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Ausgabe:

Februar/2007

Spalte:

205-207

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Moos, Thorsten:

Titel/Untertitel:

Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Münster: LIT 2005. 300 S. 8° = Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus, 5. Kart. EUR 29,80. ISBN 3-8258-8529-1.

Rezensent:

Friedemann Voigt

Die Wahrnehmung der Beziehung von Protestantismus und Politik im 19. Jh. ist »traumatisch belastet« (Thomas Nipperdey). Dem Protestantismus wird wegen seines autoritären und nationalistischen Charakters sowie des Versagens vor der sozialen Frage eine unheilvolle Schlüsselrolle für die deutsche Geschichte des 20. Jh.s zugesprochen. Die Untersuchung von Thorsten Moos bearbeitet in diesem relativ intensiv erforschten Feld einen bislang vernachlässigten Bereich, indem sie die Bestimmungen von Staatszweck und Staatsaufgaben in protestantischen Ethiken des 19. Jh.s untersucht.

In der ausführlichen Einleitung (11­44) hebt M. den spezifischen Charakter der Ethiken hervor, die er »zwischen den elaborierten Dogmatiken, den Texten der prominenten Sozialprotestanten und den milieuspezifischen religiösen Symbolisierungen« angesiedelt sieht (30). Doch gilt weniger dieser spannenden Frage nach dem Status ethischer Theoriebildung die Aufmerksamkeit, als der materialen Behandlung der Staatszwecke. Hierzu bringt M. seine Fragestellung in Beziehung mit aktuellen theologischen und kirchlichen Einlassungen über den Staat als Garanten des »Gemeinwohls«.

Wie schon in der Einleitung weist auch das zweite Kapitel über »Die Staatszweckdebatte in Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft« (46­64) das gründliche Bemühen um die Berücksichtigung des Forschungsstandes auf. Der rechts- und sozialgeschichtlichen Literatur folgend, zeichnet M. nach, wie vor allem romantische und positive Staatszwecklehren die liberale Zielsetzung individueller Freiheitsrechte in umfassendere Konzepte herrschaftlicher Legitimation und nationaler Einheit zu integrieren suchten. Im Laufe des Jh.s verdrängt zusehends eine positive Auffassung solche normativen Konzepte. Unter dem Eindruck der Krisendiagnostik des Fin de Siècle suchen diese Entwürfe dann mit Mitteln der Empirie einen die individuellen Interessen übergreifenden Staatswillen zu erheben.

Im dritten Kapitel wendet sich M. ausführlich den »Staatszweck bestimmungen in den christlichen Ethiken« zu (67­234). Der Übergang des absolutistischen Herrschafts- zum liberalen Freiheits diskurs spiegelt sich in den Ethiken Döderleins, Morus¹ und Reinhards (67­77). Religiös gegründete Sittlichkeit und staatliche Be wahrung und Gewährleistung der Sittlichkeit werden in einem wechselwirksamen Verhältnis verstanden. Unter dem Einfluss von Romantik und Idealismus entwickeln sich sodann Theorien des sittlichen Staates. So sieht Schwarz über die staatliche Förderung der Sittlichkeit schließlich einen »christlichen Staat« entstehen (78­84). In diesem Rahmen kommt es auch zu einer Aufwertung der staatlichen Armenfürsorge. Zwar teilen Schleiermacher und De Wette die Auffassung, der Staat beruhe auf sittlicher Vergemeinschaftung. Für sie aber kann wahre Gemeinschaft gerade nicht durch den Staat und seine Zwangsmittel erreicht werden, sondern hier liegt vielmehr das primäre Aufgabengebiet der Kirche (84­102). Hier liegt also eine funktional ausdifferenzierte Kulturtheorie vor, in der das Bewusstsein individueller religiös-sittlicher Freiheit dazu führt, gerade die Reduzierung der Staatszwecke als ethisch höherwertig anzusehen. Entsprechend zurückhaltend fällt bei De Wette die Einschätzung staatlicher Armenpflege aus. Sich nun Rothe zu wendend (103­110) rückt M. dessen Zeitdiagnose in den Vordergrund. Die Aufgaben von Kirche und Staat sah Rothe vor allem in frommer bzw. sittlicher Erziehung. Werden ihnen zu viele Aufgaben abverlangt, drohe Bürokratismus, weshalb Rothe die Armenfürsorge in Vereinen besser aufgehoben sah, denen damit eine wichtige Übergangsfunktion bei der sittlichen Vervollkommnung des Staates zukommt.

Gegenüber diesen idealistischen und liberalen Theorien stellte vor allem die lutherische Ethik Gegenentwürfe zur Verfügung. Gegenüber dem Gemeinschafts- und Organismusdenken dort, steht bei Harleß ein berufsständisches Ordnungsmodell (111­120). M. sieht hierin nicht nur eine konservative Konzeption, sondern eine leistungsfähige Orientierung unter »gegenwärtigen Realisierungsbedingungen sozialer Integration« (119). Doch gab es im Luthertum durchaus unterschiedliche Integrationskonzepte, wie an Sartorius und Vilmar gezeigt wird (120­127). Bei Vilmar sollte der Staat durch eine ihm gegenüberstehende starke Kirche entlastet werden, welche »nicht nur das Gesetz affirmiert, sondern die sozialen und ðkulturellenÐ Aufgaben als Instrumente christlicher ðGeistes-, Willens- und HerzensbildungÐ selbst übernimmt« (124). Bei Sartorius hingegen wird der Staat, der die gottgewollte berufständische Ordnung erhält, als christlicher Staat zum Organismus versöhnter Verschiedenheit. Auf diesen Spuren folgte Wuttkes Gedanken, der ideale sittliche Organismus sei theokratisch und darin die historische Verwirklichung des Reiches Gottes (127­136). Daran knüpft Martensens christlicher Sozialismus an, bei dem die Aufgabe des Staates vor allem darin besteht, den Einzelnen in den sittlichen Zweckzusammenhang des sozialen Organismus einzugliedern (137­150). In einer krisenhaft empfundenen Gegenwart ist Martensen bereit, dem Staat diesbezüglich starke Autorität zuzugestehen, zugleich aber auch, etwa bezüglich der Armutsbekämpfung, hohe Erwartungen an ihn zu richten. Im Erlanger Luthertum Hofmanns und Franks finden sich dagegen deutliche Affinitäten zum liberalen Denken in der Betonung des sittlichen Momentes des Staates (151­162).

Neben diesen beiden großen und wirkmächtigen Lagern des Liberalismus und des Luthertums benennt M. nun noch weitere Positionen. So den frommen Rückzug der Tübinger Bibeltheologen Beck und Kübel (163­171), die »vermittlungstheologischen« Überlegungen von Dorner, Pfleiderer und Köstlin (172­195). Einflussreich waren die Gedanken zum liberalen Kulturstaat in der Schule Ritschls bei Herrmann und Haering (196­214). Besonders Herrmanns Theorie der Kulturzwecke, denen der Einzelne zu Gunsten der staatlichen Einheit unterstellt ist und in denen er zugleich zur sittlichen Persönlichkeit heranwächst, ist ein wichtiges Dokument protestantisch-bürgerlichen Selbstbewusstseins um 1900. Mit den Entwürfen Lemmes und R. Seebergs schließt die Untersuchung (215­234).

Die Stärke der Arbeit liegt in der textgenauen Präsentation der materialen ethischen Ausführungen. Nach diesen materialreichen Darlegungen ein Resümee zu ziehen, fällt auch M. merklich schwer. Die »Auswertung« (235­269) bringt vor allem negative Ergebnisse, was aber zunächst als Kritik an der Vorstellung eines homogenen protestantischen Staatsverständnisses durchaus produktiv ist. Auch innerhalb der großen theologischen Lager gibt es starke Un terschiede, dafür überraschende Übereinstimmung in den materialen Ausführungen sonst gegensätzlicher Positionen. Ein Grund dürfte sein, dass sich die protestantischen Ethiker nicht auf dogmatische Auffassungen fixiert zeigen. So stellt M. fest: »Es gibt keine eigene christliche Staatslehre. Alle staatstheoretischen Ausführungen der Ethiker sind theologische Amalgame bestehender philosophischer Staatstheorien« (257).