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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

94-96

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Theis, Joachim:

Titel/Untertitel:

Biblische Texte verstehen lernen. Eine bibeldidaktische Studie mit einer empirischen Untersuchung zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 302 S. m. Abb. gr.8° = Praktische Theologie heute, 64. Kart. EUR 20,00. ISBN 3-17-018078-9.

Rezensent:

Werner H. Ritter/Michaela Albrecht

Der katholische Religionspädagoge Joachim Theis, Schüler von Gottfried Bitter und seit Dezember 2004 Lehrstuhlinhaber für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Trier, legt mit diesem Opus der akademischen Welt seine Habilitationsschrift (Bonn 2002) vor. Seine empirische Untersuchung der Frage, wie Schülerinnen und Schüler einen biblischen Text verstehen, ist ein neuerlicher und aufwändiger Versuch, Klaus Wegenasts Forderung nach einer »empirischen Wende« in der Religionspädagogik einzulösen. Mittels einer groß angelegten Studie an über 1000 Schülerinnen und Schülern will Th. anhand der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25­37) herausfinden, wie Bibeltexte verstanden werden und von welchen Faktoren dies abhängt, um die Ergebnisse dann für die Bibeldidaktik nutzbar zu machen. Dabei richtet sich sein Forschungsinteresse sowohl auf kognitive Aspekte des Verstehens, also die Behaltensleistung und die Textinterpretation als auch auf die vom Text ausgelösten Emotionen.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil stellt Th. unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Linguistik, Philosophie und Psychologie kognitive und sprachwissenschaftliche Voraussetzungen des Verstehens von Bibeltexten dar. Er erläutert die Grundlagen der Sprechakttheorie und geht auf sprach-, text- und kognitionspsychologische Erkenntnisse ebenso ein wie auf die mentalen Prozesse, die beim Textverstehen ablaufen. Damit steckt er den theoretischen Rahmen ab, der für das Verständnis der empirischen Ergebnisse notwendig ist. Seine kenntnisreichen Ausführungen bilden nicht nur die notwendige Basis für das Verständnis der von ihm durchgeführten Studie ­ er leistet hierdurch auch einen überzeugenden Transfer der sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse zum Prozess des Textverstehens in die Theologie, was für zukünftige Forschungsarbeiten gewinnbringend sein kann.

Der zweite Teil beleuchtet die Durchführung der Erhebung. Dazu nimmt Th. die beiden entscheidenden Größen in den Blick: den Bibeltext und die Rezipienten. Bei der Betrachtung des Bibeltextes genügt hinsichtlich des Forschungsinteresses nicht die exegetisch übliche Beschreibung des Textes, die ihn nach mehr oder minder subjektiven Kriterien in verschiedene Einheiten zerlegt und diese als Maßstab für die Behaltensleistung deklariert, sondern es müssen die inhaltlichen Merkmale des Textes benannt und in einer Propositionsliste festgehalten werden, die dann mit der zu erhebenden Behaltensleistung der Versuchsperson verglichen werden kann.

Bei den Schülerinnen und Schülern erfasst Th. verschiedenste Merkmale, die auf das Textverstehen Einfluss haben könnten. Zu nennen sind hier zum einen demographische Merkmale wie das Alter, eine eher urbane oder eher ländliche Wohnumgebung, die Familiensituation und der soziale Status. Zum anderen nimmt er sehr differenziert verschiedenste sozial-kulturelle Merkmale in den Blick wie beispielsweise die Einstellung des sozialen Umfelds zur Bibel, die Rolle der Bibel in der Erziehung, der Bezug zur Kirche und die persönliche Religiosität des betreffenden Probanden. Drittens erfasst Th. schließlich die Bibeldisposition, die sich in der Häufigkeit der Bibellektüre, der Einstellung zur Bibel und verschiedenen Wissensaspekten zeigt.

Damit erscheint der Untersuchungshorizont der Arbeit ungemein breit und komplex angelegt. Mit Blick auf den Untersuchungsaufwand mutet es uns fast enttäuschend an, dass letztlich nur sehr wenige dieser Faktoren tatsächlich das Verstehen zu determinieren scheinen. Nichtsdestotrotz sind die Ergebnisse aufschlussreich, sowohl jene, die sich als tatsächliche Einflussfaktoren für das Bibelverstehen erweisen, als auch die, bei denen entgegen der Annahme keine empirisch signifikanten Zusammenhänge erkennbar sind. Auch die Erklärungen von Th. für die festgestellten oder eben nicht festgestellten Zusammenhänge sind erhellend.

Im dritten Teil will Th. aus der Studie Schlussfolgerungen für die Praxis ziehen. Hierbei verdeutlicht er, dass das Verstehen eines Bibeltextes ein Kommunikationsprozess ist, der letztlich nicht auf Gewinn von Sachkenntnis, sondern auf Sinnfindung durch die Leser abzielt. Daher müssen auch die sozialen und kulturellen Bedingungen des Verstehens von Bibeltexten beachtet werden. Th. zieht ausgehend von diesen Überlegungen schließlich konkrete didaktische Konsequenzen, durch die ein lebensweltliches und sinnorientiertes Bibelverstehen ermöglicht werden soll.

Anfragen an das Vorgehen von Th. müssen unseres Erachtens vor allem bezüglich der einseitig kognitivistischen Ausrichtung der Studie gestellt werden: Obwohl Th. »Verstehen« weit begreifen will (14.18.46.72 ff.), ist unseres Erachtens eine gewisse Neigung zu kognitiven Verstehensleistungen unübersehbar, vor allem dort, wo er Verstehen mit »Behaltensleistungen« gleichsetzt (205 ff.).

Zudem finden wir die Rede von »falschen Elaborationen« (209 ff.) vom Gedanken des Konstruktivismus her ­ Menschen eignen sich Wirklichkeit subjektiv an ­ nicht ohne weiteres einleuchtend, denn »der« Konstruktivismus ist zumindest nicht primär an der Feststellung von »Behaltensleistungen« interessiert. Darüber hinaus stellt sich uns angesichts der quantitativ-statistischen Ausrichtung der Untersuchung die grundsätzliche Frage, ob man nach Abfragen der Daten wirklich »mehr« über das Textverstehen Jugendlicher weiß. Einerseits erfährt man durch die quantitativ-statistische Methode wirklich Konkretes, andererseits bewegen sich die Ergebnisse durchweg im Horizont des durch den Fragebogen vorgegebenen Rasters. Hier fänden wir eine qualitative Vergleichsstudie, die den Text durch Jugendliche selbst auslegen lässt, ausgesprochen spannend.

Durchaus gewinnbringend empfinden wir die Studie insofern, als mit ihr nicht allein die Ergebnisse vorgestellt werden, sondern auch sehr ausführlich der Prozess ihrer Genese dargestellt wird. Damit kann das Buch gute Anregungen zu einem methodisch reflektierten empirischen Arbeiten in der Religionspädagogik geben. Erschwert wird dies allerdings dadurch, dass verschiedene für den Nachvollzug der Vorgehensweise aufschlussreiche Materialien nur über Internet einsehbar sind; stellenweise ist es für uns als Leser nicht immer deutlich, wovon Th. konkret spricht, zumal auch der der Arbeit zu Grunde liegende Fragebogen nicht abgedruckt ist.

Auch die interdisziplinäre Ausrichtung der Studie stellt einen großen Gewinn für die religionspädagogische Forschung dar. Gleichwohl beeinträchtigen die methodischen und analytischen Bezugnahmen auf Psychologie und Sprachwissenschaft ­ sicher letztlich unvermeidlich! ­ die Verständlichkeit doch erheblich, insbesondere für jene Leser, die traditionell nur Theologie in geisteswissenschaftlicher oder exegetisch-philologischer Ausrichtung studiert haben. Dies mag die Wirkung dieser aufschlussreichen Studie schmälern. Lohnens- und wünschenswert wären daher weiterführende Publikationen von Th., die verstärkt die Ergebnisse diskutieren.