Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2007

Spalte:

175-178

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Die Geschichte des Christentums. Religion ­ Politik ­ Kultur.

Verlag:

Hrsg. v. J.-M. Mayeur, Ch. (Ý) u. L. Pietri, A. Vauchez, M. Venard. Dt. Ausgabe hrsg. v. N. Brox, O. Engels, G. Kretschmar, K. Meier u. H. Smolinsky. Bd. 1: Die Zeit des Anfangs (bis 250). Hrsg. v. L. Pietri. Dt. Ausgabe bearb. v. Th. Böhm, P. Bruns, W. Drews, M. Durst, M. Fiedrowicz, J. Franzkowiak, R. Meßner, E. Wirbelauer u. G. Ph. Wolf. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2003. XX, 972 S. m. Abb. u. Ktn. gr.8°. Lw. EUR 155,00. ISBN 3-451-22251-5. Bd. 13: Krisen und Erneuerung (1958­2000). Hrsg. v. J.-M. Mayeur. Dt. Ausg. bearb. v. Th. Bremer, N. Kössmeier, St. Orth, A. B. Schmidt, M. Sievernich, U. Ruh u. G. Ph. Wolf. Übers. aus d. Franz. v. Ch. Demuijlder u. a. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2002. XX, 713 S. m. Abb., Tab. u. Ktn. gr.8°. Lw. EUR 155,00. ISBN 3-451-22263-9. Bd. 14: Gesamtregister der Bände 1 bis 13. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2004. XII, 659 S. gr.8°. Lw. EUR 155,00. ISBN 3-451-22264-7.

Rezensent:

Bernd Moeller

Mit diesen drei Bänden ist das Riesenwerk der »Geschichte des Chris tentums« abgeschlossen. Das sicher organisierte und imponierend durchgearbeitete Gefüge dieser ursprünglich französischen Gesamtdarstellung von 2000 Jahren Kirchengeschichte, das ich in meinen früheren Rezensionen in der ThLZ (118 [1993], 899­904 über die Bände 6, 8 und 12; 127 [2002], 459­466 über die Bände 2­5, 7 und 9­11) bereits beschrieben und gerühmt habe, erhält hier mit den Schilderungen der ältesten und der neuesten Zeit gewissermaßen seinen Rahmen und erreicht eine eindrückliche Vollendung. Am Ende umfassen die 14 Bände der deutschen Ausgabe, die zwischen 1991 und 2004 ungefähr im Jahresrhythmus erschienen sind, insgesamt fast 15000 großformatige Seiten; in dem abschließenden Registerband werden die Personen auf nicht weniger als 283 Seiten, die Sachen auf 118 Seiten verzeichnet.

In dem knappen Vorwort dieses letzten Bandes, das von dem deutschen Mitherausgeber Heribert Smolinsky unterzeichnet ist, wird auf die »einzigartige Fülle« des Werkes hingewiesen, und neben der disziplinierten Gestaltung ist dies in der Tat das zweite Merkmal, das dem Leser ins Auge fällt: Sozusagen alles sollte in diesem Werk seinen Platz finden, ein Bemühen um nicht nur sachlich-thematische, sondern auch geographische Vollständigkeit ist zu bemerken ­ der Anspruch des Christentums, eine Weltreligion zu sein, war sowohl in der zeitlichen als auch räumlichen Erstreckung zu verifizieren. Die beiden abschließenden Textbände zeigen diese Merkmale noch einmal deutlich.

Die Darstellung der ersten Jahrhunderte der Kirchengeschichte in Band I ist höchst komplex. Insgesamt 15, bis auf Luigi Cirillo (Neapel) für die jüdische Geschichte und Reinhard Messner (Innsbruck) für den »Gottesdienst in der vornizänischen Kirche« durchweg französische Autoren haben ihn abgefasst, neben ihnen aber werden weitere neun deutsche Bearbeiter genannt, hingegen neben der Hauptherausgeberin Luce Pietri keine deutschen Herausgeber. Nach einer aus der Systematik des Werkes herausgenommenen »Einleitung« über Jesus von Nazareth (Daniel Marguerat), in der die Neuinterpretation der Tora »auf der Grundlage der bedingungslosen Forderung der Liebe« (33) als das eigentlich Neue der Botschaft Jesu herausgestellt wird, erfahren die folgenden Entwicklungen eine breite, immer neu ansetzende und immer neue Seiten des Geschehens beleuchtende, vorwiegend erzählende Schilderung. In vier umfangreichen Teilen werden »Diristentums«, »Die leidende, sich formierende und feiernde Kirche«, »Die Ausdifferenzierung der christlichen Welt« und »Die Christenheit in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts« behandelt, wobei die Offenheit der Darstellung ein auffallendes Kennzeichen ist.

Charakteristisch für den Band sind die Wiederholungen. Von den wichtigsten Personen und Gruppierungen des frühen Chris tentums ­ von Jakobus und Paulus, »Hellenisten« und Judenchris ten, Ignatius und dem Montanismus ­ erfährt man ebenso Vieles und Wechselndes wie von den Hauptorten Jerusalem, Antiochia, Rom und den Hauptereignissen, etwa der »Wendezeit« um 70 (269) oder dem Streit um den Ostertermin. Auffallend wenig ist von der Gnosis die Rede, deren das frühe Christentum gefährdende und verwirrende Macht kaum ins Blickfeld des Lesers tritt, so wie das überhaupt für die geistige und theologische Dimension des Geschehens und die Frage nach dessen elementaren Antrieben gilt. Dass Kontroversen der Forschung an nicht wenigen Stellen unentschieden bleiben, wodurch Unstimmigkeiten in die Darstellung gelangen, haben die Verantwortlichen hingenommen ­ ein Beispiel ist etwa die Frage der Datierung der Ignatiusbriefe, die Victor Saxer offenlässt (325 f.), während André Paul für den traditionellen Termin 100­110 eintritt (779), Messner hingegen für die Spätdatierung (170­180.353, Anm. 76), mit allen Konsequenzen für die damit zusammenhängenden Sachfragen. Ein weiteres Beispiel sind die Traditio Apostolica und Hippolyt von Rom, denen Messner mit großer »Zurückhaltung und Skepsis« begegnet (344), während Saxer für die herkömmliche Zuschreibung »gute Gründe« sieht (839). Was sich allerdings, soweit ich sehe, in dem ganzen Band nicht findet, ist eine frühe Verortung des römischen Primats. Dass Etienne Trocmé Mt 16,18 f. »auf jeden Fall zu der ältesten Überlieferung« rechnet, wenn auch »nicht unbedingt« für historisch hält (63, Anm. 37), erscheint wie eine letzte Erinnerung an jahrhundertelangen Streit.

In deutlichem Unterschied zu dem Eröffnungsband tritt in Band XIII die konfessionelle, römisch-katholische Grundierung der »Geschichte des Christentums« stark in Erscheinung. Der Band beginnt­ man darf wohl sagen: programmatisch ­ mit einer umfangreichen, übrigens nicht unkritischen Darstellung des II. Vatikanischen Konzils (von Roger Aubert und Claude Soetens), dem trotz der gleichfalls ausführlich geschilderten Krise »unmittelbar danach« und dem durch sie ausgelösten »Zusammenbruch eines einheitlichen römischen Katholizismus« (so der Herausgeber Jean-Marie Mayeur im Vor- und Schlusswort, XIX und 697) die bestimmende Rolle für die weitere Kirchengeschichte zugesprochen wird. Der wertvollste Abschnitt dieses Bandes dürfte freilich der dritte Teil sein, in dem es auf 350 Seiten um »Die Vielfalt christlicher Glaubensrichtungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« geht ­ ein breiter Überblick über den gegenwärtigen Bestand der Kirchen in der weiten Welt. Hier werden in zum größten Teil vorzüglichen Beiträgen nahezu alle Regionen der Erde anhand ihres christlich-kirchlichen Profils vorgestellt ­ angefangen mit Ostmitteleuropa (Jerzy Kl´ oczowski), der Russisch-Orthodoxen (Kathy Rousselet) und den orientalischen Kirchen (Catherine Mayeur-Jaouen), sodann Lateinamerika (Olivier Compagnon) und Schwarzafrika (Claude Prudhomme, Jean-François Zorn) sowie Asien ­ in zwei Kapiteln: die Länder mit christlichen Minderheiten und die, in denen Katholiken (Philippinen) oder Protestanten (Ozeanien) dominieren (dieselben)­, endlich Australien und Neuseeland (dieselben). Eine derart sachverständige, aktuelle, zusätzlich durch Statistiken, Graphiken und Karten bereicherte und präzisierte Gesamtübersicht über die heutige Christenheit findet man schwerlich an anderem Ort.

Sie macht deutlich, dass die »Geschichte des Christentums« wie schon in den früheren Bänden so zumal in diesem letzten eine kirchengeschichtliche Neuerung des 20. Jh.s voll zur Geltung kommen lässt ­ das Ende der Zentralstellung Europas und seiner Privilegierung in den Kirchen. Dass sie der zweiten, grundlegenden Neuerung, der Wendung zur Ökumene, in gleichem Maße gerecht würde, lässt sich hingegen, jedenfalls aus der Sicht eines evangelischen Beobachters, nicht ganz mit derselben Sicherheit sagen.

Zwar wäre es außerordentlich ungerecht, wollte man behaupten, die nichtkatholische Christenheit werde in diesem katholischen Werk ­ wie bei manchen seiner Vorgänger noch bis zu Jedins Handbuch ­ in den neueren Zeiten vernachlässigt oder gar übergangen. Sie ist präsent und findet an vielen Stellen Aufmerksamkeit, in diesem letzten Band zumal in der erwähnten Gesamtübersicht. Allerdings geht es bei den Themen außerhalb der römisch-katholischen Kirche vergleichsweise zumeist recht knapp zu, etwa bei der Darstellung der Ökumenischen Bewegung seit 1948 auf nicht einmal 20 Seiten (131­151) oder der Leuenberger Konkordie, fast ohne inhaltliche Mitteilungen, auf nicht einmal einer halben Seite (146). Und an manchen Stellen erscheint das Bemühen, nichtkatholische Christen in ihrem Anderssein, ihrem Nicht-Katholischsein und Nicht-Katholischsein wollen, zu verstehen und gelten zu lassen, ziemlich schwach ausgebildet ­ etwa wenn der verhältnismäßig ausführliche Abschnitt über die Zulassung von Frauen zum Pfarramt im neueren Protestantismus, die (angebliche) »Feminisierung des Pfarrberufs« (227­232), am Ende auf das seltsam unverständige, katholisch gedachte Urteil hinausläuft, hierdurch werde eine »Säkularisierung« und »Entklerikalisierung« des Pfarramts bewirkt (232, Jean-Paul Willaime).

Auch sonst sind es weithin katholische Vorstellungen und Kriterien, die, so bald die Ökumene in Sicht kommt, diesen letzten Band dominieren, und der Programmsatz des Herausgebers Mayeur in seinem Schlusswort: »Die ökumenische Idee setzt sich durch« (699) vermag insofern nur begrenzten Sinn zu entfalten. Mehrmals wird, um die ökumenischen »Fortschritte« der letzten Jahrzehnte zu belegen, die 1999 von Katholiken und Lutheranern unterzeichnete »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« genannt, auf S. 140 sieht man ihre Unterzeichner auch im Bild, und dass es dazu »zahlreiche An fragen« auf protestantischer Seite gab, wird wenigstens erwähnt (138). Worin diese bestanden und welches Gewicht sie hatten, liest man freilich nicht, zu dem Vorgang wird nur auf katholische Literatur verwiesen, und die Möglichkeit, dass es sich bei dieser »Erklärung« um eine Fehl- und Totgeburt gehandelt haben könnte, bleibt unerörtert.

Der Band wurde vor dem jüngsten Papstwechsel abgeschlossen, doch tritt Joseph Ratzinger in ihm als Theologe, Kardinal und Präfekt der Glaubenskon gregation ziemlich stark hervor; sogar im Schlusswort ist er präsent. So verdient es hervorgehoben zu werden, dass er im Zusammenhang der Maßnahmen des Lehramts gegen die »Theologie der Befreiung« in unvorteilhafter Beleuchtung erscheint (510 f.) und auch mit durchaus kritischem Unterton berichtet wird, unter Ratzingers Federführung sei im letzten Pontifikat der Bereich der päpstlichen Unfehlbarkeit und damit »das Feld des Definitiven« ausgeweitet worden (175­177) und dies habe beispielsweise in Entscheidungen gegen die Frauenordination und zu Gunsten des Zölibats bereits konkrete Anwendung gefunden (143). In diesem Zusammenhang wird nicht einmal verschwiegen, dass hierdurch der Ökumenismus »vor eine Zerreißprobe« gestellt wurde (ebd.).

Blickt man von den Abschlussbänden der »Geschichte des Christentums« noch einmal auf das Werk als Ganzes, so ist der Eindruck, dass man es hier mit einer höchst imponierenden Leistung aller Beteiligten zu tun hat, im wissenschaftlichen wie im bibliographischen Bereich und weit über den Kreis der Hauptverantwortlichen in Frankreich hinaus, mit Nachdruck zu wiederholen. Das Werk ist schon äußerlich bewundernswert durchgeformt und weitgehend aus einem Guss ­ und das gilt, alles in allem, auch für die Inhalte.

Die Zahl der Druckfehler ist gering (schlimm ist nur, dass gelegentlich lateinische Einsprengsel abenteuerlich wiedergegeben werden [Band I, 507, Zeile 9 v. o.] und man es mit einem [maskulinen] »Lehrkorpus« zu tun bekommt [168 ff.]), die Disziplin der Literaturverzeichnisse respektabel, auch wenn in manchen Abschnitten die französischen Titel allzu sehr überwiegen und gelegentlich sogar der Fauxpas begegnet, dass deutsche Bücher in französischer oder englischer Übersetzung zitiert werden (Band I, 199, Anm. 46; 510, Anm. 155). In einigen Fällen haben die deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen zu unbeholfenen Texten geführt, vor allem in den von Michael Durst betreuten Abschnitten, auch gibt es im I. Band Forschungsthemen, bei denen nach meinem Eindruck die Substanz deutscher wissenschaftlicher Diskussionen nicht hinreichend zur Geltung kommt, etwa die Kanonfrage. Dass im Gesamtregister mein Hinweis auf die Verdoppelung des Meletius von Lykopolis (ThLZ 127 [2002], 466) keine Berücksichtigung gefunden hat, betrübt mich.

Doch bleiben das Beobachtungen am Rande, die das Gesamturteil nicht bestimmen: In diesem großen Werk haben wir eine Darstellung der Kirchengeschichte vor uns, die ihrem Titel achtenswert gerecht wird. Ohne die früher festgestellten »ärgerlichen Mängel«, etwa im Band X, nachträglich beschönigen zu wollen, wird man ihr insgesamt doch hohe Qualität zusprechen. Aus einem sich weltweit orientierenden und ökumenisch geöffneten französischen Katholizismus hervorgegangen, ist sie umfassend wie keine andere, wissenschaftlich anspruchsvoll, lesbar, schön anzusehen und ziemlich aktuell. Dass sie viel Geld kostet, muss man hinnehmen. Es sollte ihr die aufmerksamen und kritischen Leser nicht entfremden.