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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

313-316

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Carson, D. A., O¹Brien, Peter T., and Mark A. Seifrid [Eds.]:

Titel/Untertitel:

Justification and Variegated Nomism. Vol. 2: The Paradoxes of Paul.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck; Grand Rapids: Baker Academic Press 2004. XIV, 545 S. m. 2 Tab. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 181. Kart. EUR 54,00. ISBN 3-16-148400-2 (Mohr Siebeck); 0-8010-2741-1 (Baker Academic Press).

Rezensent:

Dieter Sänger

Relativ bald nach Veröffentlichung des ersten Bandes, der sich im Wesentlichen mit Ed P. Sanders¹ Rekonstruktion der frühjüdischen Religionsstruktur befasste und ihre kategoriale Bestimmung als »Bundesnomismus« einer methoden- und quellenkritischen Prüfung unterzog ­ im Ergebnis mit zum Teil erheblichen Korrekturen an Sanders¹ Modell (vgl. ThLZ 128 [2003], 1273­1276) ­, ist der angekündigte zweite Band mit Aufsätzen speziell zu Paulus erschienen. Der im Vorwort resümierte Ertrag seines Vorgängers, »that the approach to ðnomismÐ in early Judaism is far more variegated than Sanders allows« (V), spiegelt aus Sicht der Herausgeber den Textbefund und wird vorausgesetzt. Konkret bedeutet das: Nicht ein auf dem Weg der Abstraktion gewonnenes und die vorhandenen Un terschiede nivellierendes Common Judaism bildet den Wahrnehmungs- und Verstehenshorizont der frühjüdischen Gesetzesaussagen, sondern ihre durch Pluralität und Divergenz gekennzeich neten Anschauungen über das Gesetz stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen die exegetische Diskussion über das kontrovers beurteilte Pauli theologiae proprium zu erfolgen hat, gerade auch mit der von Sanders inspirierten »New Perspective on Paul«. Unter dieser Prämisse wird danach gefragt, welche Konsequenzen die Einsicht in das sich wechselseitig verschränkende Beziehungsgeflecht von Bund und Tora, Gebotserfüllung und Heilserwartung im Frühjudentum für ein historisch und hermeneutisch sachgemäßes Verständnis der paulinischen Theologie, insbesondere der Rechtfer tigungslehre hat. Im Kern geht es darum, ob die von der »New Perspective« als für den Apostel fundamental erachteten Problemaspekte wirklich im Zentrum seines Denkens stehen. Thematisch sind beide Bände aufeinander abgestimmt. Ihre konzeptionelle Einheit spiegelt sich nicht zuletzt in der Wahl der Autoren. Allen ist gemeinsam, dass sie der »New Perspective« gegenüber massive Vorbehalte anmelden, ohne freilich die hinter dem Kollektivsingular sich verbergenden positionellen Differenzen zu ignorieren. Einige waren schon im ersten Band vertreten und ziehen nun die Linien des dort entfalteten Ansatzes im Blick auf Paulus weiter aus. Andere bieten eine konzentrierte Zusammenfassung oder einen Ausschnitt dessen, was sie bereits früher in monographischer Form publiziert haben. Im Fall M. Hengels handelt es sich um die englische Übersetzung eines acht Jahre zuvor erschienenen Aufsatzes (vgl. J. D. G. Dunn [Hrsg.], Paul and the Mosaic Law [WUNT 89], Tübingen 1996, 25­51). Von der eingangs in Aussicht gestellten »fresh exegesis of most of the relevant texts« (VI) kann also nur bedingt die Rede sein. M. E. wäre es sinnvoller und für den beabsichtigten Diskurs mit der »New Perspective« förderlicher gewesen, stärker noch, als es geschieht, auf die Repliken einzugehen, mit denen ihre Vertreter zwischenzeitlich auf die gegen sie vorgebrachten Einwände reagiert haben.

Der Sammelband enthält die folgenden Beiträge: S. Westerholm, The »New Perspective« at Twenty-Five (1­38); M. A. Seifrid, Paul¹ Use of Righteousness Language Against Its Hellenistic Background (39­74); M. Hengel, The Stance of the Apostle Paul Toward the Law in the Unknown Years Between Damascus and Antioch (75­103); M. A. Seifrid, Unrighteous by Faith: Apostolic Proclamation in Romans 1:18­3:20 (105–­145); S. J. Gathercole, Justified by Faith, Justified by his Blood: The Evidence of Romans 3:21­4:25 (147–­184); D. J. Moo, Israel and the Law in in Romans 5­11: Interaction with the New Perspective (185–­216); M. Silva, Faith Versus Works of Law in Galatians (217–­248); P. T. O¹Brien, Was Paul a Covenantal Nomist? (249–­296); R. W. Yarbrough, Paul and Salvation History (297–­342); T. Laato, Paul¹s Anthropological Considerations: Two Problems (343­359); P. T. O¹Brien, Was Paul Converted? (361­391); D. A. Carson, Mystery and Fulfillment: Toward a More Comprehensive Paradigm of Paul¹s Understand ing of the Old and New (393–­436); T. George, Modernizing Luther, Domes ticating Paul: Another Perspective (437–­463); H. Blocher, Justification of the Un godly (Sola Fide): Theological Reflections (465–­500). Es schließen sich an Namen-, Autoren-, Stellen- und Sachregister (501–­545).

Da eine detaillierte inhaltliche Würdigung sich aus Raumgründen verbietet und es zudem unnötig ist, schon Bekanntes erneut in Erinnerung zu rufen, beschränke ich mich auf einige mir wichtig erscheinende Hinweise.

Obwohl die den Band eröffnende forschungsgeschichtliche Skizze sich als ein Kondensat der viel umfangreicheren Darstellung des Verfassers zu erkennen gibt (S. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul, 2004) und notwendigerweise selektiv verfährt, empfiehlt sie sich als Einstieg. Beginnend mit Sanders¹ einflussreicher Studie »Paul and Palestinian Judaism« zeichnet Westerholm den bisherigen Verlauf der von ihr angestoßenen Debatte nach. Das informative Referat, in dem neben den Verfechtern und Kritikern der »lutherischen« Paulusinterpretation auch Exegeten zu Wort kommen, die jenseits der Alternative »alt« und »neu« eine vermittelnde Position einnehmen, fokussiert die wichtigsten Kontroverspunkte (z. B. die soteriologische Bedeutung der Tora; das Verständnis des Ausdrucks »Werke des Gesetzes«; Kontext, Funktion und Stellenwert der Rechtfertigungslehre). Durch den weitgehenden Verzicht auf wertende Kommentare lässt Westerholm die referierten Autoren für sich selbst sprechen, ohne jedoch seine eigene Präferenz für die »Old Perspective« zu verhehlen (37 f.).

Der Überblick macht deutlich, in welch hohem Maße Sanders¹ These, das durch die Taufe gewirkte Einswerden mit Christus (partizipatorische Christologie) und nicht die juridisch gefasste Rechtfertigungslehre sei das Herzstück der paulinischen Theologie, den Gang der jüngeren Paulusforschung bestimmt hat. Deshalb verwundert es nicht, dass die meisten Beiträge an sie anknüpfen und ihre Tragfähigkeit auf den Prüfstand stellen ­ entweder unter thematischen Gesichtspunkten (Anthropologie, Heilsgeschichte, die Schrift als Gesetz und Evangelium, der Pharisäer und der Apostel Paulus) oder anhand ausgewählter Textkomplexe aus dem Römer- und Galaterbrief. Der ebenfalls einschlägige Philipperbrief (Kapitel 3) wird leider nicht eigens behandelt.

M. A. Seifrid beleuchtet zunächst (39­74) den hellenistischen Hintergrund der paulinischen Rechtfertigungsterminologie, um anschließend (105­145) die in Röm 1,18­3,20 aus der Schrift begründete These von der Sündenverfallenheit aller Menschen an das in 1,16 f. leitmotivisch vorangestellte Briefthema zurückzubinden. Es zeigt sich, dass der Sprachgebrauch des Apostels mit dem der LXX konvergiert. Hier wie dort bezeichnen die Derivate vom Stamm dikaio- (Verb, Nomen, Adjektiv) analog zu der in der hebräischen Bibel begegnenden Konzeption von Rechtfertigung »an event of vindication« (51). Der damit semantisch zum Zug gebrachte forensische Aspekt bleibt ausgeblendet, wenn der ­ zweifellos soteriologisch konnotierte ­ Begriff »Gerechtigkeit« unspezifisch verwandt und auf »the idea of salvation« (52) reduziert wird. Nur weil Sanders außer Acht lässt, dass Paulus die »Glaubensgerechtigkeit« in das theo-logisch fundierte Koordinatengefüge von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi integriert und dadurch eschatologisch qualifiziert, kann er behaupten, sie diene primär als »negative definition over against the ðworks of the lawЫ (64, vgl. 143­145).

Die beiden Studien von S. J. Gathercole (147­184 [zu Röm 3,20­4,25]) und D. J. Moo (185­216 [zu Röm 5­11]) laufen argumentativ weithin parallel und ergänzen einander. Der Erstgenannte hält in Auseinandersetzung mit seinem Lehrer J. D. G. Dunn daran fest, dass für Paulus die Rechtfertigung ihren Real- und Wirkgrund in dem als »act of divine condemnation of sin« (179) verstandenen stellvertretenden Sühnetod Jesu hat (Röm 3,25 f.). Er durchbricht den Zusammenhang von Sünde und Gericht, der die conditio humana kennzeichnet (1,18 ff.). Die Opposition »Glaube« (d. h. Glaube an den von Gott Auferweckten) und »Werke des Gesetzes« impliziert zum einen, dass »justification is not principally related to Gentiles« (184), und zum anderen, dass das Syntagma ö ( ÔÜ) ÞµÔ den Toragehorsam im umfassenden Sinn meint und nicht einzelne Halachot, die als »boundary« bzw. »identity markers« fungieren (154 f.). In die gleiche Richtung zielen Moo und M. Silva, der speziell auf den Galaterbrief rekurriert (217­248). Auch für Moo verfehlt die »New Perspective« das eigentliche theologische Anliegen des Apostels. Die besonders in Röm 5­8 zutage tretende, den Nexus von Sünde und Tod aufdeckende Tiefendimension seiner Gesetzeskritik ist verkannt, wird sie vornehmlich in einen religionssoziologischen bzw. missionspragmatischen Referenzrahmen eingespannt. Aus der in Gal 2,15­21 thetisch formulierten und dann in 3,1­4,7 diskursiv entfalteten Rechtfertigungslehre, die Paulus anhand der jeweils Epochen markierenden (ante Christum ­ post Christum) Antonyme ÞµÔ und ¼ ¹ ÔÜ Ã ÔÜ (Gen. obj.) zur Sprache bringt, folgert Silva: »From an eschatological point of view ... law and faith are indeed mutually exclusive categories« (244) und stützt damit die »lutherische« Interpretationslinie. Unter den thematisch orientierten Beiträgen stimmt der zweite von P. T. O¹Brien (361­391) ver fass te im Ergebnis mit Hengel (75­103) überein, wonach die paulinische Verhältnisbestimmung von Gesetz, Glaube und Rechtfertigung sich nicht erst dem galatischen Konflikt verdankt, sondern in der Lebenswende des vormaligen Pharisäers vor Damaskus und der dort empfangenen Christusoffenbarung gründet (390, vgl. 102 f.). Auf die im Untertitel genannten »Paradoxes of Paul« geht ausdrück lich nur D. A. Carson ein (393­436). Sie reflektieren die dialektische Struktur der christozentrischen Schrifthermeneutik eines Mannes, der »esteems the law-covenant highly, yet no longer sees himself under it« (435); der in den Verheißungen der Schrift das Evangelium vorausverkündet sieht, und doch darauf insistiert, dass sie ihre Erfüllung erst in Christus finden; der für seine jüdische Herkunft dankbar ist, aber die heiligen Schriften Israels in heilsgeschichtlicher Perspektive liest, und zwar von der als »model of the resurrection existence his own people will one day enjoy« gedeuteten Auferstehung Jesu her (435 f.). Die den Band abschließenden Untersuchungen von T. George (437­463) und H. Blocher (465­500) legen aus Sicht des Lutherforschers bzw. Systematikers dar, dass der Reformator und die von ihm geprägte Auslegungstradition mit ihrer Betonung der Rechtfertigungslehre als dem theologischen Proprium des Völkerapostels näher bei Paulus stehen als ihre modernen Kri tiker.

Nach Auskunft der Herausgeber verfolgen die Aufsätze ein doppeltes Ziel. Im Blick auf die »New Perspective« sollen sie deutlich machen, dass »some of its central stances are not defensible« und dass ihre Vertreter bisweilen »elevate to a place of central importance themes which in Paul¹s Hauptbriefe (!) are better judged to occupy ... the background«. Mit anderen Worten, es ist der verloren gegangene »foreground that ... must be recovered« (VI). Dahinter steckt wohl die auch von anderen geteilte ­ und m. E nicht ganz aus der Luft gegriffene ­ Befürchtung, der intendierte Perspektivenwechsel leiste einer Ent-theologisierung der Paulusexegese Vorschub. Inwieweit dieser Eindruck berechtigt ist oder nicht, sei dahingestellt. In jedem Fall präsentieren die Autoren ein Kontrastprogramm, das den traditionellen Interpretationsansatz wieder ins Recht zu setzen und gegen ­ nicht zuletzt von ihm selbst genährte ­ Missverständnisse abzu sichern versucht. Im Streit der Exegeten um die besseren Argumente ist damit eine weitere Runde eingeläutet. Ob die hier vorgetragenen ihre Adressaten überzeugen werden, bleibt abzuwarten. Aber gezeigt zu haben, dass der Dialog zwischen der »lutherischen« oder der »neuen« Paulusperspektive um der Sache willen nötig ist und trotz aller Differenzen ohne verletzende Polemik geführt werden kann, ist nicht das geringste Verdienst dieses Bandes. Auch dafür ist den Herausgebern und Autoren zu danken.