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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

264–266

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Runia, David T.

Titel/Untertitel:

Philo & the Church Fathers. A Collection of Papers.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. 275 S. gr.8° = Supplements to Vigiliae Christianae, 32. Lw. hfl. 100.­. ISBN 90-04-10355-4.

Rezensent:

Helmut Burkhardt

Das umfangreiche Werk des jüdischen Schriftauslegers und Philosophen Philo ­ eines der bestüberlieferten Autoren der Antike ­ ist bekanntlich ausschließlich durch die christliche Kirche auf uns gekommen. Zeitweise wurde er (z. B. von Hieronymus) gar als Kirchenvater vereinnahmt. Ganz anders heute (zumindest in Deutschland ­ Spätfolge der gewalttätigen Zerschlagung jüdischer Wissenschaft durch das Dritte Reich): heutige Theologie befaßt sich kaum mit Philo. Der durchschnittliche Theologiestudent kommt, wenn mich nicht alles täuscht, in der Regel anstandslos durchs Studium, ohne von Philo je ernsthaft Kenntnis genommen zu haben. Geographisch hat sich das Schwergewicht der Philoforschung von Deutschland (zu Anfang unseres Jahrhunderts) längst auf die USA und, wie das vorliegende Buch eindrücklich bezeugt, die Niederlande verlagert.

Bereits 1993 erschien von D. Runia, Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie der Antike und des Mittelalters an der Universität Leiden und Extraordinarius für Antike Philosophie an der Universität Utrecht, eine große Untersuchung über die Nachwirkung Philos in der Alten Kirche (Philo in Early Christian Literature. A Survey, Compendia Rerum Iudaicorum ad Novum Testamentum, Section III, Jewish Traditions in Early Christian Literature, Vol. 3, Van Gorcum, Assen/Fortress Press, Minneapolis, 418 S.). Sie darf zweifellos als Standardwerk und grundlegend für alle Weiterarbeit zum Thema gelten.

Das vorliegende Buch versteht sich als Ergänzung zum erstgenannten. Während jenes bewußt nur einen Überblick gibt, der sich wesentlich auf eine kritische Darstellung der Ergebnisse der Sekundärliteratur konzentriert, nimmt der Vf. hier sozusagen eigene "Tiefenbohrungen" vor. Die einzelnen Beiträge sind durchweg schon andernorts erschienen (vor allem in dem vom Autor hrsg. Studia Philonica Annual) und werden hier dankenswerterweise in einem gut aufgemachten Sammelband neu zugänglich gemacht, mit ergänzenden Einführungen und Anmerkungen (250-261) sowie Stellen- und Autorenregistern versehen.

Einige Beiträge sind sehr speziellen Fragen der Philo-Forschung gewidmet, haben aber durchweg zugleich exemplarisch einführenden Charakter: zur Textgeschichte der Schrift "Über die Tugenden" (77-101), zur Frage der Beinamen, die Philo im Laufe der Zeit gegeben wurden (25-53, wobei interessant z. B. die Beobachtung ist, daß der Name Philo Hebraios mehr den gemeinsamen jüdisch-christlichen Ursprung betont, Philo Judaios dagegen eher abgrenzend die Zugehörigkeit Philos zum Judentum als anderer Religion, während die neutralere lokale Beschreibung "von Alexandrien" sich eigentlich erst in der modernen wissenschaftlichen Forschung eingebürgert hat). In diesen Zusammenhang gehören auch die letzten drei Beiträge: Zu J. R. Royses kritischer Sammlung unechter Philo-Fragmente (219-227, eine Erinnerung zugleich an das dringende Desiderat einer kritischen Ausgabe aller Philo-Fragmente, etwa in einem Ergänzungsband zur Textausgabe von Cohn-Wendland), eine auf den neuesten Stand gebrachte Liste aller Bezugnahmen auf Philo in der Literatur von Josephus bis zur 1. Jahrtausendwende (228-239) und schließlich als Ergänzung zu Leisegangs Philo-Index ein Index aller bei Cohn-Wendland angeführten Bezüge zu Philo bei Josephus und in der altkirchlichen Literatur (240-249).

Ein eigenes Kapitel ist dem Verhältnis des Kirchenvaters Origenes zu Philo gewidmet, als Vorstudie zum entsprechenden Kapitel des o. e. Überblicks entstanden, weil zu Origenes, anders als bei anderen Kirchenvätern, kaum andere Vorarbeiten vorhanden waren (wobei der Vf. in einer Anmerkung verweist auf die inzwischen erschienene Untersuchung von Chr. Blönnigen, Der griechische Ursprung der jüdisch-hellenistischen Allegorese und ihre Rezeption in der alexandrinischen Patristik, Frankfurt 1992).

Zwei Beiträge zielen mehr auf die Frage der allgemeinen philosophiegeschichtlichen Einordnung Philos: Der eine untersucht die Bedeutung der Bezeichnung Philos als Pythagoräer bei Clemens von Alexandrien (54-76: die Bezeichnung meint nicht eine Schulzugehörigkeit zu den Pythagoräern, sondern nur eine Affinität philonischen Denkens zu einem pythagoräisch gestimmten Platonismus). Der andere Beitrag geht direkt der Frage der philosophiegeschichtlichen Bedeutung Philos nach: Ist er, weil unselbständiger Eklektiker, nur Spiegel des Denkens seiner Zeit, oder hat er selbst aktiv zur Entstehung des Neuplatonismus beigetragen? Die These H. A. Wolfsons, Philo sei der eigentliche Begründer einer Philosophie, die bis zu Spinoza hin in Europa maßgebend war, einer von der Annahme der Unerkennbarkeit Gottes ausgehenden Offenbarungsphilosophie, weist der Vf. als historisch nicht haltbar zurück. Ihre Grundvoraussetzung, daß die Annahme von der Nichterkennbarkeit Gottes auf Philo zurückgehe, wird widerlegt durch die Tatsache, daß sie sich schon z. B. bei Cicero findet (185). Der Vf. gesteht der Hypothese Wolfsons aber einen Wahrheitskern zu: Indem Philo, vor allem in seiner Exegese, in einer bis dahin beispiellosen Intensität griechisch-philosophische Überlieferung mit biblischer verband, stand er faktisch am Ausgangspunkt der durch diese Verbindung gekennzeichneten christlichen Philosophie des Mittelalters (189). Allerdings macht der Vf. auf dem Hintergrund einer kurzen Analyse der Überlieferungsgeschichte des philonischen Schrifttums (190-195, vgl. bes. das instruktive Diagramm 192) zumindest indirekten, durch Numenius vermittelten Einfluß auch auf Plotin wahrscheinlich, aufgezeigt vor allem an dem Prädikat Gottes als des "Stehenden" (195-202).

Der Einfluß Philos auf die altkirchlichen Väter zeigt sich speziell auch an von Philo geprägter und von ihnen übernommener Begrifflichkeit. Philo scheint eine gewisse Vorliebe für zusammengesetzte Begriffe gehabt zu haben, von denen eine ganze Reihe erstmals bei ihm nachzuweisen ist (vgl. die Liste 104 f.). Indem Runia der Übernahme eines dieser Worte nachgeht (agalmatoforein), ergibt sich u. a., daß die herkömmlich dem Apologeten Athenagoras zugeschriebene Schrift "De resurrectione" vermutlich doch unecht ist, weil sie dies Wort aufnimmt, aber der in der 2. Hälfte des 2. Jh.s in Athen wirkende angebliche Autor Philo kaum gekannt haben kann (115).

So wichtig und auch für Nichtspezialisten durchaus interessant die bisher angesprochenen Beiträge sind, für den Theologen, besonders den Dogmengeschichtler und nicht zuletzt auch den Dogmatiker, sind vor allem die Beiträge von großer Bedeutung, in denen der Vf. zentrale theologische Fragen berührt.

Dies geschieht schon im ersten Beitrag, der Utrechter Antrittsvorlesung von 1992 "Platonism, Philonism and the Beginnings of Christian thought" (1-24). Der Vf. setzt ein mit der Beobachtung, daß Augustin in seiner Auslegung von Ex 3,14 f. unterscheidet zwischen einer Aussage über das Sein Gottes an sich (ego sum qui sum) und einer Aussage über sein Sein in Relation zum Menschen (dominus deus Patrum vestrorum), zwischen einem nomen incommunicabilitatis und einem nomen misericordiae (3). Diese seitdem in christlicher Theologie verbreitete Unterscheidung findet sich vor Augustin nur bei Philo (Gottes Sein kathalax und pros ti, Abr 51; vgl. Mos I 75 f. und mut 11-14). Aber auch wenn der historische Weg dieser Unterscheidung von Philo zu Augustin nicht leicht nachzuzeichnen ist, so wird zumindest indirekter Einfluß Philos auf Augustin (über dessen Lehrer Ambrosius) kaum von der Hand zu weisen sein (5 f.). In einer zentralen theologischen Frage, der des Gottesverständnisses, wird hier also die philonische Verbindung von griechisch-platonischer Philosophie und biblischer Überlieferung für die frühchristliche Theologie wirksam. Diese versucht dabei, biblische Motive (God’s faithfullness; God’s exaltedness) im Gewand griechischer Metaphysik (God’s essence is not accessible; God’s essence transcends all forms of creaturely knowledge) zur Sprache zu bringen (17 f.).

Die gleiche Thematik greift der Aufsatz "God of the Philosophers, God of the Patriarchs" auf (206-218). Hier konfrontiert der Vf. diesen aus Pascals "Memorial" bekannten Gegensatz mit vergleichbaren Aussagen bei Philo. Dabei ist nach dem Vf. im Blick auf Philo nicht ­ wie bei Pascal ­ von einer Antithese zu sprechen ("Gott Abrahams ..., nicht der Philosophen"), sondern von einer komplementären Differenzierung in der Rede von Gott (214). Pascal dürfte Philo und seine Schriften nicht gekannt haben. Eine mögliche historische Brücke aber wäre augustinischer Einfluß bei Pascal (217). Allerdings ist des Vf.s Begriff der Ergänzung ("complementary") im Blick auf Philo wohl doch nicht ganz ausreichend, um den Unterschied zu Pascals Antithese zu kennzeichnen. Denn auch die Aussage über den Gott Abrahams ist bei Philo letztlich im Sinne griechischer Religionsphilosophie verstanden (die Erzväter als Symbole der Tugenden, die zur Vollkommenheit führen, vgl. 214).

Besonders hellhörig aber muß der christliche Theologe werden, wenn der Vf. in drei weiteren Aufsätzen (Kap.7-9) darauf zu sprechen kommt, daß auch die spezifisch christliche Gestalt der Gotteslehre, die Trinitätslehre, bereits in Philo einen Gewährsmann hat.

Zwar meinen gelegentlich auch (von der nizänischen Orthodoxie aus gesehen) arianische Häretiker, sich auf Philo berufen zu können ("A Note on Philo and Christian Heresy", 144-154). Aber der ägyptische Mönchstheologe Isidor von Pelusium führt gerade gegen die theologischen Irrtümer dieser Häretiker Philo als Zeugen für die Gottheit des Logos und damit die nizänische Theologie an ("Where, tell me, ist the Jew ...?" 127-143, hier bes. 137 ff.; vgl. den Aufsatz "Philo of Alexandria in Five Letters of Isidore of Pelusium", 155-181, bes. 180). Dabei ist auffallend, daß Isidor weit davon entfernt ist, Philo in ungeschichtlich-naiver Weise einfach zum Christen zu machen. Er betont vielmehr ausdrücklich Philos Judentum, behauptet aber, daß Philo in seinem intensiven Schriftstudium in Konflikt mit seiner eigenen Religion gekommen sei (138) und so zu Aussagen gedrängt wurde, die nach dem Maßstab christlicher Orthodoxie zwar noch theologisch etwas unpräzise bleiben, aber doch in gewisser Weise das Geheimnis der Trinität schon vorwegnehmen (141 f.).

Der Vf. hat mit seinen auch formal glänzend geschriebenen Studien der Theologie einige Knochen hingeworfen, an denen gründlich zu nagen sie hoffentlich nicht verschmähen wird. Wie darüber hinaus auch zu hoffen wäre, daß sie bei uns dem Studium Philos überhaupt neuen Auftrieb und größere Beachtung verschaffen. Vielleicht wäre dafür förderlich, wenn es ein Verlag wagte, einmal neben der klassischen 7bändigen deutschen Ausgabe der Werke Philos durch Cohn und Heinemann noch einen Auswahlband mit den wichtigsten und leichter zugänglichen Schriften Philos herauszubringen, der dann weitere Verbreitung, nicht zuletzt auch unter Theologiestudenten, finden könnte.