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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

255 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Landon, Charles

Titel/Untertitel:

A Text-Critical Study of the Epistle of Jude.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1996. 172 S. gr. 8° = Journal for the Study of the New Testament, Suppl. Series 135. Lw. £ 30.­. ISBN 1-85075-636-8.

Rezensent:

Roman Heiligenthal

Die unter dem Tutorium von Johan Thom geschriebene Dissertation setzt sich zwei Ziele: Sie befragt kritisch die Kriterien, die in der neueren Textkritik zur Rekonstruktion des griechischen Textes des Neuen Testaments Verwendung gefunden haben und sie wendet die eigene methodische Sicht textkritischer Rekonstruktion auf den Judasbrief als Fallbeispiel an. Diese Verbindung erscheint mir glücklich, da sich damit der Vf. der "Probe aufs Exempel" nicht entzieht und sich damit der kritischen Diskussion seiner Vorgehensweise an einem konkreten Text nachprüfbar stellt. Aus diesem Ansatz heraus ergibt sich die Gliederung des Buches. In einem ersten Teil werden die bisherigen Ergebnisse der textkritischen Forschung allgemein unter dem Gesichtspunkt eines konsequenten Eklektizismus ("thoroughgoing eclecticism") diskutiert, während im zweiten Teil unter Diskussion (fast) aller Textvarianten ein griechischer Text des Judasbriefes erarbeitet wird, der in Anhang C vollständig vorgestellt wird. Anhang A stellt im Zusammenhang die vom Autor bevorzugten Varianten zusammen, Anhang B gibt einen Überblick über die Anzahl der als korrekt bzw. inkorrekt bewerteten Lesarten in den MSS, die den Judasbrief vollständig überliefern. Alexandrinus und Vaticanus schneiden hierbei wesentlich besser ab als etwa der Sinaiticus und P72. Wichtiger erscheint jedoch, daß Alter und Typ der MSS kein Kriterium für die Güte der gebotenen Varianten zu sein scheinen. Doch aufgrund welcher Vorentscheidungen kommt Landon zu seinem Ergebnis (1. Hauptteil)? In der Tradition von C. H. Turner, G. D. Kilpatrick und vor allem von J. K. Elliott wird vehement der Ansatz eines konsequenten Eklektizismus vertreten, d. h. bei der Beurteilung von Textvarianten sind mit absolutem Vorrang textinterne Kriterien heranzuziehen, nicht jedoch äußere Gesichtspunkte wie das Alter oder die lokale Herkunft von Handschriftenfamilien. Grundsätzlich wird jede formale Bevorzugung einer Handschrift oder Handschriftengruppen als qualitativ besser verworfen (16). Damit grenzt sich Landon nicht nur gegen die ältere Textforschung ab, die bestimmten MSS eindeutige Priorität einräumte (Westcott/Hort; von Soden u. a.), sondern auch gegen eine Vorgehensweise, die er "eclectic generalism" nennt und mit der er besonders die in Münster angewandte Methode der Textrekonstruktion meint.

Als Hauptargument führt der Autor ins Feld, daß die Bevorzugung des alexandrinischen Texttypus durch den Kreis um Kurt und Barbara Aland nicht durch die frühe Geschichte des neutestamentlichen Textes gedeckt sei (21 f.). Eine Rekonstruktion der frühen Textgeschichte sei nicht möglich, wie die disparaten Auffassungen der einzelnen Forscher und Forschergruppen zeigten. Von daher müsse man annehmen, daß um 200 n. Chr. bereits eine Vielfalt unterschiedlicher Textvarianten existiert hätten und es "a monopoly of truth" (21) nicht gäbe. Aus dieser Sicht ergibt sich folgerichtig, daß geographische und genealogische Argumente eine qualitative Rangfolge der MSS nicht begründen können. Auf diesem Hintergrund kommt der Autor zu seiner eigenen These: "thoroughgoing eclecticism implies two broad principles: (1) readings should be considered on internal merit rather than on alleged external strength; and (2) readings can and should be accepted with allegedly weak external attestation if internal considerations support it" (23).

Im Folgenden werden elf in der Forschung angewendete interne Kriterien aufgelistet (26) und nacheinander anhand von Beispielen diskutiert. Zur Veranschaulichung greife ich drei Kriterien heraus, zwei durch den Autor besonders favorisierte und eines, das er als weitgehend unbrauchbar charakterisiert. Am Beispiel von Lk 24,53 verdeutlicht L., daß das Kriterium "Die kürzeste Lesart ist auch die originale" keinesfalls mechanisch und isoliert angewendet werden sollte. Diese Auffassung ist mir auch deshalb sympathisch, weil die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieses Kriteriums eher auf Lessings Fabeltheorie zurückgehen als auf die Zeit des Neuen Testaments. Von zentraler Bedeutung für textkritische Entscheidungen im Sinne des konsequenten Eklektizismus sind der Stil und die Theologie der jeweiligen neutestamentlichen Schrift.

Aus meiner Sicht sind beide Kriterien in der Tat auf den Judasbrief gut anzuwenden, denn er ist in einem konsistenten Stil mit vielen hapax legomena, zahlreichen Schlüsselwörtern und typischen rhetorischen Figuren geschrieben und auch seine theologische Ausrichtung läßt sich trotz seiner Kürze auf der Negativfolie der Frühkatholizismusthese recht gut herausarbeiten. Inwieweit allerdings aufgrund dieser beiden Kriterien in Evangelientexten textkritische Entscheidungen vorrangig getroffen werden können, ist nicht so eindeutig zu beantworten. Der vielschichtige traditionsgeschichtliche Hintergrund dieser Texte könnte Schwierigkeiten bereiten, die der Autor allerdings auch sieht und anspricht. Wenn man der theologischen Grundentscheidung des Autors zustimmt, daß es sich beim Judasbrief um eine Schrift mit starken apokalyptischen und eschatologischen Zügen und einem ausgeprägten eigenen Stil handelt, sind die textkritischen Entscheidungen durchgängig überzeugend. Sie differieren mit dem Text des Greek New Testament (4. Aufl.) in 21 Lesarten, so daß der Autor mit Blick auf den Judasbrief für diese maßgebende Textausgabe zu dem folgenden Ergebnis kommt: "Where I have differed with GNT4 it has usually been over intrinsic evidence in general, and often over stylistic considerations in particular. And yet I have often accepted readings printed in GNT4 on intrinsic grounds. From my analysis it can be adduced that GNT4 is an eclectic text at some points of variation, but not on others".

Die Untersuchung überzeugt mich in ihrem pragmatischen Ansatz und in ihrer Darstellung einer auf den ersten Blick recht spröden Materie. Sie ist in ihren Urteilen unpolemisch und maßvoll. Doch ihre eigentliche Bedeutung liegt darin, daß sie eine textkritische Vorgehensweise unterstützt, die der Vielfalt und Eigenständigkeit der neutestamentlichen Zeugnisse Rechnung trägt.