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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

80-82

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schwambach, Claus:

Titel/Untertitel:

Rechtfertigungsgeschehen und Befreiungsprozess. Die Eschatologien von Martin Luther und Leonardo Boff im kritischen Gespräch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 397 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 101. Geb. EUR 64,00. ISBN 3-525-56239-X.

Rezensent:

Gottfried Brakemeier

Martin Luther und Leonardo Boff ­ zwei sehr unterschiedliche Gestalten werden in dieser Studie miteinander ins Gespräch gebracht. Der eine Europäer, Reformator, theologischer Vordenker im 16. Jh., der andere Lateinamerikaner, römisch-katholischer Theologe, Exponent der Befreiungstheologie und Zeitgenosse, dessen Werk noch nicht abgeschlossen vorliegt. Beiden fühlt sich der in Brasilien beheimatete Vf., wenngleich in verschiedener Weise, verpflichtet. »Wie lässt sich christliche Hoffnung im Kontext von Armut, sozialer Ungerechtigkeit und ausgebeuteter Zweidrittelwelt verkündigen?« (11) Die Frage verbindet die Erben Martin Luthers mit den Vertretern der Befreiungstheologie und ermutigt sie, nach einer gemeinsamen Antwort zu suchen. Das Buch ist weder aus polemischer Absicht noch aus rein theoretischem Interesse erwachsen, sondern aus existenzieller Betroffenheit in Rückbesinnung auf die Bedeutung biblisch reformatorischer Verkündigung unter den (un)menschlichen, sozial-politischen Bedingungen Lateinamerikas. Dass ein solches Vorhaben nur in kritischer Auseinandersetzung geschehen kann, ist selbstverständlich.

Theologische Offenheit und ökumenische Weite prädestinieren Leonardo Boff zu einem bevorzugten Gesprächspartner evangelischer Theologie. Die vorliegende Untersuchung ist nicht die erste, die sich mit dem Werk des brasilianischen Theologen beschäftigt. Sie ist im Jahre 2001/2002 der Universität Erlangen als Inauguraldissertation vorgelegt und für den Druck überarbeitet worden. Seitdem ist zum Thema weitere Literatur erschienen, die nicht mehr in die umfassende Bibliographie aufgenommen werden konnte. Der Aktualität der Studie hat dies keinen Abbruch getan. Sie bearbeitet insofern ein neues Feld, als die Eschatologie von Leonardo Boff noch nicht Gegenstand spezieller Untersuchungen gewesen ist. Gerade hier aber entscheidet sich wesentlich, um welches Heil es dem christlichen Glauben geht und wie es vermittelt werden kann. Die Begründung von Hoffnung und Zukunft, wie sie traditioneller Weise in der Erwartung des Reiches Gottes zum Ausdruck kommt, sieht sich heute mit besonderen Herausforderungen konfrontiert.

Das erste Kapitel trägt den Titel »Christliche Eschatologie bei Martin Luther«. Der Vf. geht bewusst auf die Theologie des Reformators zurück, um den Zweideutigkeiten dessen, was spätere lutherische Theologie sein könnte, aus dem Wege zu gehen. Die Darlegung der Eschatologie, freilich, gestaltet sich unter der Hand in eine umfassende Einführung in das theologische Denken Luthers überhaupt. Denn dieses Denken ist durch und durch eschatologisch bestimmt. Das Rechtfertigungsgeschehen wird bekanntlich in forensischen, also eschatologischen Kategorien gefasst. Kein Thema kann ausgeklammert werden, seien es die Sakramente, der Tod, die Ethik, die Ekklesiologie oder andere. Christliche Existenz vollzieht sich im Interim zwischen dem zeitlichen Kommen Gottes heute und seiner sichtbaren Offenbarung am Ende der Tage, wofür die Ausdrücke »präsentische« und »futurische Eschatologie« gebraucht werden. Interessante Details kommen in einigen Exkursen zur Sprache wie etwa »Apokalyptik und Naherwartung bei Luther«. Der Leser und die Leserin registrieren mit Dankbarkeit den Reichtum der Aspekte und Einsichten in Luthers Theologie, die unter der Perspektive der Eschatologie entfaltet werden. Allerdings setzt der Vf. solide Lateinkenntnisse voraus, da auch wichtige Zitate nicht übersetzt werden.

Analog zum ersten behandelt das zweite Kapitel die Theologie von Leonardo Boff, gleichfalls umsichtig und umfassend. Auch hier ist Eschatologie die entscheidende Perspektive. Nach einer kurzen Würdigung des Werdegangs des brasilianischen Theologen wird sein Gesamtentwurf unter der spezifischen Themenstellung entfaltet. Christliche Theologie handelt vom Hereinbrechen des Reiches Gottes in die Geschichte, wobei auch dieses Mal die präsentische und futurische Dimension gewahrt bleiben. Der Ansatzpunkt ist freilich ein anderer als bei Luther. Boff geht aus von der Struktur des Universums, das transparent ist für das Geheimnis des dreieinigen Gottes, so wie von der Hoffnungsstruktur des Menschen, die auf ein Eschaton angelegt ist. Das Reich Gottes bringt die Überwindung der in der Evolution stattgefundenen Entfremdung. Historisch-politische Befreiungsprozesse sind daher partielle Verwirklichungen des eschatologischen Zieles. In solcher Konzeption, die sich durch kosmische Weite auszeichnet, kommt das sakramentale Denken von L. Boff zum Ausdruck. Die Wirklichkeit wird als Zeichen und Instrument des Göttlichen begriffen, obschon in unterschiedlicher Dichte. Sie will zu einer Praxis anleiten, die sich in den Dienst des Befreiungsprojektes Gottes stellt.

Erst danach, in einem dritten Schritt, beginnt die kritische Auseinandersetzung. Dabei zeigt sich, dass die lutherischen Anfragen nicht nur spezifisch befreiungstheologische Aspekte betreffen, sondern traditionelle katholisch-lutherische Kontroversen umgreifen. So fragt der Vf., ob L. Boff den »hamartiologisch bedingten tiefen Bruch zwischen Schöpfer und Geschöpf« (303) genügend in Rechnung stellt, wenn der Mensch zu seinem eigenen Heil, bzw. seiner Befreiung, Entscheidendes beitragen muss. In Sachen Willensfreiheit bleiben also erhebliche Differenzen, auch wenn Boff der Realität der Sünde, die sich nicht zuletzt in Strukturen niederschlägt, großes Gewicht beimisst. Von daher entsteht die Gefahr neuer Werkgerechtigkeit und der Verdacht einer theologia gloriae. Aus lutherischer Sicht, so der Vf., findet sich bei Boff eine Vermischung von Welt- und Heilshandeln Gottes und letztlich eine solche von Gesetz und Evangelium. Eine Reihe anderer Beispiele könnte genannt werden. Sie alle sind der Prüfung wert.

Umgekehrt sieht sich lutherische Theologie zu Recht durch eine Theologie der Befreiung herausgefordert. Sie muss sich die Frage gefallen lassen, ob die Abkoppelung der Ethik von der Heilsfrage nicht zu einer Gleichgültigkeit in irdischen Dingen und zu sozialpolitischem Desinteresse geführt hat. Die praktische Bedeutung des Rechtfertigunsgeschehens im Alltag der Menschen steht zur Debatte. Die Befreiungstheologie hat dazu beigetragen, Sünde in einem bestimmten Kontext konkret zu benennen. Hier muss lutherische Kirche lernen, nicht indem sie ihrem eigenen Handeln heilswirkende Qualität zulegt, aber doch der Erhaltung der Schöpfung entschiedener dient.

Einig sind sich Luther und Boff darin, dass aus der Eschatologie Licht auf die Gegenwart fällt und so Kräfte für die Gestaltung der irdischen Geschichte und für die Wahrnehmung von Verantwortung im geistlichen und weltlichen Bereich freigesetzt werden. Beiden geht es um das Reich Gottes in seiner gegenwärtigen und zukünftigen Gestalt. Doch bleiben hier Fragen offen. Sie betreffen vorrangig das komplexe Verhältnis von Heil und Wohl und die spezifische Weise ihrer Vermittlung. Nicht nur die Sünde will konkret angesprochen werden. Gleiches gilt für die Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten. Das Buch bringt eine Fülle wertvoller Anregungen. Die Antwort auf die letzte Frage wird die Theologie, die Kirchen und die Ökumene freilich weiterhin beschäftigen müssen.