösen Gefühlsausbrüchen wechseln und umgedreht. Die bei vielen Radikalpietisten zu beobachtende intensive Beschäftigung mit astronomischen Vorzeichen der Wiederkunft Christi spielt bei ihm allerdings keine Rolle, Kirch ist entschiedener Gegner der Astrologie. Kometen sind natürliche Phänomene, die keinen Einfluss auf das Geschehen auf der Erde ausüben.

Die Entstehung der Edition ist dem entschieden überdurchschnittlichen Engagement des Herausgebers zu danken, der seinen sicheren Beruf als Gymnasiallehrer aufgegeben hat, um als Drittmittelbeschäftigter diese Arbeit ohne institutionelle Anbindung in relativ knapper Zeit durchzuführen. Es ist ihm im Übrigen zu attestieren, dass seine Kommentare auch die theologischen und kirchengeschichtlichen Sachverhalte durchweg sachgerecht erläutern, was für einen Naturwissenschaftler nicht selbstverständlich ist. Die Edition ist auch sonst in fast allen Beziehungen mustergültig. Manche editionstechnischen Entscheidungen hätten sicher auch anders getroffen werden können, aber das sind in der Regel Ermessensfragen. Zu kritisieren ist jedoch die ungewöhnliche Entscheidung, in den insgesamt immerhin fünf Registern (insgesamt mehr als 100 Seiten!) nicht die Seitenzahlen anzugeben, sondern die Briefnummern. Da sich viele Schreiben über mehrere Seiten erstrecken, kann das Suchen zu einer lästigen Angelegenheit werden. Der Verlag war mit der anspruchsvollen Aufgabe, einen solch schwierigen Text zu edieren, teilweise überfordert. Ins Auge springen vor allem die zahlreichen so genannten »Schusterjungs« und »Hurenkinder«.

Als Fazit lässt sich ziehen, dass die Edition der Korrespondenz Gottfried Kirchs nicht allein für die Astronomiegeschichte von Be deutung ist, selbst wenn dort zweifellos der inhaltliche Schwerpunkt der Bände liegt. Auch die Beschäftigung mit dem Pietismus kann von Herbsts Arbeit profitieren. So erhält die immer wieder kontrovers diskutierte Frage, inwieweit der Pietismus wissenschaftsfeindlich war oder nicht, durch die jetzt mögliche Beschäftigung mit der Person Gottfried Kirchs neues Quellenmaterial. Ein interessantes Thema bildet in diesem Zusammenhang eine Untersuchung Kirchs als Kalendermacher: Welches Weltbild in Verbindung zu seinen religiösen Auffassungen vermittelt er in den fast unzähligen von ihm herausgegebenen Kalendern? Vor allem aber werden unsere Kenntnisse über die Frühzeit des Pietismus in Mitteldeutschland durch die vorliegende Edition nicht unbeträchtlich erweitert. Es bleibt zu hoffen, dass die Pietismusforschung diese Neuerscheinung entsprechend zur Kenntnis nehmen wird.