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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

267–270

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Christe, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Kirche und Welt. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung in der Theologie Friedrich Schleiermachers.

Verlag:

Frankfurt/M.: Knecht 1996. VII, 297 S. 8° = Frankfurter theologische Studien, 50. Kart. DM 68,­. ISBN 3-7820-0728-X

Rezensent:

Martin Rössler

Spätestens seit Johann Sebastian Dreys Theologischer Enzyklopädie ("Kurze Einleitung in das Studium der Theologie", Tübingen 1819) gibt es eine Schleiermacher-Rezeption in der katholischen Theologie. Diese Rezeption findet im 19. Jh. überwiegend in der Nachfolge Dreys innerhalb der Katholischen Tübinger Schule statt (J. A. Möhler, F. A. Staudenmaier, J. E. von Kuhn). Doch auch die neue, unbefangene Zuwendung zu Schleiermachers Werk seit den 60er Jahren dieses Jh.s hat inzwischen zu einer eigenen Tradition innerhalb der katholischen Theologie geführt, die u. a. durch die Arbeiten von R. Stalder, B. Malfèr, E. Schrofner oder M. Junker repräsentiert wird.

In diese Tradition einer "Auseinandersetzung mit Schleiermacher im Raum katholischer Theologie" (8) stellt sich auch die Freiburger theologische Dissertation von W. Christe. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie auffälligerweise nicht bei Schleiermacher selbst, sondern bei dem eher allgemein gehaltenen Thema "Kirche und Welt", das als eines "der Grundprobleme christlichen Glaubens" (1), ja als "das entscheidende Grundproblem der Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts" (5) eingeführt wird ("Zur Frage- und Problemstellung" [1-5]). Erst in einem zweiten Schritt (vgl. 6 f.) wird Schleiermacher als Gesprächspartner für diese Thematik bemüht. Unter diesen methodischen Vorzeichen handelt es sich dann insgesamt um eine ausführliche Interpretation von Schleiermachers Ekklesiologie der "Glaubenslehre" sowie seiner Ausführungen zur Kirche in der "Christlichen Sittenlehre". (Daß damit zugleich "in gewisser Weise auch eine Gesamtdarstellung der Theologie Schleiermachers" [8] intendiert wird, erweist sich bei der Lektüre als ein etwas hoch gegriffener Anspruch, zumal die Untersuchung sich völlig zu Recht im wesentlichen auf das Spätwerk Schleiermachers beschränkt.)

Die Arbeit ist übersichtlich gegliedert: Der erste Teil ("Der dreifache Weltbegriff", 10-120) ist dadurch motiviert, daß in Schleiermachers "Glaubenslehre" die "Beschaffenheit der Welt" (neben "Beschreibungen menschlicher Zustände" und "Begriffe von göttlichen Eigenschaften", vgl. 6. 11 f.) eine eigene Form dogmatischer Sätze darstellt und damit die "Welt" in allen drei Teilen der Dogmatik als wesentlicher Leitbegriff erscheint: im Zusammenhang von Schöpfung und Erhaltung, unter dem Einfluß der Sünde und in dem Bewußtsein der Gnade. So ergibt sich anhand des Weltbegriffs in drei Kapiteln ein kurzer Durchgang jeweils durch die Schöpfungs- und Erhaltungslehre ("Mensch und Welt als Schöpfung", 10-51), die Hamartiologie ("Mensch und Welt als Sünde", 52-82) sowie die Christologie und Pneumatologie ("Kirche ­ die erlöste Welt", 83-120). Der zweite Teil ("Kirche und Welt", 121-264) zeichnet dann den Gang der Schleiermacherschen Ekklesiologie nach und behandelt "Das Entstehen der Kirche aus der Welt" (Erwählungslehre, 121-132), "Das Bestehen der Kirche mit der Welt (I)" (133-190) und "Die Vollendung der Kirche als Aufhebung des Gegensatzes von Kirche und Welt" (Eschatologie, 246-264). Die drei sich daraus ergebenden Kapitel werden um ein viertes vermehrt, das unter der etwas blassen Überschrift "Das Bestehen der Kirche mit der Welt (II)" (191-245) das Verhältnis von Kirche und Kultur vornehmlich in der "Christlichen Sittenlehre" zum Gegenstand hat.

Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf den Kapiteln 2 und 3 dieses zweiten Teils. Das zweite Kapitel bietet eine im ganzen erhellende Interpretation der einschlägigen ekklesiologischen Paragraphen der "Glaubenslehre": Die Beziehung der Kirche zur "Welt" als ihrem geschichtlichen Kontext führt Schleiermacher zunächst zu der Unterscheidung von geschichtsinvarianten Zügen der Kirche und ihren geschichtlich wandelbaren Ausdrucksgestalten (133 ff.). Dabei besteht für Schleiermacher die sich im Geschichtsverlauf durchhaltende "Wesensgestalt der Kirche gegenüber der Welt" (141 ff.) in den sechs "wesentlichen und unveränderlichen Grundzügen" (Heilige Schrift und Dienst am göttlichen Wort, Taufe und Abendmahl, Schlüsselgewalt und Gebet im Namen Jesu), die als notae ecclesiae zugleich media salutis sind (vgl. 141); sie werden von C. in der Perspektive der wechselseitigen Beeinflussung von Kirche und Welt dargestellt.

Dabei kommt es gelegentlich zu kleineren Verzeichnungen, wenn etwa auch die von Schleiermacher kritisierte vermeintliche Gleichstellung beider Testamente im Kanon (144 f.), seine Begründung des Amtes (149) oder seine Deutung der unvollkommenen kirchlichen Taufpraxis (Trennung von Taufe und Wiedergeburt, 153 f.) ohne Anhalt an den Texten sämtlich auf den Einfluß der "Welt" zurückgeführt werden: Die grundlegende Lesehinsicht "Kirche und Welt" scheint hier die Ergebnisse der Detailexegese bereits vorab festzulegen.

Unter der Überschrift "Die ’welthafte’ Seite der Kirche" (174ff.) analysiert C. dann Schleiermachers Auffassung des "geschichtlich Wandelbaren" der Kirche und stellt dabei zu Recht dessen originelle Umprägung des traditionellen Begriffspaares "ecclesia visibilis ­ invisibilis" heraus: sichtbare und unsichtbare Kirche werden nicht mehr mengentheoretisch als bestimmte Personenkreise einander gegenübergestellt, sondern bilden eine "Differenz, die durch jeden Wiedergeborenen selbst hindurchgeht" (178): Die wahre, verborgene und die sichtbare, unvollkommene Kirche sind zwei Aspekte nicht nur der einen Kirche, sondern jedes einzelnen Christen: In jedem gibt es ein "Gemisch von Kirche und Welt" (ebd.).

Im dritten Kapitel (zu dem thematisch bereits der 4. Abschnitt des vorigen Kapitels zu zählen ist, der in seinem jetzigen Zusammenhang eher störend wirkt: in der Gliederungsübersicht S. 139 ist er offenbar noch gar nicht vorgesehen) wendet sich die Untersuchung der "Christlichen Sittenlehre" zu und widmet sich zunächst Schleiermachers vielfältiger Verwendung des Reich-Gottes-Begriffs, der zwar einerseits mit dem der Kirche gleichsinnig gebraucht werde (191 f.), aber andererseits in seinem ethischen Gehalt nicht auf das kirchliche Handeln beschränkt sei (193 f.), sondern "die ethische Interaktion der Christen in Kirche und Welt" artikuliere (194). Er kann damit zutreffend als "Bindeglied zwischen dem Begriff der Kirche und dem der Kultur" (196) bezeichnet werden. Auf diesem Hintergrund unternimmt C. eine "Systematische Verhältnisbestimmung" (197 ff.) von Kirche und Kultur bei Schleiermacher, die exemplarisch am Verhältnis von Kirche und Staat vorgeführt wird, und bewährt diese an sozialethischen Konkretionen aus der "Christlichen Sittenlehre" ("Ablehnung der Todesstrafe" [211f.], "Monogamie und Gleichstellung von Mann und Frau" [215 f.] u. a.). Unter dem Begriff der "Christlichen Welt" erfolgt dann eine zusammenfassende Interpretation von Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Kirche und Kultur (226ff.), die auf eine stufenweise Verschmelzung beider abzielt: "Auf eine christliche Gestalt der Welt zielt das Christentum, und darauf wartet ihrerseits die Welt, daraufhin ist sie geöffnet" (226).

Zwar lehnt C. in diesem Zusammenhang eine vorschnell katholisierende Deutung im Sinne einer Vereinnahmung der Kultur durch die Kirche als Verkirchlichung oder gar Klerikalisierung unmißverständlich ab (vgl. 227); insgesamt kommt aber die spezifisch katholische Pespektive an verschiedenen Stellen der Arbeit ausdrücklich zur Geltung: So dienen beispielsweise nicht selten katholische Autoren und römische Lehrentscheidungen teils konvergierend (z. B. "Lumen gentium", vgl. 265) teils kontrastierend (etwa J. Ratzinger, vgl. 276) als Interpretationsmittel oder -folie; gelegentlich werden auch spezifisch katholische Termini als Deutebegriffe herangezogen ("gratia creata": 232, "analogia entis": 241 f., die Kirche als "Realsymbol": 278).

Neben diesen expliziten, teilweise überraschenden Anknüpfungen und Gegenüberstellungen scheint sich die katholische Perspektive aber auch mehr indirekt Geltung zu verschaffen: Bei der Analyse des Schleiermacherschen Religionsbegriffs etwa unterscheidet C. den transzendentalphilosophischen "Aufweis" des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit von ihrem "lebensmäßige[n] Vollzug" (20) und nimmt für diese Realisierung der "apriorischen Anlage" die "freie Entscheidung des Menschen" in Anspruch (ebd.).

Generell sei in Schleiermachers Fassung des Gottesverhältnisses die menschliche Freiheit unterbestimmt (vgl. 46 f. 120. 131 f.), die sich ihrerseits einem freien Akt göttlicher Selbstbeschränkung verdanke (vgl. 270 f.). Dieses Insisitieren auf der Möglichkeit einer freien "Entscheidung des Menschen coram deo" (269) hat sich angesichts der bereits Tridentinischen Sorge vor einer Herabwürdigung der menschlichen Freiheit als "titulum sine re" (Enchiridion symbolorum, edd. Denzinger/Hünermann, 1555) vielleicht nicht zufällig als Tradition katholischer Schleiermacher-Kritik eingebürgert (C. selbst verweist 21. 69. 269 auf Th. Pröpper und M. Junker).

In diesem Zusammenhang steht wohl auch C.’s Kritik an Schleiermachers Sündenverständnis, der ein "naturalistische[r] Zug" (57, vgl. 61) attestiert wird: Die Sünde werde als Hemmung des Gottesbewußtseins tendenziell aus der geschöpflichen Verfaßtheit des Menschen entwickelt, nicht aus der "Situation endlicher Freiheit" (69) und werde so zu einer notwendigen Durchgangsstufe in der Entwicklung der Menschheit abgemildert (vgl. 55. 69). Dies verhindere jedoch eine angemessene "theologische[n] Wahrnehmung ... des Bösen, Zerstörerischen und Leidvollen" (272), die erst dann erfolgen könne, wenn die Sünde dezidiert als "Freiheitsgeschehen" (273) aufgefaßt werde. Dabei ist das Faktum der Sünde C. zufolge mit Kierkegaard als "qualitativer Sprung" (273) von ihrer schöpfungsmäßigen Ermöglichung zu trennen: Erst dann könnten die "Abgründe des Bösen und Negativen" (272) gebührend theologisch gewürdigt werden. Angesichts dieser nachdrücklichen Akzentuierung ist allerdings auffällig, daß Schleiermachers eigene hamartiologische Grenzziehung ("das Schlimmste vom Bösen zu sagen, was man sagen kann ohne manichäisch zu werden", vgl. 82) von C. zwar erwähnt, nicht aber argumentativ entkräftet, sondern offenbar unbekümmert übersprungen wird.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die gewählte Methode, eine fremde Interpretations- und Lesehinsicht an die Schleiermacherschen Texte heranzutragen, sich nicht bewährt: Die als bloße Gegenüberstellung von "Kirche und Welt" formulierte Fragestellung muß sich immer wieder von den Texten korrigieren lassen. Denn die Unterscheidung zweier "Kreise" innerhalb der "Christlichen Sittenlehre" (173 f.), die Umformung der traditionellen Fassung von sichtbarer und verborgener Kirche (175ff.) und nicht zuletzt die vielschichtige Verwendung des Reich-Gottes-Begriffs (191 ff.) belegen sämtlich, daß eine vorgefertigte äußerliche Unterscheidung von Kirche und Welt den Schleiermacherschen Texten nicht gerecht wird, weil "Kirche" und "Welt" bei Schleiermacher offenbar nicht von vornherein unterscheidbare Größen sind, sondern zwei auf komplexe Weise ineinander liegende Aspekte der durch das Christentum geprägten Kultur und Geschichte.

Die Themenfassung, die in der Einleitung u. a. im Rückgang auf E. Schlink, J. Ratzinger und das Zweite Vaticanum als sinnvoll und plausibel herausgestellt wird (vgl. 1-5), impliziert also eine Unterschiedenheit, die bei Schleiermacher so gerade nicht gegeben ist. Ein Ergebnis der Arbeit ist daher auch die beständige Korrektur ihres eigenen Ausgangsthemas: "Welt ist für Schleiermacher ... nicht eine von der Kirche säuberlich abzugrenzende Sphäre" (135 f.), das "spezifische Handeln des Christen ist Handeln in Kirche und Welt" (174). Die grundlegende Divergenz von Methode und Gegenstand verhindert dann aber, daß das zugrundeliegene Thema "Religion und Kultur" angemessen erfaßt wird: Denn sowohl der Versuch, den Analogie-Begriff als Interpretament einzuführen (240 ff.), als auch die abschließende Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Kultur als "Ethischer und christlicher Prozeß" (235 ff.) bleiben der durch die ursprüngliche Themenfassung angelegten bloßen Gegenüberstellung verhaftet: "Die Durchdringung bzw. ’Beseelung’ der Natur durch die Vernunft, wie sie im ethischen Prozeß geschieht, wird im christlichen Prozeß auf einer höheren Ebene wiederholt" (238). Daß dagegen die Religion für Schleiermacher selbst bereits einen Bestandteil der Kultur darstellt (vgl. 236), wird nicht angemessen zur Geltung gebracht, wie überhaupt Schleiermachers Philosophische Ethik insgesamt zu kurz kommt (vgl. 199 f. 235 f.).