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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

289-291

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Boustan, RaŒanan S.:

Titel/Untertitel:

From Martyr to Mystic. Rabbinic Martyrology and the Making of Merkavah Mysticism.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XXII, 376 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 112. Lw. EUR 99,00. ISBN 3-16-148753-2.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Die Geschichte von den zehn Märtyrern (GZM), ein Stück nachtalmudischer Haggada, in mehreren, teils stark variierenden Rezensionen überliefert und mustergültig ediert von G. Reeg, erzählt, wie der römische Kaiser bei der Toralektüre feststellt, dass der Verkauf des Stammvaters Joseph durch seine zehn Brüder noch immer nicht geahndet ist, und daher beschließt, zur stellvertretenden Sühne zehn jüdische Älteste hinrichten zu lassen. Rabbi Jischmael, einer der zehn, vor den anderen aber durch priesterliches Geblüt und wunderhafte Ähnlichkeit mit dem Engelfürsten Metatron ausgezeichnet, steigt zum Himmel auf, um zu erforschen, ob dieser Be schluss dem Willen Gottes entspricht, und als er erfährt, dass dies tatsächlich der Fall ist, nehmen er und die anderen, betrübt und freudig zugleich, ihr Urteil auf sich. Anschließend berichtet die Erzählung von den einzelnen Hinrichtungen, wobei sie sich, wo immer es sich anbietet, an martyrologische Stoffe aus der älteren rabbinischen Überlieferung anlehnt (besonders bei R. Aqiva, R. Chanina ben Teradion, Rabban Schimon ben Gamliel und R. Jischmael selbst).

In Hekhalot Rabbati (HR), der nach P. Schäfer ältesten Makroform der Hekhalot-Literatur (die meistbezeugte Fassung erstreckt sich über §§ 81­306 in Schäfers Synopse), findet sich, als Ich-Bericht R. Jischmaels gestaltet, eine zunächst sehr ähnliche, dann aber in ein pointiert gegenteiliges Ende umschlagende Erzählung (§§ 107­121): Als das Reich vier (sic) berühmte Rabbinen festnehmen will, lässt sich R. Jischmael von R. Nechunja ben ha-Qana zum göttlichen Thronwagen »hinabführen«, wo er erfährt, dass mit Samael, der im Himmel die Interessen Roms vertritt, ausgehandelt wurde, dass für jenen Menschenraub zehn Große aus Israel sterben müssen, Rom aber im Gegenzug durch entsetzliche Plagen zu Grunde gerichtet wird. Jene zehn allerdings sterben anschließend gar nicht den Märtyrertod; vielmehr fallen Strafengel über den kaiserlichen Hofstaat her, und als der Kaiser R. Chanina ben Teradion hinzurichten befiehlt, verwechselt man ihn mit dem Rabbi, und der Rabbi (neben Chanina nennen die Handschriften nun auch Nechunja ben ha-Qana) herrscht sechs Monate lang als Kaiser, während der Kaiser sechs Monate lang hingerichtet wird.

Die Princetoner Dissertation von R. Boustan (geb. Abusch) un tersucht den überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen diesen beiden Erzählungen, arbeitet Motivverbindungen zur rabbinischen Literatur, den übrigen Hekhalot-Schriften und der vorrabbinischen und nachtalmudischen Apokalyptik heraus und fragt nach den historischen Umständen, denen diese Texte ihre Entstehung verdanken.

Die Hauptthese lautet, dass die »inverted martyrology« in HR (231) gegenüber der »anthology« der GZM, einschließlich ihrer Rahmenhandlung (30, Anm. 49), überlieferungsgeschichtlich jünger ist und von ihr abhängt. Die gegenteilige Auffassung hat in neuerer Zeit besonders J. Dan vertreten; ihm zufolge schließt das querstehende Motiv einer Verhaftung von nur vier Rabbinen in HR § 107 die Annahme einer Abhängigkeit von GZM aus; es müsse sich hier um das Relikt einer anderen, älteren Märtyrertradition handeln (vgl. 203 f.). B. hält dem eine elementare literarkritische Beobachtung entgegen: Der Anfang von HR § 107, »Jener Tag war der fünfte der Woche«, hat im vorausgehenden Text keinen Bezug; dieselbe Wendung findet sich jedoch auch an verschiedenen Stellen in GZM, wo sie im Kontext jeweils passt (VI.10.3; VII­VIII.10.30); das lässt vermuten, dass HR sie aus GZM entlehnt hat (205­207). Ein noch gewichtigeres, weil den Gesamtduktus der Erzählung betreffendes Argument liegt in der Inkonsistenz zwischen dem Tötungsbeschluss zu Beginn und der Rettung am Ende der Märtyrer-Episode in HR; sie lässt sich nach B. nur damit erklären, dass HR die Grundmotive der GZM aufnimmt und zugleich tiefgreifend umformt.

Die Abhängigkeit des Hekhalot-Textes von GZM vorausgesetzt, lassen sich weitere Modifikationen plausibel machen: Während R. Jischmael in GZM zum Himmel »aufsteigt« oder ein Sturmwind ihn »hinaufträgt« (13.2), wird er in HR zum Thronwagen »hinabgeführt«, womit sich HR der Terminologie der Merkava-Mystik anpasst (208 f.). Dass er nach GZM als »Hoherpriester wie Metatron« (so sinngemäß 15.3) im Himmel freudig willkommen geheißen wird, übergeht HR; für Hekhalot-Texte ist vielmehr charakteristisch, dass die Engel den Mystiker als Eindringling anfeinden (117 f.209). Während ihn nach GZM seine priesterliche Abstammung zur Himmelsreise befähigt, ist in HR hiervon keine Rede; vielmehr geht aus anderen Stellen (§§ 200.239) hervor, dass die Voraussetzungen zur mystischen Schau in rabbinischem Studium und der Enthaltung von Sünden bestehen und damit egalitär von jedem Weisen erreicht werden können (264–­281). Das Stück vom himmlischen Handel mit Samael schließlich, das in GZM nur in zwei Rezensionen erscheint (I.19, III.16), dürfte dennoch eher hier als in HR seinen ursprünglichen Ort haben, denn es schildert den Untergang Roms als zukünftig-endzeitliches Geschehen, während ihn HR §§ 112­121 als bereits vollzogen berichtet (211–­217).

Wie die Episode in HR aus der Neuformung von bekanntem Traditionsstoff erwuchs, so auch GZM selbst. Schon die Mekhilta erzählt von der Hinrichtung von R. Jischmael und R. Schimon (die Identität des Letzteren ist unklar, 74); thematisch leitend ist dabei die Frage der Schuld der Märtyrer vor Gott und damit das Problem der Theodizee. In Avot de-R. Nathan werden aus den beiden Rabbinen der Patriarch Rabban Schimon ben Gamliel und der von einem Hohenpriester abstammende R. Jischmael ben Elischa, die vor ihrer Enthauptung einen Rangstreit führen und damit, so B., konkurrierende Führungsansprüche im zeitgenössischen palästinischen Judentum verkörpern (78­80). In Semahot 8 wird diese Erzählung mit weiteren alten Märtyrertraditionen verbunden (R. Aqiva, R. Jehuda ben Bava, R. Chanina ben Teradion sowie Pappus und Lulianus), wobei die Theodizeefrage nach wie vor im Mittelpunkt steht. In GZM wird aus diesen und weiteren Stoffen erstmals eine selb ständige Märtyrererzählung geformt (Midrasch Schir ha-Schirim bietet eine rudimentäre Fassung, eingebettet in eine Auslegung von Hld 1,3); statt des Theodizeeproblems tritt nun der Gedanke der stellvertretenden Sühne in den Vordergrund, die die Märtyrer durch ihren Opfertod für Israel erbringen (55 f. und passim). Die exegetische Verknüpfung dieses Gedankens mit der Josephsgeschichte ist vorbereitet durch die schon in Jub 34 belegte Assoziation von Josephs Verkauf mit dem Versöhnungstag und die talmudische Vorstellung von der Sühnewirkung der Kultgewänder des Hohenpriesters (85­92). Neuartig ist die Schlüsselrolle R. Jischmaels als eines mit übernatürlicher Kraft und Schönheit ausgestatteten Of fenbarungsmittlers; dass sich in seiner Person Priestertum und Selbstopfer verbinden, hat seine nächste Analogie in christlicher Tradition, besonders im Hebräerbrief (100.133­135).

Solche und weitere literatur- und zeitgeschichtliche Bezüge liefern B. auch entscheidende Anhaltspunkte zur Datierung: Die Verwendung von Stoffen aus Talmud Yerushalmi und frühen Midraschim, die Rivalität zwischen Patriarchat und Priestertum und die »polemical and apologetical« (133) Adaptation von christlichen Motiven deuten auf eine Abfassung der GZM zwischen 450 und 650 in Palästina hin (31 u. passim). HR hingegen entstand, worauf die antipriesterliche Haltung dieses Textes und gaonäische Hinweise auf eine aufkommende mystische Literatur schließen lassen, vermutlich im 8. oder 9. Jh. im Irak (286­288).

Wenn sich in irgendeiner Hinsicht an B.s Ergebnissen Kritik üben lässt, so daran, dass die Erwägungen zum zeitgeschichtlichen Hin tergrund, besonders zum Antagonismus von Priestertum und Patriarchat und zu konkurrierenden Traditionen des spätantiken Chris tentums, meist auf deutlich schwächeren Füßen stehen als die durchgehend mit minutiöser Gründlichkeit geführten überlieferungskritischen Untersuchungen. Dass man auch bei Letzteren hier und da zu anderen Urteilen gelangen könnte ­ etwa bei der Einordnung der Samael-Perikope oder der Gewichtung von Bavli-Parallelen für die Datierung der GZM ­, mindert dagegen die Qualität des Bu ches in keiner Weise. B. beherrscht seinen Stoff; von dem Reichtum seiner Detailbeobachtungen vermag eine Rezension keinen auch nur entfernten Eindruck zu vermitteln, und seine wiederholten, überaus belesenen forschungsgeschichtlichen Einblendungen geben eine vor zügliche Einführung in den aktuellen Stand der Diskussion. Alles in allem leistet sein Werk einen wegweisenden Beitrag zur Er for schung des Judentums zwischen Spätantike und frühem Mittelalter.