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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

417–419

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Althöfer, Ulrich

Titel/Untertitel:

Der Architekt Karl Siebold (1854-1937). Zur Geschichte des evangelischen Kirchenbaus in Westfalen.

Verlag:

Bielefeld: Luther 1998. 833 S. m. 111 Abb. gr.8 = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 15. Kart. DM 88,-. ISBN 3-7858-0394-X.

Rezensent:

Gerlinde Strohmaier-Wiederanders

Der Kirchenbau des Historismus erfährt mehr und mehr wissenschaftliche Bearbeitung, der Kirchenbau um die Jahrhundertwende bisher dagegen noch weniger. Wie wichtig die Auseinandersetzung mit diesem aber ist, belegt die hier anzuzeigende Arbeit, beschäftigt sie sich doch zugleich mit einer Epoche, die zu einer Umbruchsphase in der Geschichte der Kirche gehört. Wohl deshalb auch erscheint diese Dissertation, die 1995 an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelm-Universität Münster angenommen wurde, in der Reihe der Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte.

Der Vf. widmet sich dem Werk eines Architekten, der heute weithin unbekannt ist trotz eines sehr umfangreichen und über die Grenzen Westfalens weit hinausreichenden (bis nach Ostpreußen) Oeuvres. Daß Karl Siebold so wenig nachgehendes Interesse bisher fand, liegt sicher daran, daß er sich einer Kirchbau-Auffassung verpflichtet fühlte, die stilistisch und auch inhaltlich in Spannung stand zu der aufkommenden und dann etablierenden künstlerischen Moderne. Wer sich mit dem Kirchenbau etwa der zwanziger Jahre befaßt, diskutiert die Konzepte von Otto Bartning oder Paul Girkon. Der Architekt Siebold galt aber, obwohl keineswegs auf Kirchenbauten beschränkt, um 1900 als "der meistbeschäftigte Architekt der evangelischen Kirche in Westfalen" (25).

Zweierlei ist für sein Werk kennzeichnend: 1) Siebolds Kirchenbauten stehen im engen Zusammenhang mit Industrialisierung, Bergabbau und dadurch bedingtes Bevölkerungswachstum im Ruhrgebiet und dem südlichen Westfalen. 2) Sein Schaffen wird begleitet durch den engen Kontakt, den er mit Bodelschwingh und den Anstalten in Bethel hatte. Er wurde auch 1937 auf dem Betheler Friedhof beigesetzt. Wie weit diese beiden Faktoren Einfluß auf die Art der ausgeführten Bauten hatte, wird in der vorliegenden Arbeit freilich nur angedeutet, geht es doch in erster Linie um eine Bestandsaufnahme und Vorstellung des reichlich vorhandenen Materials.

Den größten Teil des 833 Seiten starken Bandes nimmt darum auch der Katalog-Teil ein, der einmal ergänzt wird durch ein Biographiekapitel, eine kunstwissenschaftliche Einordnung, und dann den Versuch einer Bewertung und einen Abbildungsteil. Zur Person des Architekten Siebold und seiner Kirchenbauten gehört, daß er in einem Gebiet (Ostfalen) seine früheste Prägung erhielt, das bis weit in das 20. Jh. hinein von der Erweckungsbewegung kirchlich bestimmt war. Auch familiär bleibt Siebold seinen Kreisen verbunden. Seine Ausbildung erhielt er dagegen in Berlin bei Friedrich Adler, dem bedeutenden Vertreter eines eklektizistischen Historismus aus der Stüler-Schule. Nach einem Griechenland-Aufenthalt kehrte Siebold 1886 nach Westfalen zurück und blieb von nun an mit Bethel und seinem Bauamt verbunden. Ausführlich geht der Vf. auf die Entstehung und Struktur dieser Institution und auf Siebolds Arbeit daran ein. Ausgewertete und auszugsweise zitierte Briefe zeigen die Spannung an, in der von Anfang an Bodelschwingh und seine theologischen Vorstellungen mit den architektonisch-pragmatischen Siebolds standen und stehen mußte. Dies noch etwas mehr auszuloten, wäre notwendig und wünschenswert gewesen. Verdienstvoll ist es, daß gerade im Zusammenhang mit dem Betheler Bauamt alle übrigen wichtigen Mitarbeiter vorgestellt und gewürdigt werden. Architektur ist immer nur als Gemeinschaftsarbeit zu leisten. So wichtig der leitende "Impulsgeber" ist, so läßt sich das alles nur in einer Gruppe mit anderen kompetenten Mitarbeitern verwirklichen. Die moderne Frage der Autonomie der Kunst stellt sich bei der "Baukunst" nur in einer ganz speziellen Weise.

Das dritte, bei weitem umfangreichste Kapitel stellt den Katalogteil dar. Die Orte sind alphabetisch geordnet, die Gliederung der einzelnen Artikel folgt einem überzeugenden Prinzip (Gemeindegeschichte, Erläuterungen, Planungsgeschichte, Baubeschreibung, Ausstattung, Erläuterung, Quellenmaterial). Das hilft dem Benutzer, schnell Informationen zu den jeweils interessierenden Fragen zu bekommen und auch Vergleiche anstellen zu können. Zwar läßt sich für die Rezension naturgegeben nicht alles im einzelnen nachprüfen, doch kann man trotzdem m. E. behaupten, daß sorgfältig recherchiert und kein wichtiges Detail ausgelassen wurde. Der Katalog vermittelt eine Fülle von Fakten, die weiterreichende Erkenntnisse für die Kirchen-, Sozial- und Kunstgeschichte ermöglichen und unser Bild von den Verhältnissen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.s zu differenzieren vermögen. Viele Kirchen wurden gebaut, weil durch die Industrialisierung die Gemeinden gewachsen waren und Raumbedarf bestand. Dadurch wird öfter der Konfessionsstand eines Ortes durch Zuzug evangelischer Arbeiter und ihrer Familien verändert. Diese neuen Bewohner sind keineswegs entkirchlicht, wie man gemeinhin pauschalisierend meint. Allerdings scheint die kirchliche Bindung auch durch die Arbeit der Erweckungsbewegung mitbegründet zu sein. Von daher müßte die volksmissionarische Wirksamkeit der Erweckungsbewegung noch einmal intensiv untersucht werden. Gleichzeitig konnte es aber auch zu Konflikten mit kirchenablehnenden Kreisen kommen, die eine Kirchenaustrittsbewegung forcierten und Kirchenneubauten zu verhindern suchten (vgl. 103).

Der Kirchenbau hatte also über den konkreten Zweck hinausgehende weiterreichende Funktionen, z. B. geistliches Zentrum für eine sich bildende Gemeinde, Exempel in kirchenfeindlicher Umgebung oder auch "Bollwerk" gegen Entkirchlichung zu sein (so z. B. die Kapernaum-Kirche in Berlin). Für alle diese Aufgaben des Kirchengebäudes wurde ein Stil gewählt, der, noch dem Historismus verhaftet, vom Wiesbadener Programm schon beeinflußt war. Es wurde nicht mehr eine Kopie, sondern eine den Erfordernissen eines neuzeitlichen Gemeindelebens entsprechende Weiterentwicklung historischer Stile angestrebt. Meist blieb dabei aber eine Bindung an romanische Rundbogenformen bestehen, allerdings mit einer Tendenz zu Strenge und Einfachheit der Formen und des Schmuckes. Ob dies dem Einfluß der Betheler Frömmigkeit geschuldet ist, wäre noch zu untersuchen. Überhaupt gibt es noch einige ikonographische Fragen, die bei dieser Dokumentation nicht angesprochen werden konnten, z. B.: Welchen liturgischen Leitlinien folgte das Bauprogramm Siebold? Wo sind die speziellen theologischen Einflüsse Bethels? Welches Gemeindekonzept war leitender Gedanke bei Entwürfen, die den Kirchenbau mit Räumen für Gemeindeaktivitäten (Konfirmandensäle) verbanden, ohne den Gruppenbau zu favorisieren? An diesen Punkten ist noch ein großes Arbeitsgebiet für die neuere Kirchengeschichte vorhanden. Der Vf. liefert dafür reiches Material, für das man dankbar sein muß.

Nur eine kleine Anmerkung noch zum Schluß: Mehrfach (687, 708 u. ö.) wird auf die normative Geltung des sogenannten Eisenacher Regulativs von 1861 hingewiesen. Aber gerade dieses Normative fehlt, hat es nie gegeben. Der ursprüngliche Name der Kirchbauvorschläge hieß "Eisenacher Thesen" und war auf Initiative von Carl von Grüneisen auf der Eisenacher Kirchenkonferenz, einer Arbeitsgemeinschaft von acht evangelischen Kirchenleitungen ohne Rechtssetzungsbefugnisse verfaßt worden (vgl. dazu die Untersuchungen von Paul Kaiser, Bonn). Wie weit sich Bauämter und Architekten tatsächlich von diesen Thesen haben beeinflussen lassen, ist bis heute nicht geklärt.