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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

87-88

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Heuser, Stefan:

Titel/Untertitel:

Menschenwürde. Eine theologische Erkundung.

Verlag:

Münster: LIT 2004. 292 S. gr.8° = Ethik im theologischen Diskurs, 8. Kart. EUR 24,90. ISBN 3-8258-7095-2.

Rezensent:

Lars Klinnert

In seiner (für die Veröffentlichung aktualisierten) systematisch-theologischen Dissertation geht es H. um die Rekonstruktion der bedingungslosen Achtung des anderen Menschen (im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG) als Gebot Gottes. Dabei will er »weniger danach fragen, wie das Rechtsgebot der Menschenwürde .. theologisch begründet werden kann, [als] vielmehr erkunden, wie Gottes guter Wille Menschen durch das Menschenwürdegebot hindurch begegnet« (27).

In dringend notwendiger Ergänzung zur mitunter wenig reflektierten Bezugnahme auf den Menschenwürdebegriff in der ethischen Alltagsdebatte unternimmt H. eine anthropologisch fundierte und dogmatisch rückgebundene Inhaltsbestimmung, welche die üblicherweise etwas vereinfachende schöpfungstheologische Reidentifikation über die Kategorie der Gottebenbildlichkeit (vgl. hierzu auch 89.258) christologisch, soteriologisch und eschatologisch perspektiviert. Demnach dient die Menschenwürdegarantie sozusagen als säkularer Platzhalter für die biblische Zusage, dass der Mensch die Vollendung seines Menschseins nicht selber leisten kann und muss, sondern sie ihm unverdient von Gott geschenkt wird (vgl. z. B. 251).

H. beschreibt Menschenwürde ­ im Anschluss an Immanuel Kant, Martin Buber und Emanuel Levinas ­ zu Recht als transzendentale, also nicht (im strengen Sinne) begründbare Grundlage gemeinsamer Lebenspraxis (vgl. 92.143), die allen ihren konkreten Realisierungen vorausläuft. Theologisch betont wird damit der Gedanke einer dignitas aliena, die nicht durch menschliche Konzeptionen gelingenden Lebens hervorgebracht wird, sondern sich gerade in der Anerkennung ihrer Unverfügbarkeit als wirkmächtig erweist. Dem glaubenden Menschen kann der säkulare Menschenwürdetopos somit geradezu zu einem Entdeckungszusammenhang des göttlichen Gnadenhandelns werden (vgl. 26 f.182).

Nun kann sich allerdings auch eine theologische Interpretation des (ja immer zugleich deskriptiven wie präskriptiven) Menschenwürdebegriffs nicht in der bloßen Beschreibung der göttlichen Verheißung erschöpfen, sondern muss notwendigerweise zur Suche nach Möglichkeiten vordringen, diese gegenüber dem bedürftigen Nächsten in der Welt zur Geltung zu bringen. Die genuin ethische Fragestellung aber, wie sich die Barmherzigkeit Gottes im menschlichen Handeln realisieren kann und soll, spielt in der vorliegenden Untersuchung allenfalls eine Nebenrolle. Als der protestantischen Frömmigkeit angemessene Verhaltensstrategie wird vielmehr die reine Passivität des Gottvertrauens favorisiert, denn ­ so H. kritisch­ »insofern Menschen ihre Hoffnung auf das setzen, was ihnen möglich ist, wendet sich ihr Blick ab von dem, was Gott möglich ist« (105 f.).

Die Passivität des Menschen gegenüber der Gnade Gottes ist aber mit der Passivität des Menschen gegenüber eigenem oder fremdem Schicksal (z. B. in gesundheitlicher Hinsicht) nicht einfach gleichzusetzen! Die dem Menschen von Gott her zukommende Gerechtigkeit verwirklicht sich in dieser Welt gerade auch im mutigen Umgang mit deren Widersprüchlichkeiten. »Das Präsentwerden des Guten und Gerechten« vollzieht sich unter Realbedingungen eben selten ohne »die Abwägung von Gütern und die Verwaltung von Konflikten« (175). Demgegenüber erklärt H. im Kontext der Bewertung moderner reproduktionsmedizinischer Verfahren die Frage nach der jeweils graduell lebensdienlicheren Lösung für illegitim und sucht stattdessen allen moralischen Zwiespältigkeiten unserer kulturell überformten Existenz von vornherein dadurch auszuweichen, dass er pauschal fordert, sich auf das schöpferische Handeln Gottes einzulassen, welches er allein in der ungebrochenen Naturwüchsigkeit des Geborenwerdens erkennen kann (vgl. 44 f.165 f.).

Nun beinhaltet die Anerkennung des Menschen in seiner Geschöpflichkeit zweifelsohne die Bezugnahme »auf Gewachsenes, Gewordenes und Gegebenes« (192) im Sinne unhintergehbarer naturaler Grundbedingungen allen Menschseins. Darum sieht H. es zu Recht als Aufgabe gerade der theologischen Ethik, auf die schmerzhaften wie heilsamen Grenzen der Gestaltbarkeit hinzuweisen (vgl. 153). Gegen einen autonomistischen Entscheidungsaktivismus setzt er das gelassene Einstimmen in eingespielte Lebensformen des würdigen Umgangs mit Geburt und Tod, in deren Rahmen sich in der Tat wohl manche der aktuellen bioethischen Fragestellungen erübrigen dürften (vgl. z. B. 123.152).

Fragwürdig allerdings erscheint das dahinter erkennbare Anliegen, sich durch eine solche kommunitarische Erhaltungsethik gleichsam gegen alle konflikthaften Herausforderungen zu immunisieren. Diese lassen sich jedoch in einer pluralistischen Gesellschaft nicht einfach durch die Beschwörung eines homogenen christlichen Demutsethos wegreden. Zielt die Feststellung, dass die legitime Reichweite menschlichen Handelns durch »Ordnungen der Liebe« (234) begrenzt sei, vorrangig auf moralische Risikovermeidung, droht »der andere Mensch in seiner spezifischen Not« (47) gerade aus dem Blick zu geraten. Der Gedanke einer konfliktoffenen und erfinderischen Gestaltungsethik, welche die herausfordernde Vielfalt sich immer wieder neu eröffnender Handlungsoptionen annimmt, in der die Realisierung des Menschenwürdigen vor Gott gewagt werden muss und darf, scheint H. ­ der sich bezeichnenderweise am tertius usus legis weitestgehend desinteressiert zeigt ­ fremd zu sein.

Die Untersuchung macht somit unbewusst deutlich, dass die ethischen (insbesondere die bioethischen) Ambivalenzen der Gegenwart nicht mit noch so scharfsinnigen und durchaus anregenden Überlegungen allein zu bewältigen sind, solange diese einem traditionellen binnentheologischen Sprachspiel verhaftet bleiben und auf ein differenziertes Reflexionsinstrumentarium angewandter Ethik verzichten zu können glauben. Das Wissen um die Unabhängigkeit des göttlichen Handelns von aller moralischen Aktivität des Menschen darf nicht dazu verleiten, sich vor den Uneindeutigkeiten menschlichen Handelns durch moralische Passivität zu drücken. Die evangelische Erkenntnis des Menschen als allein durch Gnade gerechtfertigten Sünders muss zweifellos alle theologisch-ethische Entscheidungsfindung begründen und begrenzen­ aber sie kann diese nicht ersetzen.