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Ausgabe:

Februar/2007

Spalte:

215-218

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schibilsky, Michael, u. Renate Zitt [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Theologie und Diakonie.

Verlag:

Hrsg. in Zusammenarbeit m. K. D. Hildemann u. R. Schmidt-Rost. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2004. 634 S. 8° = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 25. Kart. EUR 49,95. ISBN 3-579-05353-1.

Rezensent:

Ralf Hoburg

Die Publikation hat sich ein ambitioniertes Ziel gesteckt. Angesichts der verschiedenartigen Herausforderungen und Umbrüche, mit denen Diakonie und Theologie als Institution einerseits und als universitäre Fachdisziplin andererseits konfrontiert sind, geht es den Herausgebern darum, mit den Beiträgen des Bandes einen Brückenschlag zu wagen. Die Felder von Diakonie und Theologie sollen ­ als Geschwister gekennzeichnet ­ sich auf dem Boden eines gedanklichen Austausches neu begegnen. Diese erneute Begegnung ist notwendig, denn ­ so lautet die Diagnose bereits im zweiten Satz der Einleitung ­ beide haben »die gleiche Herkunft ­ und leben doch ihr je eigenes Leben« (9). Was sie eint und was die Zeit für einen Dialog gekommen sein lässt, sind die gravierenden gesellschaftlichen Herausforderungen, mit denen es beide zu tun haben. Handelt es sich also bei dem Bemühen um einen Dialog um die Gründung einer familiären Notgemeinschaft? Wohl kaum, denn in diesem Band wird der Dialog zwischen Diakonie und Theologie auf der konzeptionellen Ebene und vor dem Hintergrund eines wissenschaftlichen Diskurses geführt. Die Form des Dialogs zwischen zwei Autorinnen bzw. Autoren wird daher auch weitgehend eingehalten. Nur im Abschnitt Bildung, Lernprozesse, Didaktik wechselt das Konzept zu einer Koautorenschaft.

Es wäre bei den durchweg qualitativ sehr hochwertigen Beiträgen wünschenswert und für den dialogischen Charakter förderlich gewesen, wenn sich die Autorinnen und Autoren stärker aufeinander bezogen und damit den Diskussionscharakter unterstützt hätten. Nur hin und wieder gelingt das Dialogische so wie in dem Beitrag von Armin Nassehi, der sich produktiv auf die Argumentation seines Dialogpartners Rainer Anselm einlässt, oder Stephan Reimers, der sich an Gedanken von Hans-Jürgen Benedict reibt. So gut auch die inhaltlichen Aspekte des von Cornelia Coenen-Marx verfassten Nachwortes sind, hätte sich der Leser an dieser Stelle in Form einer Bilanzierung aller Beiträge des Bandes eine stärkere Fokussierung auf die offen gebliebenen Fragen, die strittigen Aspekte und weiteren Forschungsperspektiven gewünscht. Am Ende bleibt der Eindruck eines Panoramablicks und einer Multiperspektivität des Themenfeldes von Diakonie und Theologie, in deren Fülle klare Konturen für Forschungsperspektiven in der Zukunft untergehen. Ähnliches gilt mit Abstrichen auch für die sehr ausführliche Einleitung, die explizit auf jeden Beitrag eingeht und damit ungewollt manche Pointe oder Erkenntnis, die sich beim Lesen einstellt, bereits vorwegnimmt. Unter dem Gesichtspunkt einer stärkeren theologischen Profilierung des Diakoniebegriffs wäre es aus Fachsicht ebenfalls hilfreich gewesen, eine Bilanzierung des in die Sack gasse gekommenen Gesprächs über den Diakonat und seine theologische Begründung zu haben. So fehlt dieser gesamte thematische Bereich, was vor dem Hintergrund einer aktuellen Debatte über die Exklusivität des Pfarramtes und der Begründung des Amtes durch den Verkündigungsbegriff, die das Verhältnis von Diakonat und Amt völlig außen vor lässt, misslich ist.

Es kann sicherlich nicht die interpretative Leistung einer Rezension sein, die Forschungsdesiderate und Forschungsfragen der Zukunft auf dem Feld von Diakonie und Theologie zu umreißen, aber die Gesamtlektüre des überaus facetten- und inhaltsreichen Buches lässt zumindest Vermutungen darüber zu, wohin die Reise der Diakoniewissenschaft aus der Sicht der Autorinnen und Autoren in der Zukunft gehen könnte. Drei Problemkreise zeichnen sich dabei für mich ab. Sie entsprechen in etwa dem, was Götzelmann/ Hermann summarisch mit den drei Konzepten »phänomenologisch-deskriptiv, theologisch-normativ und handlungs-wissenschaftlich« bestimmen (484).

a) Profilierung diakonischer Theologie und Erarbeitung einer Theo rie des Helfens. Dabei scheint die Fachwissenschaft in produktiver Weiterführung der älteren Überlegungen von Johannes Degen Abschied vom »Dienstpathos« zu nehmen und in Aufnahme der Gedanken von John Collins heute Diakonie als ein Vermittlungshandeln zu betonen. Die Mitte einer Theologie der Diakonie entsteht um die zwei Pole von Versöhnung und Menschenwürde ­ dies setzt sich seit den Publikationen von Schibilsky und Welker zur Diakonie als Konsens durch. Damit weitet sich die Diakonie über eine einseitig am Modell der Nachfolge orientierende christologische Argumentation. Dem Begriff der Versöhnung kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu, wenn man ihn ­ wie es Theodor Strohm tut ­ als Auftrag zur »Gestaltung der Welt« (157) begreift. Die Diakonie der Versöhnung hat die Welt aus der konkreten Perspektive einer »Mitleidenschaft« im Blick. Helfen ­ und das ist ein spannender Aspekt ­ kommt für die Diakoniewissenschaft in der Perspektive der Beiträge des Bandes aber zunehmend als interreligiöses Phänomen bzw. als kulturell vermittelte »Sozialform des Christentums« (453) in den Blick.

b) Diakonie als Mittlerin zwischen Sozialstaat und Kirche. Als »intermediäre Institution« (Gohde) und von der Versöhnung als Auftrag herkommend versucht die Diakonie einen Brückenschlag. Die funktionale Zuordnung von Kirche und Diakonie wird dabei von vielen Autorinnen und Autoren explizit thematisiert. Frank-Thomas Brinkmann fragt etwa in seinem Beitrag, ob die Diakonie als zeitgemäßere Form und bessere Institution die Kirche überflüssig macht? (453) Andererseits bestimmt Klaus Hartmann das Verhältnis von Kirche und Diakonie als eine völlig eigenständige Gestalt von Kirche (361). Dem kritischen Leser drängt sich bei der Pluralität der Antwortversuche durchaus die Frage auf, die es in der Forschung in kritischer Re-Lektüre historischer Texte und der konstruktiven Integration neuerer sozialempirischer Ergebnisse in die Theorie der Diakonie zu klären gilt, ob die mit der Grundordnung der EKD zur Norm gewordene Bestimmung der Diakonie als »Le bens- und Wesensäußerung der Kirche« heute noch zeitgemäß ist. Etliche Beiträge verweisen darauf, dass die veränderte Komplexität eines erodierten Sozialstaates, dem es primär um profitable Sozialunternehmen geht, eine Revision dieses klassischen Zuordnungsverhältnisses notwendig macht.

c) Diakonie als Lernfeld des Glaubens. Vor dem Hintergrund der Diakonie als Handlungswissenschaft hat sich seit mehreren Jahren das, vor allem durch die wissenschaftlichen Arbeiten der Mitherausgeberin Renate Zitt vorangebrachte Thema des sozialen bzw. diakonischen Lernens als eigenes wissenschaftliches Gebiet etabliert. Besonders auffallend ist hierbei die Bemühung, die von den Autoren Christoph Schneider-Harpprecht und Friedrich Schweitzer erarbeitet wird, dass vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Herausforderung von Integration soziale und interkulturelle Kompetenz zu Schlüsselbegriffen kirchlicher Bildungsarbeit wird. Allerdings wird nicht ganz konkret deutlich, wo das Profil diakonischen Lernens im Gegenüber zum interkulturellen Lernen ist. Profiliert wird lediglich: Anders als das übliche schulische Lernen umfasst so ziales Lernen »bewusste Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung der kulturellen Verhaltensmuster«. Lernen vollzieht sich also primär an der Wahrnehmung und Erfahrbarkeit des Anderen in seinen kulturellen Kontexten (510).

Hilfreich ist sicherlich auf Grund der weit gesteckten Aufgabenstellung eines Dialogs zwischen Diakonie und Theologie die Strukturierung des Bandes. In einem ersten Feld (Ouvertüren) reflektieren die Autorinnen und Autoren ausgehend von biblisch-theologischen Überlegungen die institutionelle Bedeutung der Diakonie. Überzeugend waren hier vor allem die Überlegungen Jürgen Gohdes, der mit dem Rückgriff auf den Ansatz von John Collins den intermediären Aspekt der Diakonie hervorhebt. Gohde verortet die Diakonie sozialstaatlich im europäischen Kontext, wobei er immer wieder den anwaltschaftlichen Charakter der Diakonie in der Le benswelt der Menschen hervorhebt. Als politische Diakonie sollte sie die »Rolle des Change-Agents« übernehmen (62). Mit dieser Positionierung ist der Diakonie die Aufgabe für die Zukunft aufgetragen, ihre theologische Legitimierung als »Zwischenhändler« zu finden. Wie dies konkretisiert werden kann, ist die Aufgabe wissenschaftlicher Arbeit der Zukunft.

Die von Gohde abgesteckten Linien greifen Benedict und Strohm auf. Während Benedict im exegetischen Rekurs auf jüdische Traditionen die christliche Vereinnahmung der Diakonie aufbricht und Diakonie in den weiten Raum der Religionen stellt, gelingt es Theo dor Strohm den Begriff der Versöhnung zum diakonischen Leit motiv zu machen. Das politische und gesellschaftliche Mandat der Diakonie liegt in der Bemühung um Integration. So gesehen entschlüsseln sich die Themenkomplexe von Menschenrechten (Hübner/Tanner) und Menschenwürde (Gebhardt/Roser) von der diakonischen Positionierung gegenüber den Exklusionsproblemen der modernen Gesellschaft (Karle/Degen). Den Zwischenraum von biblischer Orientierung der Diakonie, ihrer theologischen Begründung und der institutionellen Differenzierung seit ihrer Entstehung im 19. Jh. füllt nach der Ouvertüre ein zweiter thematischer Block, der wenn man so will das diakonische Materialprinzip enthält. Im Vordergrund stehen Ethik und Menschenwürde, denen es anwaltlich um die Menschen geht, die nach Isolde Karle und Johannes Degen »draußen vor der Tür« (Borchert) einer Gesellschaft stehen.

Abschließend sei die kritische Bemerkung erlaubt, dass die Erwägungen zu einer Unternehmensphilosophie bzw. Corporate Identity eher weniger überzeugend sind. Vielleicht ist es so, dass dieser Aspekt bereits über Gebühr in der Vergangenheit behandelt wurde und sich fachwissenschaftlich in die Sackgasse manövriert hat. Der Versuch von der Seite eines christlich profilierten Unternehmensbegriffes Diakonie zu beschreiben, ist m. E. für die Zukunft wenig ertragreich. Es ist sicherlich das Verdienst Alfred Jägers, intensiv auf die »theologische Achse« (360) von Diakonie-Unternehmen hingewiesen zu haben. Aber weder ist der konkrete »Ort« der Theologie (z. B. im Leitungshandeln und ethischer Unternehmensausrichtung) innerhalb des Unternehmens bislang von der Wissenschaft eindeutig erfasst noch die theologische Profilierung eines »Diakonieunternehmens« wissenschaftlich schlüssig geleistet. Meine Vermutung ist, dass die Diakonie zur Profilierung des theologischen Ansatzes jenseits der Unternehmensphilosophie eigene Wege suchen muss.

Der Band bleibt als letzte Publikation des verstorbenen Herausgebers Michael Schibilsky, Professor für Praktische Theologie, in doppelter Weise ein Vermächtnis. Zum einen bildet er eine unverzichtbare Zwischenbilanzierung diakonischer Arbeit. Zum anderen erinnert der Band an die zentralen Anliegen Schibilskys zur Begründung einer sich einmischenden, den Menschen zugewandten Diakonie. Trotz der Kritikpunkte des Rezensenten, die eher Details betreffen, liegt mit der opulenten Sammelschrift, die für die weitere Arbeit der Diakoniewissenschaft unverzichtbar ist, so etwas wie eine postume Festschrift und Würdigung der theologischen Arbeit von Michael Schibilsky vor.